Bei diesem Text handelt es sich um den Einladungstext, den wir ursprünglich an die Autor:innen dieses Forum gesandt und darüber zur Mitwirkung eingeladen haben. Es handelt sich also nicht um eine typische Einleitung zu einem Themenheft oder Sammelband, denn wir haben den Anfrage- bzw. Einladungscharakter beibehalten, weil sich einige unserer Beiträger:innen auf diesen Text bzw. seine Annahmen und Leitfragen beziehen. Aus diesem Grunde haben wir uns entschieden, unseren Einladungstext hier ungekürzt wiederzugeben und verzichten auf eine zusammenfassende Vorstellung der Beiträge, die Sie in den nächsten Wochen hier im Rahmen des Forums „Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften“ erwarten können.
Die derzeitigen strukturellen Veränderungen im Wissenschaftssystem und in der Wissensordnung betreffen das Rezensionswesen tiefgreifend. Allerdings wird nur selten und kaum systematisch darüber nachgedacht, wie sich diese Prozesse auf die Bedeutung und Stellung der Rezension in den Geschichtswissenschaften auswirken oder welche Reformen und Anpassungen sie möglicherweise notwendig machen. Eine Diskussion über die Stellung der wissenschaftlichen Rezension im Fach ist aus unserer Sicht daher höchst dringlich, da dem Rezensionswesen einerseits weiterhin wie selbstverständlich wichtige Funktionen im Fach zugeschrieben werden, während andererseits veränderte Anreizstrukturen und digitaler Wandel es erschweren, diese Funktionen zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund möchten wir Sie zu einer offenen Diskussion über den aktuellen Stand des Rezensionswesens und seiner Bedeutung in den Geschichtswissenschaften einladen. Als Impuls sowie als Anregung für die erhoffte Diskussion finden Sie im Folgenden fünf Problemlagen und Fragekomplexe skizziert, die uns zur Zeit besonders beschäftigen. Wir würden uns freuen, wenn Sie in Ihrem Essay zu einem oder mehreren dieser Punkte Stellung beziehen. Genauso ist es aber auch möglich, dass Sie Sachverhalte und Fragen thematisieren, die wir nicht aufgeführt haben, denen Sie als Leser:in von Rezensionen oder als Rezensent:in für das Funktionieren des Rezensionswesens aber große Bedeutung beimessen.
1. Zum Status quo des Rezensionswesens
Die wissenschaftliche Rezension ist aus der Wissensordnung der Geisteswissenschaften in der Neuzeit kaum wegzudenken. Für die Transformation öffentlicher wissenschaftlicher Diskurse in der Aufklärung spielte das Genre eine bedeutende Rolle.1 Auch die Entwicklung der Fachkultur des 19. und 20. Jahrhunderts spiegelte sich nicht zuletzt im Rezensionswesen wider. In den modernen Wissenschaften haben sich Rezensionen in den Geisteswissenschaften als das Genre par excellence etabliert, in dem Fachkolleg/innen über Neuerscheinungen informieren, die Qualität von Forschung öffentlich bewerten und vorgelegte Ergebnisse in Forschungsdebatten einordnen. Die Zahl der Redaktionen, die geschichtswissenschaftliche Rezensionen für Fachzeitschriften, Tages- und Wochenzeitungen, Online-Portale oder Blogsysteme vergibt und veröffentlicht, ist – bei unterschiedlicher Größe und Sichtbarkeit – hoch. Gleiches gilt für die Zahl der jährlich veröffentlichten Rezensionen geschichtswissenschaftlicher Neuerscheinungen.2 Die damit einhergehende Informations- und Orientierungsfunktion von Rezensionen wird wohl niemand ernstlich bestreiten. An einem kritischen, möglichst breiten Rezensionswesen müssten daher eigentlich alle Wissenschaftler:innen großes Interesse haben – und haben es vermutlich auch. Denn wir alle sind in unserer täglichen Arbeit auf ein gut funktionierendes wissenschaftliches Rezensionswesen angewiesen. An Rezensionen hängen wissenschaftliche Reputation und beruflicher Erfolg ebenso wie die Sichtbarkeit von Büchern und wissenschaftlichen Themen. Idealtypisch erfüllt das Rezensionswesen damit im Fach drei wichtige Funktionen: es informiert über neue Publikationen und Inhalte, es unterzieht Publikationen einer kritischen Qualitätskontrolle durch fachlich ausgewiesene und unabhängige Rezensent:innen und es ordnet vorgelegte Forschungsergebnisse in größere Zusammenhänge ein. Es stellt sich für uns allerdings die Frage, ob das Rezensionswesen seine Funktionen momentan noch voll erfüllt. Wird das Fach in quantitativer Hinsicht in seiner ganzen Breite abgedeckt, werden Rezensent:innen als kompetent und unabhängig wahrgenommen, insbesondere in kleinen, spezialisierten Forschungsbereichen, in denen „jeder jeden kennt“, und nehmen die publizierten Rezensionen eine kritische und für die Leserschaft hilfreiche Einordnung von Forschungsergebnissen vor, die über eine reine Inhaltsangabe hinausgeht? Umgekehrt interessiert uns, welche Bereiche eventuell nicht ausreichend abgedeckt werden und woran es möglicherweise liegt, wenn Rezensionen ihre Funktionen nicht – oder nicht vollständig – erfüllen.
2. Anreizstrukturen im Wissenschaftssystem: Wissensgenerierung vs. Qualitätskontrolle
In den Geschichtswissenschaften zeichnet sich immer deutlicher ab, dass in den tendenziell an Bedeutung gewinnenden numerischen Erfassungssystemen wissenschaftlicher „Produktivität“ und „Leistung“ Rezensionen häufig keine Rolle spielen bzw. überhaupt nicht erfasst werden. Forschungsförderung und Wissenschaft sind auf die Produktion von „neuem“ Wissen, auf klar definier- und „mess-“baren Output ausgelegt. Die kritische Qualitätskontrolle (in Form von Rezensionen), die gründliche und umfassende kritische Einordnung von bereits Geschriebenem steht hingegen selten in den Aufgabenbeschreibungen von Wissenschaftler:innen und Forschungsprojekten und wird nicht durch Preise sichtbar ausgezeichnet. Auch in Bewerbungsverfahren und wissenschaftlichen Lebensläufen scheint das Rezensieren eher eine stiefmütterliche Existenz zu führen. Deutlich leichter scheint es zu sein, sich über Aufsätze oder natürlich Monographien sowie eingeworbene Drittmittel einen Namen zu machen, was in einem Wissenschaftssystem, in dem ein Großteil aller Wissenschaftler:innen auch nach der Promotion befristet beschäftigt ist, für den eigenen Karriereweg sinnvoller erscheinen kann als das zeitaufwendige Verfassen einer Rezension. Für uns stellt sich daher die Frage, ob der Stellenwert der Rezension für die Fachinformation und -kommunikation, der Aufwand für das Verfassen einer (guten) Besprechung und die Anreiz- und Anerkennungssysteme in der Wissenschaft derzeit in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen. Wie muss das Genre der Rezension sich an veränderte Anreizsysteme anpassen und wie lassen sich die Anreize, eine Rezension zu verfassen, erhöhen?
3. Neue Konkurrenzen der Qualitätskontrolle im Fach
Zu den strukturellen Veränderungen in der Wissenschaft gehört auch die Verschiebung der – in der Tendenz zunehmenden – Qualitätskontrollen bei der Forschungsförderung und im Publikationswesen. Mittlerweile wird längst nicht mehr nur das publizierte (End-)Produkt eines Forschungsprojektes begutachtet/rezensiert, sondern die Begutachtung setzt in Form des Peer-Review-Verfahrens oder gar der Begehung vor der Finanzierung eines Forschungsverbundes schon sehr viel früher ein. Begutachtet wird heute permanent und vielleicht mehr als früher. Dieses Begutachten findet aber verstärkt – beim Drittmittelwesen – schon zu Beginn oder eigentlich vor Beginn des Forschens statt und zielt auf die Projektidee und -konzeption, während der Ausbau von Peer-Review-Verfahren die Qualitätskontrolle in die Phase vor der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse verlagert und auf das Rohmanuskript zielt. Forschende müssen ihre Forschungsprojekte heute zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Stadien „verteidigen“ und fachlicher Kritik standhalten. Ein Großteil dieser Kritik erfolgt dabei allerdings anonym und ist nicht auf einen fachlichen Austausch angelegt, da sie nicht veröffentlicht wird. Von der Tendenz her hat die anonyme, nicht-öffentliche Qualitätskontrolle, die auf Projektidee und Rohmanuskript zielt und die der Rezension zeitlich vorgeschaltet ist, deutlich an Bedeutung gewonnen. Dadurch konkurrieren heute verschiedene „Qualitätskontrollen“ (Forschungsförderer, Peer Review, Rezensionsredaktionen) um Gutachter/innen mit der nötigen Zeit und den nötigen Kompetenzen, um ein Forschungsvorhaben und dessen Ergebnisse zu beurteilen. Die Zeit und das kompetente Personal, die für die frühen Kontrollen benötigt werden, fehlen jedoch dem Rezensionswesen bei der öffentlich zugänglichen kritischen Einordnung der letztendlich publizierten und dem gesamten Fach zugänglich gemachten Forschungsergebnisse. Denn bei allen Argumenten, die für die genannten Verfahren sprechen, sollte berücksichtigt werden, dass nur die Rezension die veröffentlichten Ergebnisse (eines bewilligten Forschungsprojektes) bespricht und nur die Rezension begründete Meinungen der „peers“ für die wissenschaftliche und allgemeine Öffentlichkeit zugänglich macht. Auch angesichts dieses kategorialen Unterschieds zwischen wissenschaftlicher Begehung, Peer Review und Rezension stellen sich für uns die Fragen, wie sich Gutachterwesen und Peer Review auf das Rezensionswesen auswirken, ob die verschiedenen „Qualitätskontrollen“ momentan noch in einem ausgewogenen und angemessenen Verhältnis stehen – oder ob dieses sich ändern sollte.
4. Konkurrenzen der Qualitätskontrolle in der (digitalen) Öffentlichkeit
Der digitale Wandel veränderte und verändert sowohl die Formen, in denen wissenschaftliche Ergebnisse zugänglich gemacht werden, als auch deren kritische Einordnung. Um die Jahrtausendwende entstanden mit H-Soz-Kult (gegründet 1996) und wenig später mit den Sehepunkten (gegründet 2001) die ersten rein digitalen Rezensionsportale in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften. Mittlerweile wird darüber hinaus ein Großteil aller in gedruckten Zeitschriften publizierten Rezensionen auch – zum Teil zeitlich verzögert – online zugänglich gemacht. Es sind jedoch nicht nur die gängigen Rezensionsjournale, die online Bewertungen von Publikationen vornehmen. Heutzutage ermöglichen auch Blogs und Blogbeiträge sowie Podcasts, die sich nur teilweise mit dem Rezensionswesen überschneiden, (gerade auch jüngeren) Kolleg:innen Sichtbarkeit und vergleichsweise frühe eigene Beiträge. Zugleich kommt es dadurch zu Veränderungen der Kommunikationspraxen, oft auch mit einer Neuaustarierung der Grenze und Überlappung von öffentlichen und privaten Räumen. Die „sozialen Medien“ sind als neue Räume der wissenschaftlichen Kommunikation hinzugekommen. Interessierte Bürger:innen wiederum nutzen wissenschaftsferne Plattformen für Bewertungsdiskussionen auch der Fachliteratur, die oftmals wenig mit wissenschaftlicher Kommunikation kongruent gehen. Die Forderung nach verstärkter Popularisierung von Wissenschaft, wie von der Wissenschaftspolitik inzwischen nachdrücklich eingefordert 3, lässt zudem verstärkt Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie in der Wissenschaftskommunikation wirksam werden. Reputation wird verstärkt an mediale Performanz geknüpft.
In diesem Zusammenhang stellt sich uns die Frage nach dem Verhältnis der gängigen Rezensionsjournale zu älteren (Tages- und Wochenzeitungen, Buchbesprechungen im Rundfunk) und neuen Formen und Formaten der (Wissenschafts-)Kommunikation. Vertun Rezensionsjournale in diesem Bereich gerade eine Chance, um beispielsweise durch eine größere Präsenz in den Sozialen Medien oder niedrigschwelligere Angebote der Mitdiskussion – beispielsweise durch eine Kommentarfunktion bei Rezensionen – sowohl zur fundierten Einordnung von Forschungsergebnissen als auch zu deren öffentlicher Vermittlung beizutragen? Wie ließe sich eine breitere Öffentlichkeit mit Fachrezensionen erreichen oder sollten diese in ihrer disziplinären Nische bleiben und gar nicht um kurzfristige Aufmerksamkeit buhlen? Dies berührt auch Themen wie die Reichweite von Rezensionen und ihr (primäres) Publikum – was wiederum Konsequenzen für Format, Stil, Inhalte, Auftrag und Funktion von Besprechungen hat. Wie verschieben sich Aufbau und Gewichtung von Information, Kontextualisierung, Intervention als kritischer Bewertung der rezensierten Forschungen je nach Publikum? Welchen Anreiz bieten die verschiedenen Formate Rezensent:innen und welche Bedeutung haben die Formate für die Rezensierten? Wie wichtig ist es zugleich für die Rezensierten ebenso wie für die Geschichtswissenschaften, fachlich betreute Rezensionen langfristig zu archivieren und dem Fach dauerhaft und unabhängig von den Entscheidungen und Geschäftsmodellen großer „Big-Tech“-Unternehmen zur Verfügung zu stellen? Wie könnte eine zukünftige, stärkere Verlinkung von archivierten Rezensionen und anderen Publikationen aussehen, um fruchtbar für Forschung, Lehre und (eine zunehmend digitale) Öffentlichkeit zu sein?
5. Individuelle Haltung und Beitrag zum Rezensionswesen
Neben den angesprochenen strukturellen Faktoren und Rahmenbedingungen basiert das Rezensionswesen im hohen Maße auch auf dem individuellen Engagement von Rezensionsredakteur:innen und Rezensent:innen, die ihren Tätigkeiten größtenteils ohne finanzielle Entlohnung nachkommen. Die individuellen Motivationen, eine Publikation (nicht) zu rezensieren, sind aber sehr unterschiedlich. Auf einige strukturelle Aspekte wurde bereits eingegangen. Andere Aspekte sind möglicherweise weniger offensichtlich, weshalb uns generell interessiert, warum Sie gerne rezensieren, weshalb Sie nicht gerne rezensieren und wie sich Ihre Motivation, sich am Rezensionswesen zu beteiligen, erhöhen ließe.
Was bedeuten die skizzierten Veränderungen im Wissenschaftssystem und in der Wissenschaftskommunikation nun für die Zukunft des Rezensionswesens? In der Redaktion von H-Soz-Kult haben wir keine klare, eindeutige Prognose, aber viele Fragen. Eines allerdings erscheint uns – auch jenseits der déformation professionnelle, zu der wir freimütig stehen – ganz klar: Ein umfassendes, qualitativ hochwertiges, kritisches Rezensionswesen ist eine Notwendigkeit für die Fachkommunikation ebenso wie für die Wissenschaftsvermittlung. Möglich wird es durch das Engagement von Rezensent:innen und Redakteur:innen. Ihre Arbeit muss anerkannt, gestärkt und geschützt werden, wenn wir uns als Fach auch in den Veränderungen der kommenden Jahrzehnte auf etablierte Formate wissenschaftlicher Qualitätskontrolle verlassen wollen – und diese zugleich weiterentwickeln möchten.
All diese Fragen möchten wir mit Ihnen diskutieren. Deshalb laden wir Sie herzlich ein, sich an unserem Diskussionsforum zu beteiligen!
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Thomas Habel, Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung: Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts (Presse und Geschichte 17), Bremen 2007.
2 Als Einstiegspunkte für einen ersten Überblick können – neben den Bibliothekskatalogen beispielsweise die Datenbanken Historische Rezensionen Online von Clio-online (https://www.clio-online.de/hro/page) und recensio.net (https://www.recensio.net/front-page) dienen.
3 So z.B. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im November 2019: https://www.bmbf.de/de/wissenschaftskommunikation-216.html (01.06.2021).