Forum: Rez: T. Luks: Bücher oder Themen? Inhaltsreferat oder Buchkritik? Überlegungen zum Rezensionswesen

Von
Timo Luks, Universität Gießen

Warum schreibe ich bestimmte Rezensionen lieber als andere? Warum schreibe ich sie lieber, als dass ich sie lese? Ich vermute, beides hat mit unterschiedlichen Vorstellungen des Gegenstands einer Besprechung und ihrer Adressat:innen zu tun. Rezensionen, die ich gern lese und zu schreiben versuche, verstehen sich als Buchkritik. Es handelt sich um Texte, mit denen ich mich als Leser an potentielle Leser:innen wende oder als Leser angesprochen werde. Im Prinzip geht es um die kritische Lektüre eines Buchs als Buch. Es geht um Art und Verarbeitung des Materials, Argumentationsstrategien, Komposition, sprachliche Ausgestaltung, Perspektivierung, Narrative und den Mehrwert des monographischen Formats. Zur Besprechung eines Buchs gehört, meiner Ansicht nach, mehr als eine Darstellung und Diskussion des Inhalts. Während gute Literaturkritik mir im Idealfall sagt, warum ein Roman gelungen und lesenswert ist (oder auch nicht), obwohl mich sein Thema vielleicht nicht interessiert oder interessieren muss, dominiert im wissenschaftlichen Rezensionswesen das Inhaltsreferat – entweder in Form der neutralen Zusammenfassung1 oder als geschriebenes Gegenstück zum Ko-Referat bei Tagungen, das eine alternative Darstellung des Themas ventiliert („Ist es nicht eher so, dass …“).2 Der allzu enge Fokus auf Inhalt und Thema birgt die Gefahr, sich im Modus des Berichterstattens oder Besserwissens einzurichten. Damit aber kommt der Buchkritik das Buch und dem Buch die Kritik abhanden. Diese Tendenz – Ausnahmen in alle Richtungen gibt es immer – spiegelt, so meine These, einen Bedeutungsverlust der Monographie in der Geschichtswissenschaft wider und treibt ihn gleichzeitig weiter voran.

Wo in erster Linie auf Qualitätskontrolle und Einordnung der Forschungsergebnisse durch fachlich ausgewiesene Kolleg:innen geachtet wird, beides wichtige Funktionen des Rezensionswesens, besteht die Tendenz, die Öffentlichkeit von vornherein auf den Kreis derjenigen einzuschränken, die zum gleichen oder einem eng verwandten Thema forschen. Je kleiner und spezialisierter eine Community, desto schneller wird der Punkt erreicht, an dem der Gewinn für alle anderen fraglich wird. Zweifellos: Diese Art der Kommunikation ist unerlässlich. Sie hat ihren Platz aber eigentlich bereits in der Diskussion des Forschungsstands in Aufsätzen, Dissertationen, Habilitationen usw. – und findet dort treffsicher das gemeinte Publikum. Nehmen Rezensionen indes eine Neuerscheinung lediglich zum Anlass, um zu laufenden Forschungsbemühungen unter Spezialist:innen beizutragen, statt potentiellen Leser:innen eine Handreichung für die kritische Lektüre des besprochenen Buchs zu bieten, dann erklärt das (m)eine mitunter gebremste Neigung, Besprechungen zu lesen.

Natürlich ist die Einordnung durch Spezialist:innen gewinnbringend und aufschlussreich. Aber es geht um eine gewisse Balance. Mein Plädoyer – auch an mich selbst – ist daher, dass Rezensent:innen sich häufiger fragen, ob, wo, wie und aus welchen Gründen das besprochene Buch für Leser:innen von Interesse sein könnte, die andere Forschungsschwerpunkte haben. Dass das relativ selten geschieht, liegt sicher auch an der Art der zur Besprechung verfügbaren Bücher. Ich habe den Eindruck, dass sich hier verschiedene Trends im Fach wechselseitig bestärken. Der massive Bedeutungsgewinn von Forschungsverbünden und Verbundforschung in den letzten Jahren hat zu einer immer weiter steigenden Zahl an Monographien geführt, bei denen es sich unzweifelhaft um eigenständige Forschungsleistungen (unterschiedlicher Qualität) handelt, die sich aber innerhalb eines vorab entwickelten Forschungsdesigns bewegen. Das lädt Rezensent:innen, zumal solche mit sehr ähnlichen Forschungsinteressen, förmlich dazu ein, die einzelnen Studien als Steinbruch zu betrachten und sich auf immer kleinteiligere Differenzierungen der Ergebnisse und Thesen zu konzentrieren. Für Mitlesende, die im konkreten Fall keine Mitforschenden sind, bestätigt sich mit jeder weiteren Fallstudie aus dem gleichen Forschungszusammenhang und jeder Rezension, die dieser Logik folgt, das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen. Forschungsverbünde und Verbundforschung bringen in der Regel einen erheblichen Erkenntnisgewinn und oft auch einen nachhaltigen Innovationsschub. Sie tun das jedoch aufgrund ihrer geballten Feuerkraft, während sie gleichzeitig den Stellenwert der einzelnen Monographie relativieren. Eine Fallstudie unter ähnlich gelagerten Fallstudien begünstigt andere Rezensionen als eine explorative Studie.

Historisch betrachtet, erklärt sich die Bedeutung des Rezensionswesens für die Entwicklung der Geisteswissenschaften auch damit, dass die gemeinten Disziplinen – die Geschichtswissenschaft an vorderer Stelle – buchgetriebene Wissenschaften waren. Forschungsergebnisse wurden wesentlich in monographischer Form vorgelegt, und der Erkenntnisfortschritt hing zunächst einmal davon ab, Interessierte über das Erscheinen eines Buchs (das in der Mehrheit der Fälle eben auch keine weitere Fallstudie innerhalb eines vorstrukturierten Forschungsfelds war) zu informieren und seinen Inhalt angesichts beschränkter Verfügbarkeit mitunter umfangreich zusammenzufassen. Heute jedoch haben Verlagsnewsletter und allgegenwärtige Leseproben diese Funktion obsolet werden lassen. Umso mehr stellt sich die Frage, warum das Rezensionswesen über eben diese Funktion nicht hinausgeht. Hat es etwas mit dem veränderten Status des Buchs selbst zu tun? Spielt die Monographie in der Geschichtswissenschaft nach wie vor jene zentrale Rolle, ohne die der historische Gleichklang von Fachentwicklung und Rezensionswesen kaum zu denken ist? Kriselt das Rezensionswesen, weil das Buch kriselt?

Es ist schwer zu beurteilen, welches Gewicht eine empirisch dichte, argumentativ stimmige und sprachlich durchkomponierte Monographie beispielsweise in Bewerbungsverfahren hat. Wie viele Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften wiegt sie auf (und umgekehrt)? Zumindest meinem Eindruck nach neigt sich die Waagschale seit einiger Zeit in Richtung Aufsatz, insbesondere in Richtung derjenigen Aufsätze, die das Peer Review-Verfahren einer Fachzeitschrift erfolgreich durchlaufen haben. Sollte das so sein, liegt der Verdacht nahe, dass den diesbezüglichen Gutachten mehr Vertrauen entgegengebracht wird als den Verfahren, die Monographien als Dissertationen und Habilitationsschriften oder bei der Aufnahme in eine Schriftenreihe durchlaufen. Und so fristet auch das Rezensieren in Bewerbungsverfahren und wissenschaftlichen Lebensläufen eine stiefmütterliche Existenz, dessen Aufwand in keinem Verhältnis zur damit verbundenen Anerkennung steht. Entsprechend stellt sich die Frage, warum man diesen Aufwand einem Gegenstand – der wissenschaftlichen Monographie – widmen sollte, der selbst an Bedeutung verliert.

Kartellbildung, Digitalisierungsstrategien und rigide Formalisierung im Verlagswesen haben dazu geführt, dass zwar weiterhin eine wachsende Zahl von Büchern erscheint, Wissenschaftsverlage – hier gibt es ebenfalls Ausnahmen – sich aber von der Idee verabschiedet haben, etwas zu veröffentlichen, damit es gelesen wird. Auch das hat Konsequenzen für die Arbeit, die in Rezensionen investiert wird und die Bereitschaft, bestimmte Besprechungen zu übernehmen. Angesichts der Preispolitik von Verlagen, des oft desinteressierten Lektorats und manchmal bescheidener Herstellungsqualität fällt es mir als Rezensent zunehmend schwer, mir eine potentielle Leser:innenschaft vorzustellen, an die sich meine Besprechung richten könnte. Im Extremfall kann Rezensieren eine sehr einsame Angelegenheit sein, wenn man den unguten Verdacht hat, dass niemand vor und niemand nach einem das Manuskript oder Buch als Ganzes gelesen hat oder je lesen wird – weil es offenkundig nie lektoriert wurde, weil es niemand wird bezahlen können oder weil lizenzierte E-Books in Universitätsbibliotheken den kapitelweisen Download privilegieren. Natürlich ist selektive Lektüre nicht neu und auch nicht per se problematisch. Im Gegenteil: Sie ist im wissenschaftlichen Alltag unentbehrlich, nur braucht es dafür keine Rezensionen. Um einen ersten Eindruck von Inhalt und Qualität eines Buchs zu gewinnen, kann ich auf Inhaltsverzeichnis und Leseprobe zurückgreifen; um spezielle inhaltliche Punkte zu recherchieren, ist die Suchfunktion ein effizientes Hilfsmittel. Erfahrungsgemäß ist es der eigenen Motivation eher abträglich, einen Service zu erbringen (oder in Anspruch zu nehmen), den andere Tools besser leisten.

Womöglich rechnen manche Autor:innen auch gar nicht mehr damit, dass ihre Bücher gelesen werden. Die mitunter etwas frustrierende Tragik des Rezensent:innenlebens besteht darin, immer wieder auch Bücher komplett und linear zu lesen, die entweder bereits scheibchenweise veröffentlicht oder deren Kapitel für selektives Lesen optimiert wurden. So deutet schon die vermehrt beobachtbare sprachliche, stilistische und kompositorische Verarmung vieler Monographien darauf hin, dass an eine durchgängige Lektüre gar nicht mehr gedacht wird. Zumindest liegt dieser Schluss angesichts zahlreicher Redundanzen, der ermüdenden Wiederholung von Kernsätzen, der Häufung von Vorwegnahmen und resümierenden Passagen in jedem Unter- und Teilkapitel nahe. Inzwischen geht das immer häufiger und immer weiter über die hier und da liebevoll bespöttelte Eigenheit akademischen Schreibens hinaus, alles, was man zu sagen gedenkt, vorab anzukündigen und hernach sofort noch einmal zusammenzufassen („Im Folgenden werde ich zeigen, dass der Butler der Mörder ist.“; „Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden konnte, ist der Butler der Mörder.“). Angesichts der Darreichungsform einiger Monographien stellt sich die Frage, welches Bild sich einige Autor:innen von ihren Leser:innen machen – und wo sie den Mehrwert der Langform sehen. Das Problem lässt sich freilich nicht auf individuelle Absichten reduzieren, sondern hat auch strukturelle Gründe.

In dem Maß, in dem Publikationszwänge und Publikationserwartungen zu einer immer größeren Zahl an Aufsätzen (und Vorträgen) führen, in denen Zwischenergebnisse präsentiert, Teilaspekte ausgekoppelt oder erschienene bzw. im Erscheinen begriffene Monographien zusammengefasst werden, schwindet zwangsläufig das Interesse am Buch. Monographien bieten dann kaum noch etwas Neues oder Überraschendes. Sie tragen lediglich noch einmal gebündelt zusammen, was zuvor zwar etwas verstreut, aber dennoch bereits erschöpfend veröffentlicht wurde. Das mag für Kolleg:innen, die nicht zum gleichen Thema forschen, den Vorteil leichterer Verfügbarkeit haben. Wer mit dem Forschungsfeld vertraut ist, mag sich aber die berechtigte Frage stellen, warum er oder sie das Buch noch lesen oder rezensieren soll, wenn die einzelnen Kapitel oder der zentrale Argumentationsgang bereits mehrfach in Aufsatzform gelesen (oder als Vortrag gehört) worden sind. Die Klage, dass Rezensionen immer häufiger zu unmotivierten und desinteressierten bloßen Inhaltsangaben werden, könnte also damit zu tun haben, dass die Themen und Thesen der besprochenen Bücher zum Zeitpunkt ihres Erscheinens in der jeweiligen Fachcommunity bereits leidlich bekannt und alle wesentlichen Argumente ausgetauscht sind, die kritische Evaluation der fraglichen Forschung im Grunde also bereits abgeschlossen ist, bevor die Monographie sozusagen nachgereicht wird.

Silvia Bovenschen hat vor einigen Jahren in ihrer Besprechung eines Romans von Christa Reinig ironisierend und mit Seitenangabe Themen aufgelistet, die sich darin fänden, dann aber bemerkt, „daß bei diesem Roman die Angaben über den Inhalt die Lektüre nicht ersetzen können“.3 Geschichtswissenschaftliche Bücher sind dagegen oft genug Bücher, bei denen das möglich ist. Jedenfalls scheinen Autor:innen und Rezensent:innen gleichermaßen davon auszugehen. Aber der wissenschaftliche Betrieb erzeugt nun einmal Druck auf Autor:innen, ihre Bücher permanent nachzuerzählen und noch vor jeder Rezension selbst zu den fleißigsten Inhaltszusammenfasser:innen zu werden. Vordergründig mag das der eigenen Profilierung (und der Verlängerung von Publikations- und Vortragsverzeichnissen) dienen. Hintergründig sendet es die Botschaft, dass davon ausgegangen wird, dass ohnehin niemand die Absicht hat, das Buch zu lesen – ja, dass es sogar als Zumutung empfunden werden könnte, entsprechendes zu erwarten. Die beim Verfassen wie auch beim Lesen gleichermaßen unbefriedigende, inhaltszusammenfassende Rezension ist dann die Notlösung und minimale Serviceleistung, mit der das Versprechen verbunden ist, nicht selbst lesen zu müssen.

In der Konsequenz entstehen dadurch Rezensionen, die man weniger gern mag. Es sind aber auch rigide formale Vorgaben seitens verschiedener Zeitschriften und Rezensionsportale, die zu einer nicht immer guten Standardisierung beitragen. Es bedarf keiner besonderen dystopischen Vorstellungskraft, um sich eine nahe Zukunft auszumalen, in der Rezensionen mittels Eingabemasken eingereicht werden, die lediglich noch kurze Kommentare in vorgegebenen Rubriken (Quellen, Forschungsstand, Originalität und Innovation, Argumentation und Aufbau usw.) ermöglichen. Wer in Verdatenbankung und Reduktion von Wissenschaft auf bestimmte Indikatoren das Versprechen einer „objektiven“ Leistungsbeurteilung erblickt, wäre vielleicht noch glücklicher mit Benotungen und Häkchen („‚Es handelt sich bei besprochenem Werk um einen innovativen Forschungsbeitrag.‘ Bitte ankreuzen: ja/nein/vielleicht“). Zwar sind Online-Portale aus naheliegenden Gründen hinsichtlich des Umfangs großzügiger als Fachzeitschriften, die mitunter kaum mehr als Annotationen zulassen. Dennoch ist in beiden Fällen eine gewisse Gleichförmigkeit nicht von der Hand zu weisen. Wie in eine Schablone gegossen, beginnen Rezensionen mit einer neutral formulierten Zusammenfassung von Inhalt, Fragestellung, Quellen und Methoden des besprochenen Buchs, gehen dann zu etwas Detailkritik mit Verweisen auf den Forschungsstand und eigene Forschungen über und enden mit einem versöhnlichen, um Würdigung bemühten Satz. Dass eine kontinuierliche und umfangreiche Rezensionstätigkeit jenseits der jeweiligen Redaktionen zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen wird, dann aber durch das Raster etablierter Anreiz- und Anerkennungsstrukturen fällt, hat womöglich auch damit zu tun, dass die hochstandardisierte, strikten Formatvorgaben unterworfene Kurzbesprechung inzwischen als paradigmatische Form der Rezension gilt – und damit, so eine nicht immer ganz fehlgehende Annahme, ist tatsächlich kein besonders bemerkenswerter Aufwand verbunden. Etwas polemisch: Jemand liest ein Buch, das er oder sie in jedem Fall hätte lesen müssen, und schreibt ein paar Zeilen zum Inhalt, ergänzt um ein oder zwei kritische Bemerkungen. Warum sollte man auch anderes tun, wenn eine begrenzte Zeichenzahl nicht mehr zulässt oder Kolleg:innen nicht davon ausgehen, dass eine Rezension etwas anderes sein könnte oder sollte?

Selbstredend ist es möglich, eine differenzierte und weiterführende Kritik auf einer halben Druckseite unterzubringen. Der Aufwand steigt dann aber auch exponentiell, ohne dass das unter der Vielzahl bloßer Annotationen sichtbar wird. Hält man es darüber hinaus für ein Gebot der Fairness, Kritik zu fundieren und nachvollziehbar zu gestalten sowie abweichende Einschätzungen zu ermöglichen, dann müsste das im Grunde zusätzlich zur Darstellung des Inhalts und des Argumentationsgangs des besprochenen Buchs in einer Ausführlichkeit geschehen (je harscher die Kritik, desto mehr), die allein schon den erlaubten Umfang so mancher Rezension überschritte.

Was tun? Eine Allianz von Autor:innen und Verlagen, künftig wieder mehr Bücher zu schreiben und zu veröffentlichen, die aufgrund ihrer Anlage gelesen werden wollen, eine Leser:innenschaft finden sollen und das bei einem fairen Preis und akzeptabler Haptik auch können, wäre sicher in der Lage, dem Rezensionswesen neuen Schwung zu verleihen. Vermutlich wird es dazu nicht kommen. Andere Reformen sind aber denkbar.

Erstens ließe sich an der Zuordnung von Rezensent:innen und Büchern ansetzen, also an der Frage, wer was rezensiert (und auch: für wen). Dabei wäre die im fachwissenschaftlichen Rezensionswesen privilegierte Zuordnung – Spezialistinnen rezensieren Veröffentlichungen aus ihrem Spezialgebiet für Spezialisten – etwas aufzubrechen. Da sich Expertise in der Geschichtswissenschaft aus epochalen, regionalen und thematischen Schwerpunkten zusammensetzt, gibt es hier zahlreiche Möglichkeiten. Warum sollte nicht eine Expertin für den vormärzlichen Pauperismus eine Studie zur Armut in der Spätantike rezensieren, auch auf die Gefahr hin, dass das manchmal in einem etwas oberflächlicheren Epochenabgleich steckenbleiben kann? Warum nicht eine Studie zu industriebetrieblichen Arbeitsverhältnissen in der Zwischenkriegszeit jemandem zur Rezension anbieten, der oder die mit der werkstattmäßigen Kunstproduktion in der Renaissance oder der Körperkultur der Weimarer Republik vertraut ist – in der Gewissheit, dass die Spezialist:innen für industriebetriebliche Arbeitsverhältnisse auch so ausreichend Gelegenheit finden werden, Spezialprobleme kritisch zu erörtern? Vielleicht könnten Redaktionen bei der Vergabe von Rezensionen häufiger etwas „um die Ecke“ denken.

Potentielle Rezensent:innen sollten dagegen auch einmal bewusst darauf verzichten, Bücher zu besprechen, die sie im Rahmen ihrer Forschung so oder so lesen und in den Einleitungen ihrer eigenen zukünftigen Bücher kritisch diskutieren müssen. Vielleicht sollten wir – als Rezensent:innen im Sinne der Leser:innen von Rezensionen – häufiger besprechen, was wir „sonst so“, neben unserer Forschung im engsten Sinn, lesen, einfach weil es uns interessiert oder unsere Arbeit indirekt anregt. Der Umstand, dass ich ein Buch in jedem Fall lesen muss, erhöht zwar im Zusammenspiel mit einem eventuell grotesk hohen Preis meine Bereitschaft, eine Rezension zu übernehmen, drückt aber gleichzeitig, wenn das die einzigen Gründe sind, meine Motivation, sie dann auch zu schreiben oder mehr als ein gewisses Maß an Aufwand zu betreiben. Vielleicht könnten wir als rezensierende Historiker:innen ab und an die uns trennenden Spezialisierungen in den Hintergrund schieben. Wir sind nicht nur Expert:innen für bestimmte Epochen und Themen, sondern teilen eine Expertise für (geschichtswissenschaftliche) Bücher. Aber das ist nicht alles: Persönlich habe ich den Eindruck, dass bewusst interdisziplinär gesetzte Rezensionen oft gut funktionieren, weil diese Konstellation von vornherein zu einem anderen Lesen und Schreiben anregt oder sogar zwingt.

Zweitens ließe sich über das Format der Rezensionen nachdenken. Unterhalb eines gewissen Minimalumfangs stellt sich tatsächlich die Sinnfrage einer Buchbesprechung. Für gedruckte Fachzeitschriften könnte das heißen: weniger, aber dafür umfangreichere Rezensionen zu veröffentlichen. Im Dienst der Reduktion bietet sich beispielsweise ein pauschaler Verzicht auf die Besprechung von Sammelbänden an, zumal von solchen, die erkennbar aus Zusammenfassungen und Auskopplungen der Monographien ihrer Beiträger:innen bestehen. Ich denke, Zeitschriftenredaktionen werden sich freuen, die dann übrigbleibenden, eigenständigen und innovativen Einzelbeiträge als Aufsätze anzunehmen.

Online-Portale sind hinsichtlich des Umfangs bereits jetzt freier und großzügiger. Die einzelnen Besprechungen könnten dadurch – und durch eine stärkere Öffnung für essayistische Formen und weniger uniforme Formate – letztlich gehaltvoller und auch lesenswerter werden. Ob eine größere Präsenz in den Sozialen Medien Wirkung hat oder niedrigschwellige Angebote zum Mitdiskutieren, etwa über eine Kommentarfunktion, angenommen werden, hängt auch davon ab, ob Rezensent:innen den Raum und die Möglichkeit haben, etwas zu denken und zu diskutieren zu geben. In gewisser Weise käme die Buchkritik damit wieder zu ihrem Recht als eigenständiges Genre, das eine entsprechende Wertschätzung genießt, in Publikationslisten nicht mehr überblättert oder kaum noch eigens angegeben wird („Zahlreiche Rezensionen in …“). Es wäre ein starkes Statement, wenn Fachzeitschriften übereinkämen, ein Jahr lang versuchsweise auf Aufsätze zu verzichten, in denen eine entstehende oder bereits erschienene Monographie zusammengefasst wird, und stattdessen 15-seitige Buchkritiken veröffentlichen, die ein Forschungsfeld konturieren und Forschungsperspektiven aus der dichten Lektüre einer monographischen Studie entwickeln, von der man im Moment des Erscheinens eine gewisse Relevanz erwartet. Das böte auch wieder Raum für eine Diskussion übergreifender und weiterführender Theorie- und Methodenfragen, geschichtswissenschaftlicher Schreibweisen usw. Und es würde eine Form der Lektüre erfordern, die Bücher nicht auf ihre Funktion als Informationssteinbruch reduziert.

Das muss nicht immer Hegel’sche Ausmaße haben. Dennoch hat Hegels 30-seitige Besprechung des dritten Bands der Werke Friedrich Heinrich Jacobis, um nur dieses Beispiel zu nehmen, einen gewissen Charme und Sog: „Referent“, so begann diese Besprechung, „freut sich der bald nach dem vorhergehenden erfolgten Erscheinung eines neuen Bandes der gesammelten Werke Jacobis und wünscht dem edlen Greise ebenso wie dem Publikum Glück zu der ungestörten Fortführung dieses Geschäfts.“4 Dem folgte eine Art kommentiertes Inhaltsverzeichnis (!) samt einer Spekulation darüber, ob dem Band die Aufnahme einer bestimmten weiteren Schrift gutgetan hätte. Dann holte Hegel weit aus: „Die Art und Weise, welche in gegenwärtiger Anzeige darzustellen ist, wie sich Jacobi den in vorliegendem Bande behandelten Philosophien gegenüberstellt, wird mehr Klarheit und Anschaulichkeit gewinnen, wenn wir vorher daran erinnert haben, wie sein Geist sich in das Studium des Spinozismus vertieft und sich in dieser Beschäftigung sein Standpunkt fixiert hat, auf welchen ihn, schon mit sich fertig, die Kantische Philosophie bei ihrer Erscheinung antraf. Zur Erläuterung dessen ist aber einiges über den damaligen Zustand der Philosophie ins Gedächtnis zu rufen.“5 Hegel rief über viele Seiten tatsächlich einiges ins Gedächtnis. Er setzte Jacobis Schriften als weitgehend bekannt voraus und las sie in seiner Rezension konsequent als Quellen einer möglichen Philosophiegeschichte – im steten Dialog mit den potentiellen Lesern seiner Rezension, die er durchweg als Leser Jacobis adressierte. Er präsentierte die Jacobi’schen Kategorien als Interventionen in spezifische Konstellationen, bezog sie auf die Leidenschaften der damaligen Zeit, widmete aber auch ihrer „äußeren Gestalt“ einige Aufmerksamkeit – und schloss „diese Anzeige mit der Äußerung des Gefühls […], das die meisten Leser der Jacobischen Schriften wohl gemeinschaftlich mit mir haben, sich im Studium derselben mit einem liebevollen und edlen Geiste unterhalten zu haben und vielfältig, tief, lehr- und sinnreich angeregt worden zu sein.“6

Ich bin mir nicht sicher, ob jemand eine derartige Buchkritik heute irgendwo (außer auf seiner persönlichen Homepage) hätte veröffentlichen können – zumal das Rezensionswesen bereits zu Hegels Zeiten kriselte. Die derzeitigen „Rezensieranstalten“, so schrieb der aufstrebende Philosoph und fleißige Rezensent 1819, erreichten ihren Zweck – die Vermittlung gründlicher Kenntnisse und die Beförderung des Gedeihens der Wissenschaften auf dem Weg der Information über Neuerscheinungen und ihre fachkundige Beurteilung – immer seltener. Das Rezensionswesen habe nicht zur erhofften Verringerung der Anzahl mittelmäßiger Veröffentlichungen geführt und, mehr noch, beim Publikum die fatale Meinung befördert, „Journalwissenschaft und das Lesen von Zeitungen sei das ausreichende Mittel zu Fortschritten in Bildung und Kenntnissen und das bequeme Surrogat für Studium und Beschäftigung mit Inhalt und Sache.“7 Hegel diagnostizierte einen Geist der Mittelmäßigkeit, den Rezensenten, Autoren und Publikum gegenseitig hegten und pflegten und in dem „Wahn und Eigendünkel zur allgemeinen Überzeugung gedeiht, so etwas wie die anderen wenigstens und gewiß etwas Besseres auch produzieren zu können.“8 Ein neu zu schaffendes Rezensionsorgan solle sich daher auf die Besprechung von Werken mit „wirklichem“ Wert für die Wissenschaft beschränken, alles, was „nur negative Kritik erleiden könne“, außer Acht lassen und nur dann berücksichtigen, wenn das fragliche Werk durch äußere Umstände größeres Aufsehen erregt habe oder als typischer Repräsentant einer bestimmten Richtung gelten könne. Hegel mahnte aber auch die Kritiker: Ziel einer Buchkritik sei es, das Publikum „mit den Fortschritten der Wissenschaften und nicht mit der Überlegenheit des Rezensenten“ bekannt zu machen.9 Hegels Projekt büßt durch seinen gelehrten Konservatismus – es sollte ausschließlich darum gehen, die von berufenen Männern bescheinigten bleibenden Leistungen berufener Männer zu würdigen und eine verbreitete „Prätention von Originalität“ zu bekämpfen – wie auch durch den staatstragenden Impetus (ein Rezensionsorgan als gelehrte Zensuranstalt unter der Obhut einer Königlichen Behörde) viel von seiner Attraktivität ein. Was dann letztlich als Privatunternehmen realisiert wurde, die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (seit 1826), bot aber immerhin Raum für Hegels immer weiter ausufernde Besprechungen, die mit regelmäßig bis zu siebzig Seiten Anerkennung in den Bänden der Werkausgabe finden.

Dieser Beitrag erschien als Teil des Diskussionsforums über
Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften.
https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5234
Übersicht zum Forum "Buchrezensionen in den Geschichtswissenschaften"

Anmerkungen:
1 Für eine Ironisierung der bereits zum Klischee geronnenen Kritik, dass Buchbesprechungen nur noch selten mehr böten „als ein kommentiertes Inhaltsverzeichnis“ siehe: Felix Wassermann, Die Besserwisser. Rezension zu: Caspar Hirschi, Skandalexperten – Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Berlin 2018, in: Soziopolis, 27.02.2020, <https://www.soziopolis.de/die-besserwisser.html> (17.05.2021).
2 In dieser Hinsicht unübertroffen sind die „Rezensionen“ von Tony Judt (vgl. Tony Judt, Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century, New York 2008).
3 Siehe Silvia Bovenschen, Das sezierte weibliche Geschlecht. Christa Reinigs Roman „Entmannung“ [1977], in: Vojin Saša Vukadinović (Hrsg.): Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976–1980, Göttingen 2020, S. 205–209, Zitat S. 207.
4 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über Friedrich Heinrich Jacobis Werke, Dritter Band, in: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, 1817, Nr. 1 und 2 (wieder in: ders., Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften, 1808–1817, S. 429–461, Zitat: S. 429).
5 Ebd., S. 430.
6 Ebd., S. 460.
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die Einrichtung einer kritischen Zeitschrift für Literatur. An das Ministerium des Unterrichts eingesandt [1819/20], in: ders., Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main. 1970, Bd. 11: Berliner Schriften 1818–1831, S. 9–30, Zitat: S. 10.
8 Ebd.
9 Ebd., S. 11f.

Kommentare

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Von Grashoff, Udo

Das von Timo Luks vorgeschlagene interdisziplinäre Rezensieren wäre sicher eine attraktive Ergänzung der bisherigen Praxis, ausgewiesene Experten rezensieren zu lassen, kann diese aber nicht ersetzen. Wie will ein Fachfremder ohne Kenntnis der zitierten Literatur, des Forschungsstandes, der Quellen etc. einschätzen, ob das rezensierte Buch innovativ, originell, fundiert oder vielleicht doch nur oberflächlich, ungenau oder effekthaschend ist?


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