Dieser Text entstand als Ergebnis von gemeinsamen Diskussions- und Schreibphasen in Hannover im Rahmen eines von der VolkswagenStiftung geförderten Scoping Workshops. Neben den Erstautor:innen nahmen teil: Eva Bischoff, Bettina Brockmeyer, Rebecca Brückmann, Bernadette Descharmes, Patrick Farges, Antje Flüchter, Jane Freeland, Bianca Frohne, Johanna Gehmacher, Andrea Germer, Levke Harders, Martina Kessel, Ulrike Krampl, Sandra Maß, Jan Meister, Gisela Mettele, Karen Nolte, Andrea Rottmann, Raffaella Sarti, Angelika Schaser, Falko Schnicke, Kristina Schulz und Gabriela Signori.
„Gender history is here to stay.” Genau 25 Jahre ist es her, dass die US-amerikanische Historikerin Lynn Hunt ihren viel zitierten Aufsatz „The Challenge of Gender” mit diesen Worten begann. Sie sollte recht behalten: Die Geschlechtergeschichte kann international und im deutschsprachigen Raum auf eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte zurückblicken. Das Feld hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur etabliert, sondern auch vielfach ausdifferenziert. Neben die eher sozial- und alltagshistorische Untersuchung von Frauen in der Geschichte sind in der Zwischenzeit kultur- und wissenshistorische Studien zur diskursiven Konstruktion von Geschlecht getreten. Auch die Geschichte von Männlichkeit(en) ist vielfach untersucht worden. Mikrohistorische und biographische Ansätze stehen dabei neben Arbeiten, die nationale und internationale, überregionale, imperiale, dekoloniale und globale Perspektiven einnehmen. Zahlreiche Studien untersuchen die Geschichte der Sexualitäten. Fragen nach queeren Lebensweisen, Geschichten von Lesben- und Schwulenbewegungen und von Trans∗personen haben das Feld in den letzten Jahren bereichert. Geschlechterhistorische Fragen werden dabei für alle historischen Epochen untersucht. Längst sind sie auch in der Public History angekommen.
Gerade zurzeit stößt Geschlechtergeschichte, wie ein Blick auf H-Soz-Kult zeigt, auf besonderes Interesse. Ihre Fragen und Themen beschäftigen auch den geschichtswissenschaftlichen Mainstream. Und dennoch bleibt viel zu tun. So weisen – um nur ein Beispiel zu nennen – die einschlägigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik zwar übereinstimmend auf die fundamentalen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse hin, wie diese indes zustande kamen, welche Rolle soziale Bewegungen dabei spielten, und inwieweit Narrative der Demokratisierung und Liberalisierung mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse zu verändern wären, wird dabei kaum diskutiert, obwohl dazu längst wichtige Einzelstudien vorliegen.
In Anbetracht des großen Potentials der Geschlechtergeschichte, ihrer Relevanz für gegenwärtige gesellschaftliche Debatten – auch angesichts von fortgesetzten Anfeindungen gegenüber der (historischen) Frauen- und Geschlechterforschung seitens der politischen Rechten und anderer populistischer Strömungen und im Hinblick auf die unterschiedlichen, in ihrer Kombination nur umso erschütternderen Krisen der Gegenwart – scheint es uns nicht nur sinnvoll, sondern geradezu unabdingbar, über die gegenwärtige Situation der historischen Geschlechterforschung, über aktuelle Fragen, neue Themen und Ansätze, Desiderata und institutionelle Herausforderungen nachzudenken.
Ein von der VolkswagenStiftung finanzierter Scoping Workshop gab uns dazu im Juni 2023 Gelegenheit. Wir haben uns dabei bewusst entschieden, unsere Diskussion auf Deutsch zu führen. Das mag eher unüblich sein, erschien uns aber sinnvoll: Über schwierige methodische, theoretische und historiographische Fragen diskutiert es sich sehr viel einfacher in der eigenen Wissenschaftssprache. Auch entwickeln sich geschichtswissenschaftliche Debatten häufig im nationalen Kontext und in Auseinandersetzung mit der jeweiligen nationalen Vergangenheit. Universitäre Arbeitsbedingungen variieren in verschiedenen Ländern. Rezeption erfolgt nicht unabhängig von Sprache. Während die meisten Teilnehmer:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz lehren, kamen einige aus Frankreich, Italien, Großbritannien und den USA. Viele der Teilnehmenden haben darüber hinaus umfangreiche internationale Erfahrungen. Wir hoffen daher, dass unsere Überlegungen über den deutschsprachigen Raum hinaus von Interesse sind.
Zugleich müssen wir uns aber eingestehen, dass unsere Ausführungen standortgebunden sind: Wir leben in vergleichsweise wohlhabenden westlichen Demokratien und genießen (sehr weitgehende) Freiheit in Forschung und Lehre. Unsere Kontakte reichen eher in westliche Nachbarstaaten als nach Osteuropa, wir orientieren uns eher an der angloamerikanischen und europäischen Forschung als an den Theorieangeboten und empirischen Ergebnissen, die von unseren Kolleg:innen aus dem Globalen Süden erarbeitet werden. Es bleibt viel zu tun.
Dieses Papier ist eine Momentaufnahme. Es zielt darauf ab, die Orientierung im Fach zu erleichtern, aktuelle Diskussionen zu bündeln und neue Debatten anzustoßen. Es will nicht das letzte Wort behalten. Es macht hoffentlich neugierig und reizt zum Widerspruch und zur Ergänzung. Wo also steht die Geschlechtergeschichte heute? Wie haben sich ihre Ansätze verändert? Was gibt es Neues und wo sehen wir Forschungsbedarf? Was ist angesichts der Entwicklung des Feldes auf der Strecke geblieben? Was wird sichtbar, wenn sich Ansätze verändern? Woran lässt sich anknüpfen? Bevor wir uns im zweiten Teil diesen Fragen mit Bezug auf einige ausgewählte Felder und Themen der Geschlechtergeschichte zuwenden, stellt der erste Abschnitt die besonderen Potentiale der Geschlechtergeschichte dar. Im letzten Teil des Papiers widmen wir uns inhaltlichen, forschungspragmatischen, universitären und didaktischen Herausforderungen und schlagen einige Lösungsstrategien vor. Angesichts der Kürze des Textes können wir die historische Entwicklung des Fachs oft nur streifen. Das schmerzt, denn ohne den persönlichen Einsatz und die intellektuelle Leistung der Vorkämpfer:innen der Geschlechtergeschichte gäbe es sie in dieser Form nicht.
1. Wozu Geschlechtergeschichte heute?
Über den Sinn historischen Arbeitens lässt sich trefflich streiten. Wie vermeidet man Präsentismus und Anachronismus und trägt zugleich zur Selbstverständigung gegenwärtiger Gesellschaften und zur Gestaltung einer besseren Zukunft bei? Wie werden wir der Vergangenheit gerecht, während wir zugleich um unsere eigene Standortgebundenheit wissen? Aus historischen Arbeiten lassen sich fast nie unmittelbare Lehren für die Gegenwart ziehen. Aber die Beschäftigung mit der Geschichte verändert den Blick auf die eigene Zeitgenoss:innenschaft. Historische Forschung zeigt, wie die uns selbstverständliche heutige Welt entstanden ist und erlaubt zugleich Alteritätserfahrungen, besonders bei der Bearbeitung älterer Epochen. Damit werden die Geschlechterverhältnisse der Gegenwart als zugleich historisch kontingent und veränderbar erkennbar. Gerade die Geschlechtergeschichte führt uns die ganze Fülle menschlicher Verhaltensweisen und Emotionen vor Augen. Sie konfrontiert mit zunächst Unverständlichem. Idealerweise macht die Beschäftigung mit Geschichte Wissenschaftler:innen, Studierende und Leser:innen kritikfähiger, selbstreflexiver, nachdenklicher und empathiefähiger.
Vor allem angesichts der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen um Geschlecht und Sexualität, die in vielen Gesellschaften mit Vehemenz geführt werden – verwiesen sei hier auf eine Zunahme von Queerfeindlichkeit und maskulinistischen Tendenzen gerade in vermeintlich liberalen westlichen Gesellschaften sowie auf die Reetablierung von Regimen mit rigider Geschlechtertrennung und geschlechtsspezifischer Unterdrückung etwa in Afghanistan und dem Iran – kommt der Geschlechtergeschichte besondere Bedeutung zu. Sie zeigt, wie vergangene Gesellschaften Geschlechterverhältnisse und Sexualitäten verstanden und organisierten und wie sich diese im historischen Prozess veränderten, wann und unter welchen Bedingungen dies zu Konflikten führte, welche Vorstellungen, Praxen und Strukturen dominierten und warum und aufgrund welcher Machtverhältnisse sie sich zum Teil als ausgesprochen langlebig erwiesen.
Geschlechtergeschichte ermöglicht es also, Veränderungen und longue durée von Geschlechtervorstellungen und -verhältnissen in ihrer Vielfalt und ihren Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen. Sie zeigt, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass sich Geschlechterverhältnisse verändern und dass sich daraus – gerade in den massenmedial vernetzten Gesellschaften der Moderne – Kontroversen ergeben. Man denke nur an die vehementen Debatten um 1900, als sich Feminist:innen und Antifeminist:innen erbittert gegenüberstanden, die Öffentlichkeit mit Verve über Sexualaufklärung und Sexualreform diskutierte und die entstehende Sexualwissenschaft die Entkriminalisierung von Homosexualität forderte. Oder an die 1970er-Jahre, als Frauen--, Lesben- und Schwulenbewegungen, Sexratgeber und „Pornowelle“ Vorstellungen von Sexualität, Liebe und Geschlecht veränderten. Geschlechterverhältnisse beschäftigten aber auch die Menschen früherer Jahrhunderte. Die Querelle des femmes, eine juristisch-philosophische Debatte über die (Un-)Gleichheit der Geschlechter, durchzog die Frühe Neuzeit. Auch (männliche) Ärzte und Theologen meldeten sich gerne zu Wort, um zu erklären, wie es um die Geschlechterdifferenz „wirklich“ bestellt sei. Im Zuge von Entdeckungsreisen, Kolonialisierungen, Missionierungen und ethnologischen Forschungsaufenthalten entstanden westliche Beschreibungen der Geschlechterverhältnisse in afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Gesellschaften. Sich über Geschlecht und Geschlechterdifferenz, auch über (momentane, theatralische oder etwa im Tierreich zu beobachtende) Möglichkeiten des Geschlechtswechsels oder der Nicht-Binarität Gedanken zu machen, ist also kein neues Phänomen.
Geschlechtergeschichte zeigt, dass Veränderungen von Geschlechterverhältnissen viele Ursachen hatten. Ökonomische Faktoren, Kriege, Besatzungen und Kolonialisierungen, soziale Bewegungen und Ideologien spielten eine wichtige Rolle. Dabei lässt sich der Wandel der Geschlechterverhältnisse nicht als lineare Fortschrittsgeschichte erzählen, denn Veränderungen führten nicht zwangsläufig zu mehr Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe, sondern produzierten auch neue Ausschlüsse, Zwänge und Abhängigkeitsverhältnisse. So wurde der europäische Kolonialismus u.a. mit der Überlegenheit westlicher Geschlechterverhältnisse gerechtfertigt. Als es im Spätmittelalter zu einer Kommerzialisierung und Professionalisierung des Bierbrauens kam, verbesserte dies nicht die Einkommensmöglichkeiten der Frauen, die häufig Bier gebraut hatten, sondern führte zu ihrem Ausschluss aus dem nun immer gewinnträchtigeren Geschäft. Wohlfahrtsstaaten nahmen sich der Bedürftigen an und schrieben dabei Vorstellungen der Schutzbedürftigkeit von Frauen fest. Dort, wo (weiße) bürgerliche Feministinnen erfolgreich ihre Interessen durchsetzten, ging dies oft auf Kosten von Frauen aus der Unterschicht, von Schwarzen Frauen oder von Frauen des Globalen Südens. Hegemoniale Männlichkeiten grenzten sich von anderen als minderwertig verstandenen Männlichkeitsentwürfen ab, und auch vermeintliche Minderheiten reproduzierten männliche Hegemonie. Rassismus fand sich auch in frauenbewegten und queeren Kontexten. Geschlechtergeschichte arbeitet solche paradoxen Entwicklungen heraus. Sie stellt dabei vertraute Meistererzählungen in Frage und setzt sich kritisch mit historischen Periodisierungen auseinander. Ihr Verweis auf Ungleichzeitigkeiten problematisiert eine simplifizierende Sicht auf Vergangenheit und Gegenwart.
Neben dem Wandel von Geschlechtervorstellungen und -ordnungen untersucht Geschlechtergeschichte zugleich deren Langlebigkeit. Sie fragt, welche Strukturen, Institutionen und Diskurse, welche machtpolitischen Strategien und Interessen Geschlechterungleichheit befestigten. Sie zeigt, wie das Gefühl der Natürlichkeit von Geschlechterdifferenz – „boys will be boys“ – über Sprache, Praxen und Institutionen hervorgebracht und individuell im Prozess der Sozialisation angeeignet wurde. Sie untersucht, welche Wissensformationen (Religion, Medizin, Naturwissenschaften) dabei besonders wirkmächtig waren und sind. Seit ihren Anfängen hat die Geschlechtergeschichte damit zur Historisierung von nur scheinbar unkomplizierten Konzepten wie Verwandtschaft, Familie, Sexualität, Liebe, Arbeit, Politik, Öffentlichkeit etc. beigetragen. Sie untersucht empirisch, wie solche Konzepte von Zeitgenoss:innen verstanden und verwendet wurden und welche normativen Erwartungen dabei transportiert wurden. Männlichkeit wurde z.B. nicht per se mit Wehrhaftigkeit assoziiert, Weiblichkeit nicht immer mit Mütterlichkeit. Geschlechtergeschichte untersucht vergangene Gesellschaften damit in machtkritischer Perspektive.
Geschlechtergeschichte ist ein klassische Epochengrenzen überschreitendes Unterfangen. Sie kann jede Gesellschaft in den Blick nehmen und geht dabei nicht notwendig davon aus, dass Geschlecht per se die wichtigste Unterscheidungskategorie darstellte, wohl aber dass Geschlecht immer eine von mehreren Achsen gesellschaftlicher Ungleichheit war. Sie fragt darüber hinaus, welche Differenzierungen in je historisch konkreten Kontexten wie begründet und aufrechterhalten, konstruiert und gelebt wurden und wie sie zusammenwirkten und einander wechselseitig durchdrangen.
Geschlechtergeschichte zeichnet sich durch Methodenvielfalt aus und bereichert damit die Geschichtswissenschaft insgesamt. Je nach Forschungsfrage greifen Historiker:innen unterschiedliche Ansätze – von der Diskursgeschichte bis zur Alltagsgeschichte, von der historischen Bildanalyse bis zu wirtschaftshistorischen Ansätzen, von politik- und ereignishistorischen Konzepten bis zur Emotionengeschichte – auf. Ältere Kontroversen haben mittlerweile an Sprengkraft verloren. So macht zum Beispiel der Streit zwischen angeblich essentialistischen und konstruktivistischen Positionen differenzierteren Perspektiven Platz. Gefragt wird eher nach Wechselbeziehungen, danach wie Diskurse Erfahrungen formen, ohne sie zu determinieren, danach welche Erfahrungen aufgrund welcher Machtdynamiken in die Produktion gesellschaftlich relevanter Wissensbestände eingehen. Dies ermöglicht eine Pluralität von Herangehensweisen an Diskurse und Erfahrungen: „Praktiken“ und „Körpertechniken“ sowie „Subjektivitäten“ sind Begriffe, die sich als nützlich erwiesen haben, wenn es darum geht, die Verschränkung von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Lebensweisen zu erforschen.
Besonders wichtig waren geschlechterhistorische Arbeiten für die Rezeption und Verbreitung kulturhistorischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Entsprechende Arbeiten zeigen, dass Sprache und Begrifflichkeiten zählen: Sie untersuchen am historischen Material, wie Konzepte den Blick von Öffentlichkeiten, Politiker:innen und Wissenschaftler:innen lenkten, dabei Denk- und Fragehorizonte eröffneten und verschlossen, Personengruppen („Migranten“; „Feministinnen“, „Historiker“) und Identitäten („deutsch“; „homosexuell“) konstruierten, wie sie dadurch Wirklichkeit definierten und herstellten. Mit Hilfe geschlechterhistorischer Fragen und Untersuchungen lässt sich damit – auch zum Beispiel in der Schule – kritisches Denken einüben, das es Bürger:innen erleichtert, politische Diskurse, Medienberichte und auch eigene Standpunkte zu hinterfragen.
Seit den Anfängen der historischen Frauenforschung ringen Geschlechterhistoriker:innen mit der Lückenhaftigkeit und der Standortgebundenheit der historisch überlieferten Quellen, denn das von Herrschaftsbeziehungen durchzogene historische Archiv war nie darauf ausgelegt, die Perspektiven, Erfahrungen und Stimmen von marginalisierten Personen festzuhalten. Geschlechterhistoriker:innen mussten daher vielfältige Methoden der Quellenkritik und der Quellenlektüre entwickeln. Die Geschlechtergeschichte eignet sich damit auch in der (universitären) Lehre besonders gut dazu, einen kritischen Umgang mit dem historischen Archiv einzuüben. Angesichts der auch durch die Praxis historischer Überlieferungen, etwa im Kontext von Sklaverei und Kolonialherrschaft ausgeübten Gewalt, zeigt sich besonders in der für die Geschlechtergeschichte oft wegweisenden angloamerikanischen Forschung ein neues Interesse daran, die Grenzen der historischen Überlieferung durch literarisch inspirierte Verfahren des Schreibens zu verdeutlichen und in Ansätzen zu überschreiten.
Obwohl das Schreiben von Geschichte immer primär die Aufgabe verfolgt, die Vergangenheit als das Andere vorstellbar zu machen, bietet die Geschlechtergeschichte, wie andere Formen der Geschichtsschreibung auch, Identifikationsmöglichkeiten, wenn sie etwa zeigt, wie Menschen füreinander eintraten und für gemeinsame Ziele kämpften. Den Biographien „großer Männer“ und den Darstellungen „wichtiger Ereignisse“ hat die Geschlechtergeschichte andere Geschichten zur Seite gestellt, zunächst jene von bedeutenden Frauen, dann aber auch Erzählungen, die z.B. an Ereignisse aus der Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung oder an den Kampf um Frauenrechte erinnern und die die Handlungsmacht (agency) und das Leiden von marginalisierten und unterdrückten historischen Akteur:innen in den Blick nehmen.
Geschlechtergeschichtliche Expertise ist außerdem notwendig, wenn es um ethische Fragen von Vergangenheitsbewältigung, von Schuld, Schuldeingeständnissen und Wiedergutmachung geht. Dies betrifft zum Beispiel die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern in Kirchen, Vereinen und Schulen oder den menschenverachtenden Umgang mit ledigen Müttern und ihren Kindern. Es betrifft auch Entschädigungsleistungen für Opfer von Zwangssterilisationen, von Zwangsprostitution und Vergewaltigungen und von Verfolgung wegen Homosexualität sowie rassistischer Gewalt und kolonialer Ausbeutung.
Wie jede Wissenschaft verändert sich auch die historische Geschlechterforschung. Neue Impulse ergeben sich aus veränderten Forschungsmöglichkeiten, etwa aufgrund der zunehmenden Digitalisierung historischer Quellen und aus Veränderungen im Feld der Geschichtswissenschaften insgesamt. So haben zum Beispiel gerade in den letzten Jahren globalhistorische Ansätze auch in der Geschlechtergeschichte stark an Bedeutung gewonnen. Andere Entwicklungen verdanken sich interdisziplinären und internationalen Einflüssen. Dabei zeigen sich nationale Besonderheiten, die durch die jeweilige nationale Geschichte und durch aktuelle politische und gesellschaftliche Dynamiken, auch durch die sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in den akademischen Systemen bedingt sind. Es steht außer Frage, dass die Verwendung des Englischen als lingua franca Nicht-Muttersprachler:innen benachteiligt und ihnen die intellektuelle Arbeit der „Übersetzung“ von Konzepten, Begriffen und historischen Sachverhalten aufbürdet. Aus der anglophonen Welt stammende Begriffe – gender, agency, intersectionality, race usw. – sind aus der Geschlechterforschung nicht wegzudenken. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen, welche konzeptionellen Überlegungen bei ihrer Entwicklung wegweisend waren, wie diese spätere Forschungen beeinflussen und inwieweit sie sich auf andere historische Gegenstände (besonders in älteren historischen Epochen) übertragen lassen. Mit queerer und trans∗ Geschichte entstehen neue historische Fragen. Dabei geht es nicht nur darum, der vorhandenen Geschlechtergeschichte ein neues Gegenstandsfeld – die Geschichten „queerer“ Menschen oder „queerer“ Verhaltensweisen – hinzuzufügen. Vielmehr geht es auch darum, die Begriffe und Konzepte der Geschlechtergeschichte immer wieder auf ihre (stets epochen- und gegenstandsspezifisch zu bewertende) Tauglichkeit und ihre nicht intendierten Effekte hin zu überprüfen: Sind sie dazu geeignet, fluide Formen der Geschlechterperformanz zu analysieren? Lenken sie den historischen Blick zu sehr auf Geschlechterbinarität einfordernde Diskurse und Institutionen und übersehen dabei vielleicht alltägliche Vielfalt und (riskante) Praxen der Herausforderung und Überschreitung von binären Strukturen?
Schließlich ist die Geschlechtergeschichte längst in einen Prozess der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Entstehung und – im Zusammenhang damit – mit der Geschichte des Feminismus und der queeren Befreiungsbewegungen eingetreten. Hier nimmt sie auch die Dynamiken in den Blick, die ihrerseits und aus ihren eigenen Reihen heraus ausgrenzend wirkten, indem sie etwa die Bedeutung von Schwarzen Historikerinnen für die Entwicklung des Feldes betont. Dieser Prozess – der mit einer Auseinandersetzung zu Fragen der Begrifflichkeit einhergeht, mit den durch das Archiv bestimmten silences und auch mit einer notwendigen Dekolonialisierung der Geschichtswissenschaft insgesamt – ist noch längst nicht abgeschlossen. Für die europäische Geschlechtergeschichte müsste er gezielte Fragen nach (süd-)osteuropäischen, sozialistischen und postsozialistischen Perspektiven einschließen.
2. Forschungsfelder und Debatten
Feminismus und Antifeminismus in historischer Perspektive
Seit ihren Anfängen untersucht Geschlechtergeschichte historische Auseinandersetzungen um Fragen des Geschlechts. Diese fanden z.T. in rein intellektueller Form statt, zum Beispiel in philosophischen Texten, ethnographischen Beschreibungen und fiktionaler Literatur. Wie die historische Forschung rasch zeigte, haben neben Texten, die patriarchale Verhältnisse rechtfertigen, auch feministische und proto-feministische Ideen eine lange Geschichte. Die Geschichte von Frauenbewegungen sowie von sexuellen Befreiungsbewegungen ist hingegen deutlich kürzer, reicht aber weit ins 19. Jahrhundert zurück.
An der Forschung zu Feminismus und Antifeminismus lässt sich die große methodische Vielfalt der Geschlechtergeschichte gut ablesen. Hier finden sich diskursanalytische Arbeiten neben Arbeiten, die soziale Bewegungen als Organisationsformen und politischen Kampf als gelebte Praxis untersuchen. Emotions-, bild- und medienhistorische, auch biographische Ansätze haben sich als fruchtbar erwiesen. Da es sich bei Feminismus und Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegungen um international vernetzte Phänomene mit unterschiedlichen lokalen Ausprägungen handelte, wurden vergleichende und transnationale Ansätze gewählt. Standen zunächst die europäischen und anglo-amerikanischen Bewegungen im Zentrum der Forschung, hat sich längst gezeigt, dass es sich beim Feminismus um ein globales Phänomen handelt. Dabei lassen sich die vielfältigen Spielarten feministischen Denkens und Handels nur adäquat fassen, wenn eurozentrische Vorannahmen darüber, was Feminismus „eigentlich“ sei, aufgegeben werden.
Die Geschichte der Feminismen ist eine Geschichte interner Deutungskämpfe und Machtverhältnisse. In den letzten Jahren hat vor allem die Kritik von Schwarzen Feminist:innen zu einer Veränderung im Feld geführt. Historische Studien haben den Einfluss von hervorragend vernetzten und professionalisierten US-amerikanischen Feminist:innen auf die internationale Entwicklungs- und Bevölkerungspolitik der Nachkriegsjahrzehnte nachgewiesen und problematisiert. Sie haben auch gezeigt, dass feministische Bewegungen von internen Hierarchien gekennzeichnet waren und Ausschlüsse (z.B. von lesbischen und/oder migrantischen) Frauen zu beobachten sind. Wichtige politische Initiativen der Frauenbewegung – z.B. der sehr früh vehement geführte Kampf gegen die Reproduktionsmedizin – erweisen sich in der retrospektiven Betrachtung als weitgehend desinteressiert an den reproduktiven Rechten Schwarzer Frauen oder den Interessen von Frauen mit Kinderwunsch. Feministische Überzeugungen bewahrten nicht vor rassistisch motivierten Überlegenheitsgefühlen. Vielmehr ließen sich imperiale Politiken bereits im 19. Jahrhundert durch die angebliche Notwendigkeit rechtfertigen, „braune Frauen vor braunen Männern“ schützen zu müssen.
Wie die historische Forschung deutlich herausgearbeitet hat, engagier(t)en sich Frauen keineswegs per se für im weitesten Sinne feministische Inhalte. Vielmehr beteilig(t)en sie sich auch an emanzipationsfeindlichen, rechten politischen Strömungen und unterstütz(t)en koloniale und faschistische Projekte. Auch lassen sich feministische und emanzipative Argumente auf unterschiedliche Weise zweckentfremden. So bedienen sich rechte Parteien heute homonationalistischer Argumente, um Stimmung gegen (angeblich homosexualitätsfeindliche) Migrant:innen zu machen. Der sogenannte „Antigenderismus“ beruft sich auf die vermeintlich „natürliche“ Bestimmung von Frauen und beschwört die Bedeutung der „natürlichen“ Familie. Politische Motive – etwa die Betonung von Selbstbestimmung, Diversität und choice – finden breite Verwendung zu Werbezwecken. Feministische Schlagworte werden dabei mit neoliberalen Idealen verknüpft.
Der gegenwärtig in vielen Ländern zu beobachtende Aufstieg rechter Parteien, aber auch das gleichzeitige Erstarken feministischer Bewegungen und die vielen alltäglichen Kämpfe um Anerkennung, die von queeren, trans∗ und nicht-binären Personen und ihren Organisationen geführt werden, fordern zu vermehrter historischer Forschung auf. Diese basiert oft auf der von nicht-staatlichen Archiven geleisteten Sammlungsarbeit. Nicht zuletzt angesichts der engen Verbindung zwischen der Frauenbewegung des späten 20. Jahrhunderts und der Entstehung der Frauen- und Geschlechterforschung bietet sich hier auch Gelegenheit zu einer kritischen Reflexion der Entstehungskontexte und Wissensgeschichte der Geschlechtergeschichte.
Queer- und trans∗historische Perspektiven
Der Streit zwischen trans∗-inklusiven und -exklusiven Kräften im Feminismus verweist auf die Herausforderungen, die aktuelle Debatten über geschlechtliche Vielfalt jenseits der Binarität von weiblich und männlich mit sich bringen. Wie radikal sollte die Dichotomie der Geschlechter (sowie die der Ordnungskategorien von Homo und Hetero) im Licht der mit queer, trans∗, inter∗, fluide oder non-binär adressierten Variabilitäten und Grenzräume hinterfragt werden? Mit diesen Fragen greifen queer- und trans∗historische Perspektiven, die innerhalb des breiten Feldes der Geschlechter- und Sexualitätengeschichte eigene Impulse entwickeln, deren Grundanliegen auf und spitzen sie in neuer Weise zu.
Historiker∗innen haben begonnen, politische Kämpfe, soziale und körperliche Erfahrungen, Subkulturen und Sorgebeziehungen von Trans∗personen im 20. und 21. Jahrhundert zu erforschen. Auch im Hinblick auf frühere Epochen, als medizinisch unterstützte geschlechtliche Transitionen noch nicht möglich waren, haben sie Kastratensänger, weibliche Ehemänner und andere eventuell vergleichbare Phänomene unter sozialen, ökonomischen wie gewalthistorischen Gesichtspunkten untersucht. Hier entsteht Orientierungswissen für die Gegenwart: Schon immer bewegten sich Personen an den Rändern oder in den Zwischenräumen der Zweigeschlechtlichkeit. Non-Binarität lässt sich nicht als aktuelle Modeerscheinung abtun.
Gleichzeitig zeigen queer- und trans∗historische Zugänge, dass gerade geschlechtliche Nicht-Binariäten der Vergangenheit nicht als unmittelbare Vorgänger heutiger Konzepte zu verstehen sind, sondern als Ausdruck von geschichtlicher Alterität im Vergleich zur Gegenwart: Vormoderne Eunuchen und Hermaphroditen müssen in historischen Kontexten verortet werden. Gleiches gilt für indische Hijra und nordamerikanisch-indigene Two-Spirit. Wie verstanden Akteur:innen sich selbst? Wie reagierten ihre Umgebungen? Wie vergeschlechtlichten Wissenskulturen Menschen und wie sonderten Machtstrukturen „deviante“ Körper aus? Wo sehen wir und wie interpretieren wir Geschlechtergrenzen herausfordernde oder überschreitende Praxen, ohne dabei von Identitäten auszugehen? Solche Fragen verhindern eine Vereinnahmung komplexer Vergangenheiten als Muster der Gegenwart, stiften aber transepochale Verbindungen, die nicht von Dichotomien und identitären Fixierungen, sondern von Spektren und differenzierenden Verschiebungen ausgehen. So fördern queer- und trans∗historische Analysen einen kompetenten Umgang mit Vielschichtigkeit und reduzieren die Toxizität aktueller Debatten über geschlechtliche Vielfalt. Sie hinterfragen Binaritäten, ohne heutige Kategorien zu naturalisieren oder außereuropäische Modelle zu vereinnahmen. Mit Blick auf das Problem der Aneignung gilt zudem, dass eine überwiegend von Cis-Personen betriebene Forschung solche Perspektiven nicht überzeugend integrieren kann, ohne sich für LSBTIQ∗ Personen zu öffnen.
Queere Geschichten werfen auch erinnerungspolitische Fragen auf: Wie soll zum Beispiel an die NS-Verfolgung von Trans∗personen erinnert werden? Ähnlich wie in den Debatten um das Gedenken an die Verfolgung von lesbischen Frauen im Nationalsozialismus zeigt ein Blick auf Trans∗geschichten, dass es eben nicht genügt, entlang der Verfolgungslogik der Nationalsozialist:innen nur nach den Männern mit dem rosa Winkel zu suchen, wenn es darum geht, NS-Verfolgung aufgrund von geschlechtlicher oder sexueller „Devianz“ zu rekonstruieren. Solche Überlegungen können auch aktuellen Bündnissen und Konflikten zwischen feministischen, queeren und trans∗ Bewegungen eine historische Dimension bieten. Daher sollten sie problematische Aspekte wie Klassismus und Rassismus in der Transvestitenbewegung der 1920er-Jahre ebenso wenig ausblenden wie die Transfeindlichkeit in Homo- und Frauenbewegungen. Als provokante Perspektive erlauben queer- und trans∗historische Perspektiven es der Geschlechtergeschichte, selbstkritisch zu bleiben.
Wissenschafts- und medizinhistorische Perspektiven
Seit der Antike verhandeln medizinische und naturphilosophische Texte die Bedeutung von Geschlecht, Geschlechterdifferenz und Geschlechterbinarität. Dieser europäische Diskurs wurde mit der Aufklärung zu einem hegemonialen, der biologische Kategorien primär über hierarchisch gedachte binäre Zweigeschlechtlichkeit definierte. Die wissenschaftlich zu erforschende „Natur“ avancierte zur entscheidenden Begründung für gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die naturgeschichtliche und naturwissenschaftliche Wissensproduktion fand dabei in Kontexten statt, die von Machtbeziehungen durchzogen waren und von denen Frauen zunehmend ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig wurden sie jedoch zunehmend zum Gegenstand misogyner biologisierender Theorien: die Gynäkologie etwa wurde zur „Sonderanthropologie“ und festigte das Axiom vom Mann als dem „Allgemeinen“ und der Frau als der „Besonderen“. Die Kategorien race, class und gender sind damit eng verflochten, da auch Körper von Menschen unterer sozialer Stände und außereuropäischer Kulturen als abweichende Körper betrachtet wurden. Die europäische Expansion ging mit einer Konzentration von auf diese Weise generierten neuen Wissensbeständen in den westlichen Metropolen einher. Bis heute dokumentieren die dort zu besichtigenden Museen die historische Enteignung indigener Bevölkerungen. Diese wurden aufgrund rassifizierender Differenzvorstellungen als „minderwertig“ apostrophiert. Biologisch-medizinische Forschung legitimierte rassistische und (proto-)eugenische Projekte und setzte sie mit Hilfe institutionalisierter Verfahren z.B. der Begutachtung, der Segregation und Sterilisation teils bis Ende des 20. Jahrhunderts durch.
Durch Re- und Dekonstruktion sowie die konsequente intersektionale Perspektivierung wissenschaftlichen Denkens und der dabei verwandten Systeme der Klassifizierung und Kategorisierung arbeitet Geschlechtergeschichte nicht nur die Standortgebundenheit von scheinbar um Objektivität bemühten Wissenschaften heraus, sondern zeigt auch deren normierende und essentialisierende Macht, die der Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnungen dient und in letzter Konsequenz die (Über-)Lebenschancen Marginalisierter bedroht. Geschlechtergeschichte fragt, welche (konkurrierenden) Vorstellungen von Geschlecht zeitgenössisch zirkulierten und wie diese angeeignet wurden. Sie untersucht, wie solche Vorstellungen zum Beispiel in der Gesetzgebung und Sozialpolitik, in Strafverfahren oder in der medizinischen Praxis angewandt, aber auch herausgefordert und modifiziert wurden.
Neben im engeren Sinne diskursanalytischen Arbeiten sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche, eher an Praxen der Wissensgenerierung und -zirkulation, an Aushandlungs- und Aneignungsprozessen interessierte Arbeiten entstanden. Dabei ist auch die agency von Patient:innen und die Bedeutung von Patient:innenorganisationen – etwa im Kontext der wissenschaftlichen Erforschung und Bekämpfung von AIDS – herausgearbeitet worden. Manche eng mit der Entstehung der medizin- und wissenschaftshistorischen Frauen- und Geschlechterforschung im Kontext der Frauen(gesundheits)bewegung verbundenen Feindbilder und Viktimisierungsdiskurse sind differenzierteren, konsequent historisierenden Ansätzen gewichen. Dabei ist mit Blick auf die Zeitgeschichte die große Bedeutung der Frauenbewegung für die Herausbildung neuer Körpervorstellungen und -praktiken aufgezeigt worden.
Die gesellschaftliche Konstruktion von dis/ability, fatness, Intersexualität, trans∗ness etc. herauszuarbeiten und dabei zugleich die Materialität von Körpern und die Bedeutung von somatischen Erfahrungen für Lebensalltag und Identitätsbildung zu berücksichtigen, stellt gerade in historischer Perspektive eine enorme Herausforderung dar. Wie schreibt man, um ein Beispiel zu nennen, eine Geschichte von Schwangerschaft und Geburt, die das zeitgenössische medizinische Wissen, die unterschiedlichen Untersuchungs- und Entbindungspraxen und die an Schwangere herangetragenen Deutungen rekonstruiert, ohne diese mit der somatischen Erfahrung der Schwangeren in eins zu setzen? In geschlechterhistorischer Perspektive ist dabei die umfangreiche Forschung zur Geschichte der Sexualitäten als wegweisend hervorzuheben. Diese hat gezeigt, wie wichtig die im späten 19. Jahrhundert entstehenden Sexualwissenschaften für die Sexualitätsvorstellungen des 20. Jahrhunderts und das Sexualerleben der Menschen waren, ohne gleichzeitig frühere und andere Formen von Intimität als historisch irrelevant zu verwerfen.
Wie andere Themenbereiche der Geschlechterforschung profitiert auch die medizin-und wissenschaftshistorische Forschung von einer Vielfalt der Ansätze und von der Berücksichtigung unterschiedlicher Epochen. Gerade der Blick auf die Vormoderne und auf außereuropäische Kulturen kann dabei helfen zu verstehen, wie wenig „natürlich“, wie historisch geworden und sozial konstruiert die uns so selbstverständlich erscheinenden Vorstellungen von „Natur“ und Geschlecht(erdifferenz) eigentlich sind.
Sorge, Fürsorge, Care
Seit ihren Anfängen hat sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte intensiv mit Fragen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Reproduktion der Lebensverhältnisse beschäftigt. Dabei galt es zunächst, Fürsorge und Versorgung überhaupt als historische Gegenstände zu etablieren. Dazu mussten Gefühlswelten historisiert und die in Familien und Haushalten geleistete, historischen Veränderungen unterworfene, bezahlte und unbezahlte Arbeit von Frauen als solche sichtbar gemacht werden. Auch galt es den Mythos zu dekonstruieren und zu historisieren, Frauen täten diese Arbeit „aus Liebe“ und seien „von Natur“ beziehungsweise aufgrund einer göttlichen Ordnung für diese bestimmt. Der Verweis auf die angeborene „Mütterlichkeit“ aller Frauen war schließlich auch von Feministinnen der ersten Frauenbewegung benutzt worden, um sich politisch Gehör zu verschaffen und neue Berufsfelder wie Kindergärtnerin oder Sozialfürsorgerin zu entwickeln und für sich zu reklamieren.
Die diskursive Konstruktion von Hilfs- und Schutzbedürftigkeit – der Heranwachsenden, der Alten, der mit Behinderungen Lebenden usw. – sowie die institutionelle Ausgestaltung von Fürsorge wurden intensiv untersucht. Dabei ging es häufig auch darum, die Erfahrungen und die agency der zum Objekt der Fürsorge Gemachten und geschlechtsspezifischen Fürsorgeregimen Unterworfenen aufzuzeigen. Gerade beim Blick in die Geschichte zeigt sich, wie eng Fürsorge und Disziplinierung, Care und Herrschaft verwoben waren. Vormoderne Klöster und Beginenhäuser boten unverheirateten Frauen physischen Schutz. Dort beteten und arbeiteten sie nicht nur für ihr eigenes Seelenheil, sondern auch das ihrer Familienangehörigen: Spiritualität als Carearbeit, könnte man sagen. Komplexe Beziehungsstrukturen kennzeichneten die klösterlichen gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften nach innen und – dank der vielfach festgestellten Durchlässigkeit von Klostermauern – auch nach außen. In solchen Häusern konnten Frauen besondere Frömmigkeitspraktiken entwickeln, als Lehrerinnen und Apothekerinnen wirken, doch nicht alle hatten diesen Ort freiwillig gewählt. Die Ambivalenz von Wohltätigkeit und sozialer Kontrolle springt auch bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Institutionen der Fürsorge ins Auge, die familiäre Verantwortlichkeiten beschränkten und ergänzten und in denen die Behandlung stark von der geschlechtlichen Zugehörigkeit abhing: Waisen-, Kranken-, Zucht- und Armenhäusern. Nur wenn familiärer Rückhalt fehlte, suchten (ganz überwiegend unverheiratete) Frauen im 18. Jahrhundert Gebäranstalten auf, um dort ihre Kinder zur Welt zu bringen, denn im Gegenzug mussten sie als Versuchsobjekte für die Ausbildung von Medizinstudenten und Hebammen herhalten. Vormoderne Armeen wären ohne die geschlechts- und generationenübergreifende Versorgung durch Trosse gar nicht einsatzfähig gewesen.
Zeithistorische Studien haben Gewalt, Ausbeutung und sexuellen Missbrauch in Fürsorgeeinrichtungen der Nachkriegszeit und die Beteiligung von Ärzten, Fürsorger∗innen, Hebammen und Krankenpfleger∗innen an der nationalsozialistischen Biopolitik erforscht. Ein besonders düsteres Kapitel der Geschichte von Care stellt die Unterbringung indigener Kinder in Siedlerfamilien und in von Missionarinnen und Missionaren betriebenen Einrichtungen dar, die getrieben von der Vorstellung westlicher Überlegenheit mit dem Ziel erfolgte, indigene Kulturen zu zerstören.
Gerade am Themenfeld Care/Sorge lässt sich das Potential interdisziplinärer Zusammenarbeit für die Geschlechtergeschichte deutlich machen. Wie kann an philosophische Überlegungen zu einer feministischen Care-Ethik angeschlossen werden, wie an soziologische Forschungen zu Liebe und Konsum, zu Gewalterfahrungen in Geburtskontexten (obstetric violence), zu Dienstbot:innenmigration und den damit entstehenden chains of care sowie zu queeren Care-Beziehungen? Was sagen uns literaturwissenschaftliche Arbeiten zu neuer Väterlichkeit/ caring masculinities? Ökofeministische Perspektiven lenken den Blick auf Praxen der Sorge für Umwelt, Natur und andere Lebewesen. Ansätze der dis/ability studies sensibilisieren für die Notwendigkeit, historische Prozesse der Konstruktion von Kategorien der Pflegebedürftigkeit in ihrer Vielschichtigkeit und ihren ausgrenzenden Konsequenzen zu untersuchen.
Die Schwerpunkte der historischen Geschlechterforschung zu care/Sorge verlagern sich. Dabei dürften auch die Lebenserfahrungen der Historiker:innen eine Rolle spielen. Sorgebeziehungen jenseits traditioneller Familien werden untersucht. Zum Beispiel zeigen Arbeiten zur Fürsorge und Pflege von Aidskranken, wie Sorgeverhältnisse in schwulen Paar- und anderen Beziehungen ohne rechtliche Absicherung neu ausgehandelt werden mussten, wie sich der Fürsorgestaat dazu verhielt und wie der Kampf gegen HIV/Aids die queere Bewegung mobilisierte. Die Versorgung von Kindern – das „Bemuttern“ – wird, um ein anderes Beispiel heranzuziehen, heute in historischer Perspektive stärker als körperliche und emotionale, von materiellen Bedingungen und Expertenmeinungen beeinflusste Praxis erforscht. Überhaupt spielen körperhistorische und emotionengeschichtliche Perspektiven eine wichtige Rolle, wenn Fürsorge als eine Form der Arbeit verstanden wird, die sehr oft den Einsatz des Körpers der fürsorgenden Person voraussetzt. Wie erlebten Menschen in der Vergangenheit diese körperliche Nähe? Wie bewältigten sie Scham und Ekel? Wer musste seinen Körper (als Amme, Pfleger:in, Dienstbot:in, Sexarbeiter:in) einsetzen, um anderen Körpern ein angenehmes oder wenigstens erträgliches Leben zu ermöglichen?
Gewalt
Die aktuell zu beobachtende Zunahme zwischenstaatlicher Kriege, Bürgerkriege und mehr oder weniger autonom agierender Milizen, die rund um den Globus immer massivere Vertreibungs- und Fluchtbewegungen auslösen, scheint alte Klischees zu bestätigen: Gewaltbereitschaft und -handeln werden historisch und zeitgenössisch sowie global weitgehend mit Männern bzw. (kriegerischer) Männlichkeit assoziiert. „Frauen und Kinder“ werden meist kollektiv-subjektiv als „Opfer“ gedeutet. Damit wird implizit eine Essentialisierung von Gewalt betrieben, die den Blick auf die Genese und die ambivalenten Mechanismen von Gewalt genauso verstellt wie auf Wege aus der Gewalt und ihrer Prävention. Gleichzeitig rückten durch den Fokus auf Kriegsgewalt zivilgesellschaftliche Gewaltsphären (v.a. Familie und Arbeitsplatz, sexualisierte Gewalt), die auch andere als rein physische Gewaltformen bedeuten können, wieder zunehmend in den Hintergrund. Gewalt kann in ihren vergangenen, wie gegenwärtigen Repräsentations- und Erscheinungsformen jedoch nicht angemessen beurteilt werden, wenn ihre sozialen und dabei insbesondere geschlechterspezifischen Voraussetzungen und Auswirkungen nicht identifiziert werden, wie etwa der soziale und rechtliche Wandel im Umgang mit Vergewaltigung in der Ehe zeigt, aber auch die Epochengrenzen überschreitenden Forschungen zur Reintegration von Kriegsveteranen in Nachkriegsgesellschaften.
Die Geschlechtergeschichte bricht seit den 1970er-Jahren weitere Simplifizierungen und Segmentierungen auf. Sie untersucht unterschiedliche Kontexte von (gerade auch weiblicher) Täter:innenschaft und die ordnungsschaffenden Funktionen und Effekte von Gewaltformen, -normen und gewaltaffinen Institutionen. Unter Bezug auf (bzw. als Teil von) postkolonialer, Genozid-, Emotions- und Körpergeschichte, identifiziert sie Muster und Legitimationsweisen. Zunehmend löst sie sich von einer Täter:innen-Opfer-zentrierten Perspektive und widmet sich den Voraussetzungen von Gewalt und spezifischen Gewaltpraktiken. Zentral ist dabei die konstitutive Bedeutung von Gewaltausübung für männliche Identitätsentwürfe und Selbstvergewisserung. Dem häufigen Schweigen der Archivalien über Gewalt stehen die durch Machtrelationen geprägten unterschiedlich lauten Stimmen der Betroffenen und der bystander gegenüber. Besonders erhellend sind darum Studien zu normativen und praktischen Strategien der Gewaltlegitimation, die auffallend oft transepochal und global über Formen der Alterisierung, dabei primär über Effeminisierung der Betroffenen bei gleichzeitiger Maskulinisierung der Täter:innen funktionieren – sei es in kolonialen oder in lokalen Kontexten. Besonders zu beobachten ist dieser Effekt etwa bei mann-männlicher sexualisierter Gewalt, die in ihren weiteren Auswirkungen aus den oben genannten Gründen bislang jedoch noch kaum historisch erforscht wurde.
Geschlechtergeschichte als Gewaltgeschichte fragt darum nach Prozessen und Praktiken, nach Rollenzuschreibungen, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten, weniger nach Kategorisierungen. Dabei werden scheinbar eindeutige Grenzziehungen von Phasen der Gewalthaftigkeit (Krieg) und Gewaltlosigkeit (Frieden) aufgebrochen und stattdessen Vor-, Zwischen- und Nachkriegszeiten über die gesellschaftlichen Folgen transgenerationeller Gewalterfahrungen in ihrer langfristigen Verwobenheit sichtbar gemacht.
Kolonialität und dekoloniale Ansätze
Das Projekt der Dekolonialisierung betrifft Themen, Fragen, Praktiken und Strukturen historischen Forschens: Die Geschlechtergeschichte zeigt, wie koloniale, vergeschlechtlichte und sexualisierte Formen der Machtausübung ineinandergriffen. Zudem verdeutlicht sie, dass sich Kolonialismen sowohl in politischen und wirtschaftlichen Strukturen als auch in kulturellen Topoi und intimen Beziehungen hartnäckig manifestieren. Mit ihrem Interesse an Relationalität, Machtbeziehungen und Aushandlungsprozessen analysiert die Geschlechtergeschichte komplexe Dynamiken, die sich nicht entlang der Linie zwischen Kolonialisierten und Kolonialisierenden verfestigen mussten. Die Gruppen waren in sich heterogen: Bestimmte körperliche und sexuelle Muster von Weiblichkeit und Männlichkeit wurden erwartet oder erzwungen. Der Zugang zu Eigentum, Einkommen und Ressourcen hing auch vom Geschlecht ab. Kolonialisierte und Kolonialisierende handelten in einem vielschichtigen Feld von Ungleichheiten. So wird ein Spektrum von Kolonialitäten erkennbar, das die Annahme einer unveränderlichen, immer und überall für Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterbeziehungen ausschlaggebenden „weißen Vormacht“ unterläuft. Frühneuzeitliche Expansionen, moderne Imperien und post-koloniale Migrationen schufen je eigene rassistische Diskriminierungen.
Solche Dynamiken aus der Perspektive der von Rassismus Betroffenen historisch zu analysieren, fällt schwer. Die Quellen sind bestenfalls fragmentarisch überliefert. Mit diesem Problem sind Geschlechterhistoriker:innen vertraut. Dabei reicht es nicht aus, marginalisierte Stimmen zur Sprache zu bringen. Es gilt auch die Methoden zu dekolonisieren. Die Geschichte der „weißen Überlegenheit“ prägt wissenschaftliche Strukturen, die nicht-europäische Wissensbestände unsichtbar machen, die Analysen höher werten als Zuarbeit, Ergebnisse höher als Quellen, wissenschaftliche Expertise höher als lebensweltliche Erfahrung. Seit der Aufklärung und den späteren Professionalisierungen schreiben akademische Machtzentren im Globalen Norden vor, was als „objektiv“ und was als „subjektiv verzerrend“, was als „wissenschaftlich“ und was als „aktivistisch“ gilt. Auch wenn Forschende ihr eigenes Tun anders reflektieren als politisch Agierende, so begründet diese Differenz doch auf keiner Seite einen privilegierten Wahrheitsanspruch.
Geschlechterhistorische und dekoloniale Ansätze können produktiv ineinandergreifen. Dabei sollten Black, Indigenous und People of Color (BIPoC), Migrant:innen und andere Menschen mit Diskriminierungserfahrung nicht nur als „Quellen“ gehört, sondern als Ko-Produzent:innen von Wissen respektiert werden. Partizipative Forschung sollte kollektive Autor:innenschaft ermöglichen und Machtverteilungen kritisch reflektieren. Diese Arbeit sollte angemessen finanziert und anerkannt werden, um Prekarität vorzubeugen. Auch wenn die Frage, ob eine so umfassende Überwindung der Kolonialität akademischer Wissensproduktion möglich ist, aktuell (noch) nicht beantwortet werden kann, ist es umso wichtiger, die Geschlechtergeschichte weiter zu dekolonisieren, in thematischer, methodischer und struktureller Hinsicht.
Intersektionalität
Soziale Ungleichheiten sind ein globales wie lokales Phänomen, das uns nicht gleichgültig sein kann. Die Geschichtswissenschaften sind aufgerufen, die Entstehung und Entwicklung sozialer Ungleichheiten im Verlauf der Geschichte zu analysieren und damit gesellschaftliche Veränderungen zu untersuchen. Dabei hilft ein Ansatz aus dem Kontext des US-amerikanischen Black Feminism, den Rechtswissenschaften und den Gender Studies: die Berücksichtigung von Intersektionalität. Aber wie lassen sich Ungleichheitskategorien in der Analyse tatsächlich verknüpfen? Wie sieht ein Forschungsprogramm aus, das die theoretischen Ansätze des Black Feminism ernst nimmt, Ungleichheit als multidimensionales Phänomen untersucht und gleichzeitig die Frage nach den epochenspezifischen Differenzkategorien offenhält?
Auch wenn mit der Debatte über „Intersektionalität” international und interdisziplinär unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund geschoben wurden, scheint das Theorieangebot ausreichend weit gefasst, um neue anregende Adaptationen möglich zu machen, und damit Anregungen aus der postkolonialen Theorie, den dis/ability studies und queer studies aufzunehmen. Aus geschlechterhistorischer Sicht kann und sollte die Debatte um Intersektionalität weiterentwickelt werden, indem die jeweils einbezogenen Kategorien noch stärker historisiert werden. Im deutschsprachigen Kontext werden diesbezüglich aktuell die Operationalisierbarkeit und die politischen Implikationen des Ansatzes diskutiert.
Historische Intersektionalitätsanalysen erfordern nicht nur die Beschreibung der Verflechtung sozialer Kategorien, sondern interessieren sich dafür, wie sich einzelne Kategorien in Abhängigkeit von anderen Kategorien über kurze oder lange Zeiträume historisch konstituieren (z.B. Geschlecht in Abhängigkeit von race und class oder auch im Zusammenhang mit religiöser Zugehörigkeit und Stand). Die Beschreibung des Prozesses der Kategorienbildung ist dabei eine wichtige Voraussetzung, um Intersektionalitätsanalysen in der Geschichtswissenschaft zur Anwendung zu bringen. Ein zentrales Problem der Operationalisierbarkeit ist die Auswahl der zu untersuchenden Kategorien – sowohl in Hinblick auf den Umfang des Forschungsprojektes als auch auf die Beschreibbarkeit eines sozialen Raumes. Die notwendige Begrenztheit der Anzahl der Kategorien muss daher ausgewiesen werden. Gerade die für den Vergleich häufig notwendige Verwendung moderner Kategorien erfordert außerdem multiple Übersetzungsleistungen, denn nur auf diese Weise können sowohl Alterität als auch Ähnlichkeit sichtbar und verstehbar gemacht werden, ohne dabei in Exotisierung und/oder Idealisierung zu verfallen. Die Praxis eines solchen produktiven Anachronismus ermöglicht es zugleich, die Situiertheit moderner sozialwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe zu hinterfragen. In einer solchen diachronen und kulturellen Dezentrierungsleistung liegt eine wichtige Stärke der historischen Intersektionalitätsanalyse. Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, Gesellschaft von den am stärksten marginalisierten Positionen aus zu denken – und in dieser Gewichtung liegt wohl der größte Unterschied zum Sprechen über „Heterogenität“ oder „Diversität“.
Gerade in den letzten Jahren ist ein neues Interesse an der Bedeutung von ökonomischen Unterschieden sowie an class festzustellen. Neue Studien, die zum Teil auf innovativen Möglichkeiten der Auswertung historischer Massendaten basieren, greifen ältere Fragen z.B. nach der Familienökonomie oder den Auswirkungen von Ungleichheit auf Gesundheit und Überleben erneut auf. Ob allerdings die grundsätzliche Verschiebung einer Untersuchung von sozialer Ungleichheit hin zu Ungerechtigkeit (inequality/inequity), wie sie im angloamerikanischen Kontext zuweilen gefordert wird, wirklich für die Untersuchung aller Epochen produktiv ist, bleibt zu diskutieren. Neuere Vorschläge zu intersektionalen Analysen vormoderner Gesellschaften plädieren dafür, ein Unrechtbewusstsein bei ungleicher Behandlung nicht schon als gegeben vorauszusetzen.
Archive, Macht, silences
Aus Sicht der Geschlechtergeschichte stellt das Archiv einen ambivalenten Ort dar. Unabhängig davon, ob man mit einem weiten (auch Bibliotheken, Museen, Filme und Bilder, Dinge, Bauwerke und in Privatbesitz befindliche Überreste umfassenden) oder engen Archivbegriff arbeitet, sind Archive von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogen. Archive basieren auf Entscheidungen darüber, was aufgenommen und aufgehoben, verwahrt und erhalten, geordnet und verzeichnet und damit für spätere Nutzung und für die Nachwelt verfügbar gehalten werden soll. Nicht nur über Sammlungskriterien und -praktiken, sondern auch über die Regulierung von Zugängen zum Archiv üben diese epistemologische Macht aus. So bedingt – besonders wichtig bei global- und kolonialhistorischen Arbeiten – bereits der Ort, an dem sich ein Archiv befindet, wer es besuchen kann und ob dort zum Beispiel auch Frauen arbeiten dürfen. Logiken des Verzeichnens entscheiden darüber, welche Fragen und Themen sich vergleichsweise leicht recherchieren lassen und was unauffindbar bleibt. Für die Historiker:in werden Museen, Archive und Bibliotheken damit zu vergifteten Sehnsuchtsorten: Sie geben zu sehen und verbergen, sie enthalten Spuren und beherbergen aus geschlechter-, sexualitäts- und körperhistorischer Sicht zentrale Dokumente, doch zugleich sind sie selbst Spiegel von Ungleichheit, Gewalt, Unterdrückung und Herrschaft. Viele geschlechterhistorische Arbeiten haben gezeigt, dass sich Quellen „gegen den Strich“ lesen lassen. Gerade in den letzten Jahren ist allerdings hervorgehoben worden, dass auch ein Lesen „along-the-grain“ notwendig ist. Dabei geht es darum, in wissenschaftshistorischer Perspektive zu untersuchen, welche Art des Wissens zeitgenössisch mit Hilfe des Archivs hervorgebracht und gespeichert wurde, welche Sammelpraktiken Anwendung fanden. Auch zur Verfolgung geschaffene Archive eröffnen Einblicke in Lebensbedingungen (so etwa Stasiunterlagen zum Leben von Lesben in der DDR, Verwaltungsakten zu Eunuchen im Britisch kolonisierten Indien oder auch die auf „deviante“ Körper gerichteten Sammlungen von Sexualforschern etc.). Für die Historiker:in sind diese Archive eine faszinierende Fundgrube, deren ethisch und machtpolitisch problematische Entstehung jedoch stets mitreflektiert werden muss.
Das reichhaltige Repertoire an geschlechterhistorischen Strategien im Umgang mit dem Archiv lässt sich besonders gut am Beispiel der nordatlantischen Sklaverei zeigen. Das politisch und ethisch so wichtige Ziel der Darstellung von Erfahrungen stößt in dem aus weißer Perspektive und von Rassismus strukturierten Archiv auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Das Begehren, mehr über die Betroffenen zu erfahren, lässt sich oft nicht befriedigen. Es muss reflektiert und ausgehalten werden.
Archive sind selbstverständlich auch wichtige Orte der bewussten Überlieferung und der Identitätsstiftung. Dies trifft auf Familienarchive ebenso zu wie auf die Archive sozialer Bewegungen. Frauen- und Geschlechterhistoriker:innen haben schon früh angefangen, solche Archive zu sammeln, herzustellen und zugänglich zu machen. In den letzten Jahren entstehen zunehmend auch Archive der LSBTQ-Bewegungen. Besonders Oral-History-Projekte versuchen Überlieferungslücken zu schließen. Die Möglichkeiten der Digitalisierung sind für die Geschlechtergeschichte von großem Nutzen, gerade wenn es um die Zugänglichkeit von Archiven geht. Dabei sollte auch in Zukunft darauf geachtet werden, durch Paywalls und Ungleichzeitigkeit in der Digitalisierung Ungleichheiten nicht strukturell zu reproduzieren. Ebenso wichtig erscheint, eine geschlechtergerechte Verzeichnungspraxis nicht aus den Augen zu verlieren.
Neben der praktischen und finanziellen Sorge für bereits vorhandene Archive und deren Erweiterung und Digitalisierung, stellen sich für die Geschlechtergeschichte auch ethische Fragen, die sich aus dem Umgang mit Archiven ergeben. Dies betrifft in besonderer Weise die im historischen Archiv befindlichen Bilder und Filme. Hier müssen Strategien für den vorsichtigen Umgang mit Archivmaterialien und insbesondere visuellen Quellen entwickelt werden, um zu vermeiden, dass sexistische, rassistische, klassistische und andere diskriminierende Aspekte im (Bild-)Zitat reproduziert werden, ohne dass dies hinreichend reflektiert und problematisiert würde.
Geschichte anders schreiben
Seit langem beschäftigen sich Geschlechter- und postkoloniale Geschichte mit der Dekonstruktion von Meistererzählungen und hegemonialen Narrativen und mit der Suche nach neuen Wegen, auch heterogenen und widersprüchlichen Stimmen Gehör zu verschaffen. Sie analysieren neue Genres und Formate in ihren Forschungen, nutzen sie aber auch, um Geschichte neu zu erzählen. Historiker:innen der Frauen- und Geschlechterforschung und der Postcolonial Studies haben vielfältige, zuvor nicht wahrgenommene Geschichten über Akteur:innen, Handlungsräume und Herrschaftszusammenhänge herausgearbeitet. Gleichwohl haben sie immer wieder darauf verwiesen, dass die Lücken der historischen Überlieferung nicht überdeckt werden dürfen, sondern dass der fragmentarische Charakter jeder Geschichtserzählung sichtbar gehalten werden muss. Diese Kompetenz und Sensibilisierung der Geschlechtergeschichte in Bezug auf Fragen der narrativen Darstellung eröffnet gerade unserem Forschungsfeld besondere Fähigkeiten bei der Analyse, aber auch bei der Herstellung breit zugänglicher medialer Formate wie Blogs, Podcasts und Ausstellungen. Mit Konflikten über das Verhältnis von komplexer wissenschaftlicher Analyse und zuspitzender populärer Darstellung geht die Geschlechtergeschichte reflexiv um und erkennt darin keine unüberwindbare Dichotomie.
Geschlechtergeschichte hat seit ihrer Entstehung neue Ansätze, neue Methoden und Theorien, neue Forschungsfelder und neue Themen erschlossen. Sie hat Geschichtswissenschaft somit auf vielen Ebenen verändert und Geschichte(n) anders erzählt. Sie hat zudem häufig auch stärker transepochal gearbeitet als andere Bereiche der (deutschen) Geschichtswissenschaft, und hat dabei fest verankerte Grenzziehungen im Fach reflektiert und in Frage gestellt. Geschlechtergeschichte hat in ihrer eigenen Geschichte immer wieder zur Selbstermächtigung von Menschen und Gruppen beigetragen, deren Anspruch auf Partizipation an Geschichte und am Geschichte-Schreiben delegitimiert worden war. Angesichts der dauerhaften Problematik, dass Machtverhältnisse Memoria beeinflussen, bleibt der Auftrag bestehen, Ausgangsbedingungen zu schaffen und zu überdenken, um demokratische Partizipation zu erweitern – wie etwa durch Kooperationen. So sollte es etwa darum gehen, Erinnerungen von Migrant:innen deutlich sichtbarer zu machen und damit nationale Narrative zu verändern. Unter welchen Bedingungen kann es bis dato ausgeblendeten Akteur:innen und ihren Erzählungen gelingen, an der Herstellung von Geschichtsnarrativen und Erinnerungskonstruktionen mitzuwirken?
Muss Geschichtswissenschaft „ausgewogen“ sein? Wie viel Nähe, wie viel Distanz ist der historischen Untersuchung zuträglich? Diesen Fragen, die die Frauen- und Geschlechtergeschichte seit ihren Anfängen begleiten, hat sich besonders in letzter Zeit die Frage hinzugesellt, wer über wen schreiben, wer sich also die Deutungsmacht der Geschichtsschreiber:in aneignen darf, um marginalisierte Gruppen zu solchen mit bedeutungsvoller Geschichte werden zu lassen. Solche Debatten beinhalten zuweilen identitätspolitische Ausschließungsmechanismen. Die Frage wer schreibt, ist wichtig, sollte aber nicht dazu führen, dass Personen von der Bearbeitung bestimmter Themen ausgeschlossen werden. Die Stärke von Geschlechtergeschichte, die es auszubauen gilt, liegt u.a. darin, Konflikte, Ausblendungen und Ausgrenzungen zu problematisieren und das Nachdenken darüber selbstreflexiv auf das eigene Tun anzuwenden.
3. Aufgaben, Ansprüche, Aussichten
Offene Fragen, neue Herausforderungen
Geschlechtergeschichte ist in Bewegung. Sie steht im steten disziplinären und interdisziplinären Austausch, reagiert auf neue Forschungsfragen und bringt sich mit ihrer Expertise in aktuelle Debatten ein. Seit ihren Anfängen hat die Geschlechtergeschichte vom intensiven Austausch etwa mit der Ethnologie, den Literaturwissenschaften, der Soziologie und den Area Studies profitiert. Sie hat Konzepte wie „Intersektionalität“ oder „Hegemoniale Männlichkeit“ aufgegriffen und zugleich kritisch reflektiert. Die Gender Studies widmen historischen Perspektiven in den letzten Jahren allerdings immer seltener die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Zurzeit dominieren sozialwissenschaftliche Ansätze das Feld. Historiker:innen sollten hier aktiv den Austausch suchen und ihre Kompetenzen einbringen. Sie können zeigen, wie auch das scheinbar Selbstverständliche („Geschlechterdifferenz“, „Mutterliebe“, „Homosexualität“) im Lauf der Zeit entstand und hergestellt wurde. So gelingt es, oft unhinterfragte Annahmen zum „Fortschritt“, der die „Moderne“ vermeintlich von der „Vormoderne“ trennt, produktiv zu kritisieren und zu widerlegen. Mit ihrem Gespür für die Variabilität von Differenzen entdecken historische Arbeiten hinter vermeintlich klaren Gegensätzen facettenreiche Bezüge und Veränderungen ebenso wie Kontinuitäten. So kann auch die Gegenwartsgesellschaft Geschlechterverhältnisse in ihrer historisch gewachsenen Komplexität verstehen. Körper- und wissenshistorische Studien, die mit Konzepten wie Biokulturalität oder complex embodiment arbeiten, verweisen auf ein Ineinander von Körpern und Subjektivitäten, Praktiken und Performanzen, gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Traumata. Hier bestehen Schnittstellen zur (geschlechtersensiblen) Medizin.
Transdisziplinäre Herausforderungen und Fragen ergeben sich zudem aus der Debatte um das Anthropozän. Wie wirkt sich der Klimawandel in den besonders betroffenen Regionen auf die geschlechtliche Arbeitsteilung aus? Wie verändern sich dadurch schichten- und gruppenspezifische Familienkonzepte? Welche Rolle spielen dabei Produktion und Reproduktion? Solche Fragen lassen sich mit den Methoden der Geschlechtergeschichte beantworten, ohne dass dabei die Grundfesten der Disziplin ins Wanken gerieten. Riskanter wird es, wenn historische mit naturwissenschaftlichen und anthropologischen Zugängen kombiniert werden, um „More-Than-Human-Histories“ zu schreiben. Diese betrachten Menschen in ihrer Verbundenheit mit und Abhängigkeit von anderen Lebewesen und Dingen. Damit liegt der Fokus nicht mehr allein auf menschlichen Akteur:innen und die Bedeutung etwa der Ausbreitung von Viren oder Kaninchen für Kolonialisierungsprozesse gerät in den Blick. Solche Perspektiven überschreiten die disziplinären Grenzen der Geschichtswissenschaft. Welchen Beitrag die Geschlechtergeschichte zu dieser Forschungsrichtung wird leisten können, ist noch nicht abzusehen.
Die Mühen der Transdisziplinarität zeigen sich auch im Dialog mit der Informatik: Digital History hat vielfältige Potentiale. Sie ermöglicht nicht nur die Analyse von großen Textkorpora, sondern erlaubt auch die Untersuchung und Darstellung von aus statistischen Erhebungen, Verwaltungsdaten, Verträgen usw. gewonnenen Datensätzen zum Beispiel zur Ressourcenverteilung auf gesellschaftlicher oder familiärer Ebene. Ein naives Vertrauen auf die mühelose Produktion von Ergebnissen durch automatisierbare Verfahren wäre allerdings verfehlt. Die Qualität der Ausgangsdaten im Hinblick auf die sich in ihnen spiegelnden Geschlechter-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse bedarf der genauen Analyse. Da die Geschlechtergeschichte die Situiertheit von Wissen betont, hinterfragt sie auch die Annahmen, die in die Programmierungen einfließen. Das theoretische Projekt eines queeren Programmierens, das mit dem Scheitern von binaritätskritischen, nicht ausführbaren Kodierungssprachen spielt, eröffnet hier spannende Perspektiven. Wer mit digitalen und digitalisierten Quellen arbeitet, sollte den Austausch mit Fachleuten suchen, um Algorithmen besser zu verstehen.
Geschlechtergeschichte wird auch in Zukunft an den Konjunkturen im breiteren Feld der Geschichtswissenschaften teilhaben. Globalhistorische Fragen werden immer häufiger bearbeitet, sicherlich bleibt hier aber noch viel zu tun. Es reicht nicht, die eigene Standortgebundenheit zu problematisieren. Es bedarf auch entsprechender (Sprach-)Kompetenzen, um zu sowie in außereuropäischen und nicht-westlichen Gesellschaften forschen zu können. Besonders Studierende, Doktorand:innen und Postdoktorand:innen brauchen Zeit und Ressourcen, um diese Kompetenzen zu erwerben. Projekte sollten zudem in Kooperationsbeziehungen mit Forschenden aus den jeweiligen Regionen entwickelt werden. Dabei gilt es, das westlich geprägte Methodenrepertoire in Auseinandersetzung mit anderen Formen des historischen Denkens kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
Ferner lassen sich Veränderungen im Bereich der Visual History erwarten. Die Erweiterung des Quellenmaterials um Bilder und Filme und das wachsende Interesse an Bilderproduktion und -zirkulation erfordern ein erneutes Nachdenken über geschlechtlich kodierte Repräsentationsformen und des in diese eingeschriebenen Blicks (gaze). Besondere Herausforderungen ergeben sich hier bei der Präsentation von Forschungsergebnissen. Die Erwartung, dass Vorträge illustriert sein sollten und die Leichtigkeit, mit der Bilder und Filme dem Vortragspublikum zugänglich gemacht werden können, dürfen nicht zu einer unreflektierten Verwendung problematischer historischer Bilder führen.
Im Unterschied zur Geschlechtergeschichte anderswo widmet sich die deutschsprachige Forschung gegenwärtig kaum wirtschafts- und rechtshistorischen Fragen. Hier könnten sich in den nächsten Jahren Schwerpunktverlagerungen ergeben. Wechselbeziehungen zwischen Geschlechterverhältnissen und staatlichen, rechtlichen sowie ökonomischen Strukturen könnten so wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Das Feld der Geschlechtergeschichte wird sich weiter verändern, in neue, bisher noch nicht absehbare Richtungen. Dieses Papier konnte nur manche der gegenwärtigen Entwicklungen abbilden. Eine deutlich stärkere Berücksichtigung hätten Forschungen zu älteren historischen Epochen verdient. Die insgesamt in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft herrschende Dominanz der (europäischen) Zeitgeschichte lässt sich auch in unserem Feld nicht übersehen. Dabei zeigt sich gerade in der Beschäftigung mit früheren Epochen, wie unterschiedlich Geschlechterverhältnisse organisiert sein können. Insbesondere im (auch epochenübergreifenden) historischen Längsschnitt werden Kontinuitäten in Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen deutlich. Das Feld der Geschlechtergeschichte sollte deshalb auch zukünftig an eine alte Stärke anknüpfen: die transepochale Forschung.
Strukturen schaffen und bewahren
Forschung braucht Ressourcen. Das gilt auch für die Geschlechtergeschichte. Damit sie ihr Innovationspotential erhalten, weiterhin in die Geschichtswissenschaft und in die Nachbardisziplinen ausstrahlen und sich aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen kann, bedarf die Geschlechtergeschichte verlässlicher Strukturen. Professuren mit Teildenomination „Geschlechtergeschichte“ sind von großer Bedeutung. Auch wenn viele Kolleg:innen geschlechterhistorisch arbeiten, braucht es akademische Zusammenhänge, in denen geschlechterhistorische Ansätze im Zentrum stehen und bewusst vorangetrieben werden. Nur so lässt sich ihre Sichtbarkeit im Fach und die internationale Anschlussfähigkeit sicherstellen.
Ein großer Teil der relevanten geschlechterhistorischen Forschung wird von Doktorand:innen und Postdoktorand:innen geleistet. In den letzten Jahren sind deren prekäre Arbeitsbedingungen zurecht scharf kritisiert worden. Eine Neu- oder Umformulierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, die jungen Forschenden mehr Verlässlichkeit bietet, ist längst überfällig.
Zudem sollte Geschlechtergeschichte zu einem festen Bestandteil universitärer Curricula und in den strategischen Zielen der Universitäten verankert werden. Der Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken”, der „unterrepräsentierten Gruppen” den Zugang erleichtern will, die BMBF-Förderrichtlinie „Geschlechteraspekte im Blick” sowie ähnliche Programme in der Schweiz, in Österreich und anderswo, bieten Ansatzpunkte, die geschlechterhistorische Projekte nutzen sollten. Damit sich die historische Geschlechterforschung selbständige Denk- und Handlungsräume bewahren kann, benötigt sie außerdem Rückhalt in institutionellen Strukturen wie den DFG-Fachkollegien. Ferner sollten außeruniversitäre Forschungseinrichtungen geschaffen werden.
Der im Sommer 2023 vom Wissenschaftsrat vorgelegte Bericht zum Stand der Geschlechterforschung in Deutschland kommt zu einem insgesamt sehr positiven Ergebnis, wird jedoch der Relevanz der historischen Geschlechterforschung nicht gerecht. Der Wissenschaftsrat empfiehlt eine stärkere Institutionalisierung und die Etablierung von „Forschungsknoten“. Mit konzertierten Interventionen gilt es dafür zu sorgen, dass diese so ausgestaltet bzw. thematisch ausgerichtet werden, dass sich Geschlechterhistoriker:innen an ihnen in angemessener Weise beteiligen können. Internationale Vernetzungen sind ebenso wichtig, auch mit Kolleg:innen aus dem globalen Süden. Die Befunde der deutschsprachigen Geschlechtergeschichte müssen in englisch- und anderssprachige Debatten eingebracht werden. Auch dafür braucht es Ressourcen.
Der Austausch von Geschlechterhistoriker:innen ist zentral für die Stärkung des Profils, das die interne Vielfalt betonen sollte, ohne entlang identitätspolitischer Konfliktlinien zu zersplittern. Nötig sind regelmäßige Tagungen, tragfähige Netzwerke und finanzkräftige Verbundforschung, von denen jüngere Wissenschaftler:innen ebenso profitieren sollten wie mit vielfältigen Aufgaben oft zu sehr belastete Professor:innen. Der Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung leistet seit Jahren ehrenamtliche Arbeit und die European Social Science History Conferences bieten ein wichtiges Forum; aber regelmäßige deutschsprachige Tagungen gibt es bisher nur für Teilbereiche wie die Frühe Neuzeit oder die Männlichkeitenforschung. Mit MATILDA existiert ein europäischer MA-Studiengang in Geschlechtergeschichte. Da die Integration der Gender-Perspektive in die Benennung akademischer Abschlüsse Absolvent:innen breitere Karrierechancen eröffnet, sollte dieses Modell Schule machen. Zeitschriften wie L’Homme.ZFG und Sammlungen wie das Digitale Deutsche Frauenarchiv sind weitere wertvolle Foren für Diskussionen innerhalb und außerhalb des Feldes und bedürfen kontinuierlicher Förderung.
Geschlechterforscher:innen werden angegriffen. Daher bedarf es Schutz- und Beratungsstrukturen für von Angriffen Betroffene und zur Bekämpfung von frauen- und queer-feindlicher Diskriminierung. Das fängt beim Vornamen-Wechsel in universitären Email-Adressen an und hört bei Strategien gegen sexuelle Übergriffe nicht auf. Auch kooperative und partizipative Formate in Lehre und Forschung können dabei helfen, die Machtstrukturen der akademischen Institutionen grundlegend infrage zu stellen. Ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital darf nicht über den Zugang zu Karrieren entscheiden. Kolleg:innen, die einflussreiche Positionen erreicht haben, können das Bildungs- und Wissenschaftssystem inklusiver gestalten, indem sie Personalpolitik und Organisationskultur entsprechend zu ändern versuchen.
Dazu gehört auch die Überwindung der Ausgrenzung von BIPoC Forscher:innen aus dem Wissenschaftsbetrieb. In diesen Zusammenhängen spielen universitäre Gleichbehandlungsinstitutionen nach wie vor eine wichtige Rolle. Dabei dürfen sich Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen in der Geschlechterforschung und Repräsentant:innen verschiedener Facetten des queer-feministischen Spektrums nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern sollten solidarisch für gemeinsame Anliegen streiten.
Öffentlichkeiten herstellen
Geschlechtergeschichte wird gebraucht. Sie kritisiert die Naturalisierung oder Ontologisierung des patriarchalen Mächteungleichgewichts in allen gesellschaftlichen Bereichen und erkundet die historische Dimension gegenwärtiger Konfliktlagen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Deswegen sollten ihre Perspektiven gerade auch in den stark nachgefragten Studiengängen mit Lehramtsbezug und in der Public History vermittelt werden. Die Geschlechtergeschichte kann so bereits in der Phase der akademischen Professionalisierung zukünftiger Lehrer:innen einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem generellen Konstruktionscharakter von Geschichte leisten.
Die universitäre und praktische Lehramtsausbildung erfolgt in vielen Bundesländern bereits kompetenzorientiert. Die Ausrichtung an Querschnittsthemen und exemplarischen Lernfeldern erfordert eine Lösung vom Konzept eines Wissenskanons, der auf einer chronologischen Abfolge historisch bedeutsamer Ereignisse beruht. Geschlechtergeschichtliche Themen, Ansätze und Methoden werden diesem Anspruch in besonderer Weise gerecht. Mit ihrer Hilfe lässt sich zeigen, wie rechtliche und ökonomische Faktoren Gesellschaft konstituieren. Zudem führen sie den gesellschaftlichen Umgang mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt multiperspektivisch sowie themen- und epochenübergreifend vor Augen. Ferner lässt sich geschlechterhistorischer Wandel methodisch geleitet untersuchen, wobei die Historizität von Kategorien und Narrativen zutage tritt.
In der Public History, die bereits an einigen Hochschulstandorten als Studiengang angeboten wird, kann dies bedeuten, zentrale Forschungsergebnisse der Geschlechtergeschichte systematisch in Institutionen wie Museen, in die Medienproduktion und die politische Geschichtsarbeit zu tragen. Public History muss dabei reflektiert mit der gewohnten Erwartungshaltung der Rezipient:innen umgehen, die oft auf ahistorischen Konzepten von Geschlecht oder binären Geschlechterkonzeptionen beruht. Partizipative Forschungsansätze wie Citizen Science können dazu beitragen, die breite Öffentlichkeit ebenso wie verschiedene Interessensgruppen an Wissensproduktion und -vermittlung zu beteiligen. Die wichtige historische und geschichtspolitische Arbeit außeruniversitärer Vereine sollte anerkannt und einbezogen, nicht aber vereinnahmt werden.
Kritische Wissenschaft in der politischen Öffentlichkeit
Geschlechtergeschichte versteht sich als eine engagierte Wissenschaft, die mit ihren Inhalten, methodischen Ansätzen und Ergebnissen nicht nur in die akademische Lehre und Forschung hineinwirkt, sondern auch den Austausch mit der Gesellschaft sucht. Dabei steht sie vor vielfältigen Herausforderungen. Frauen∗ und queere Personen werden in vielen Ländern massiv unterdrückt. Auch in demokratischen Gesellschaften droht ein backlash. Rechte Kräfte machen kritische Gesellschaftsstudien zur Zielscheibe von ideologisch aufgeladenen Angriffen: Sie stellen Geschlechterforschung als Gefahr für die vermeintlich natürliche Familie, oder gar für die „gottgewollte“ Ordnung dar.
Solche Attacken führen mitunter dazu, dass Bundes- und Landesministerien sich bei der Unterstützung der Gender Studies vorsichtig verhalten, um AfD-Anfragen auszuweichen. In Frankreich wollte die Wissenschaftsministerin sogar die „ideologische Unterwanderung” der akademischen Forschung zu Intersektionalität untersuchen lassen. In Italien äußerten sich 2019 in Verona zahlreiche Politiker:innen öffentlich beim von radikalen Abtreibungsgegner:innen und Rechtspopulist:innen organisierten Congresso pro familia/World congress of families. Medien stimulieren die Aufmerksamkeit. Die Zivilgesellschaft bleibt davon nicht unberührt: Eltern sorgen sich um den „gefährlichen“ Einfluss vermeintlicher Gender-Ideologien in der Schule – sei es im Kontext von Debatten über Gendersternchen oder über sexuelle Vielfalt. Parallel dazu eignet sich die „Neue Rechte“ emanzipatorische Begriffe wie „Gleichheit“ oder „Wissenschaftsfreiheit“ an und instrumentalisiert diese im Sinne ihrer antidemokratischen Zielsetzungen.
Gleichzeitig wächst vielerorts der Einfluss queerer und feministischer Bewegungen. Gewalt gegen Frauen, die laut Istanbul-Konvention „Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist” und LSBTIQ∗-Feindlichkeit werden öffentlich thematisiert und bekämpft. Historische Analysen untersuchen ideologische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Faktoren, die die Langlebigkeit solcher Ungleichheitsstrukturen und die Bedingungen ihres Wandels erklären.
Die historische Geschlechterforschung ist kein neues Forschungsfeld mehr, aber auch nicht obsolet geworden. Sie hat sich – gegen Widerstände – konsolidiert. In den letzten Jahrzehnten wurde viel erreicht. Heute sehen wir neue Herausforderungen und Chancen. Gender history is still going strong!
Eine umfassende Bibliografie finden Sie unter der URL https://www.hsozkult.de/debate/id/fddebate-138765