Das Lexikon "Musik in Geschichte und Gegenwart" stellt das umfassendste und wichtigste Nachschlagewerk für alle Bereiche der Musikwissenschaften, besonders der Musikgeschichte, dar. Unter der Herausgeberschaft von Friedrich Blume entstand das monumentale Werk in den Jahren 1949-1986 beim Bärenreiter-Verlag in 17 Bänden (14 Hauptbände, 2 Supplementbände, 1 Registerband) und ist nun innerhalb der "Digitalen Bibliothek" auch bequem auf CD-Rom zugänglich, wobei das bekannte Steuerungsprogramm dieser elektronischen Reihe auch in diesem Fall die üblichen Benutzungs- und Zugriffsmöglichkeiten bereitstellt. Allerdings handelt es sich bei diesem Lexikon um ein Produkt, das mittlerweile in vielen Punkten wissenschaftlich nicht mehr auf dem neuesten Stand ist - dies gilt natürlich in besonderem Maße für die Bereiche der neueren und neuesten Musik. Seit 1994 entsteht die (noch nicht abgeschlossene) 2. Auflage der MGG, dieses Mal als Gemeinschaftsunternehmen der Verlage Bärenreiter und Metzler, herausgegeben von Ludwig Finscher, angelegt auf 21 Bände (9 Sachbände, 12 Personenbände). Der Sachteil konnte mit dem Erscheinen des Registerbandes 1999 abgeschlossen werden, während der Personenteil zur Zeit bei Band 6 steht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich - wie so oft bei der elektronischen Neuauflage älterer Nachschlagewerke - die Frage nach dem Sinn und Nutzen des Unternehmens, da zumindest die wissenschaftliche Aufarbeitung bestimmter Einzelthemen die Heranziehung der 2. Auflage ohnehin unumgänglich macht. Trotz dieses prinzipiellen Einwandes erscheint mir im Fall der MGG die Herstellung der elektronischen Fassung aber ein gewinnbringendes Unternehmen zu sein. Ganz abgesehen davon, daß sie die teure und platzaufwendige Druckversion für jeden Interessenten optimal ersetzt, ist sie in jedem Fall aus forschungsgeschichtlicher Perspektive von hohem Wert und für die Personenlemmata, die in MGG-2 noch nicht aufgearbeitet worden sind, weiterhin unersetzlich.
Die forschungsgeschichtlichen Perspektiven dürften jedem sofort einleuchten, der insbesondere verschiedene Personenartikel durchsieht und mit heutigem Kenntnisstand vergleicht. Es geht dabei weniger darum, daß heute einfach mehr Material und insofern auch mehr Wissen zu vielen Komponisten, Interpreten usw. zur Verfügung steht, sondern um deren individuelle Bewertungen. Diese fallen u.a. besonders bei einigen Komponisten der 1. Hälfte des 20. Jh. ins Auge und demonstrieren insofern nicht nur klare Fortschritte in der musikwissenschaftlichen Forschung, sondern auch neuere, zumeist offenere Formen der Auseinandersetzung mit bisher vernachlässigten Personen. So hat man sich insbesondere in den beiden letzten Jahrzehnten verstärkt um eine Neubewertung, mitunter zunächst einmal um eine 'Wiederentdeckung' von Komponisten bemüht, die zum einen vielfach stark unter dem Druck und den Repressionen des NS-Regimes gelitten hatten, zum anderen später lange Zeit im Schatten Richard Strauss' standen (ich erinnere an dieser Stelle lediglich an die verdienstvolle Reihe 'Entartete Musik' mit wichtigen Einspielungen). Veraltete Beurteilungen, z.T. auch Vorurteile gegenüber Komponisten wie Franz Schreker (1878-1934), Alexander von Zemlinsky (1871-1942), Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), Erwin Schulhoff (1894-1942), Walter Braunfels (1882-1954) u.a. spiegeln sich in den entsprechenden Artikeln in vielfältiger Weise. So wird im Fall Schrekers immerhin die Frage aufgeworfen, warum dieser zu Lebzeiten so gefeierte Opernkomponist später für Jahrzehnte vollständig aus dem Repertoire der Musiktheater verschwunden ist, doch mündet ihre Beantwortung dann in eine Beschreibung der Stilentwicklung des Komponisten und weist die 'Schuld' an seiner langen Nichtbeachtung damit implizit (und z.T. auch explizit) diesem selbst zu. Das viel zu kurz geratene Lemma zu Zemlinsky begnügt sich nach dem üblichen biographischen Abriß mit dem Hinweis darauf, daß in seinen Kompositionen "Einflüsse von R. Strauss, Fr. Schreker und G. Mahler zu einer sehr gefühlsintensiven, harmonisch hochdifferenzierten Ausdrucksweise" verschmolzen seien, und hebt ansonsten lediglich die Bedeutung Zemlinskys als Lehrer und Dirigent hervor. Korngolds "Tragik" wird darin gesehen, daß dieser nach seiner (unter dem NS-Regime erzwungenen) Emigration in die USA Filmmusiken geschrieben und "nach einer gewissen Zeit seine unleugbare Individualität [...] verloren hat". Die (auch heute noch suggestive) Wirkung seiner Musik sei "mehr und mehr als Selbstzweck" erschienen, und sein wichtigstes Bühnenwerk "Das Wunder der Heliane" sei "nichts anderes als eine Neuauflage der 'Toten Stadt' ", letzteres ein krasses Fehlurteil, das die außerordentlich hohe musikalische und dramatische Qualität dieses Werkes, das eher mit Strauss' "Frau ohne Schatten" verglichen werden sollte, vollkommen verkennt.
Trotz solcher punktueller Einzelkritik bietet das Lexikon jedoch eine große Reihe von Artikeln, die auch nach heutigen Maßstäben noch höchsten Ansprüchen genügen. So vermag z.B. das Lemma zu Richard Strauss auf engem Raum einen konzisen biographischen Abriß einerseits sowie eine ausgewogene musikalische Einordnung andererseits zu geben, ein Balanceakt, der freilich nicht überall gelungen ist, wie z.B. im Fall von Ralph Vaughan Williams, wo der biographische Teil präzise Informationen gibt, während der zweite Abschnitt zur musikgeschichtlichen Einordnung und Bedeutung mit heute fragwürdigen Kategorien und Beurteilungskriterien aufwartet, wenn etwa die Beschäftigung des Komponisten mit Volksmusik auf einen "starke[n] sittliche[n] Impuls" zurückgeführt wird mit dem Ziel einer grundsätzlichen Erneuerung der englischen Musik in Zeiten des sozialen und kulturellen Umschwungs. Läßt sich nicht jede Phase als Phase sozialen und kulturellen Wandels definieren? Noch problematischer ist schließlich die Hervorhebung einer vermeintlichen Begabung des Komponisten, "nationale Charaktereigenschaften widerzuspiegeln".
Demgegenüber bestechen andere Lemmata gerade zu moderneren Komponisten, deren Werke zur Entstehungszeit der Artikel hochumstritten waren, durch differenzierende Werkbeschreibungen und ein ausgewogenes Urteil (z.B. zu Pierre Boulez, György Ligeti, Olivier Messiaen oder Bernd Alois Zimmermann; enttäuschend dagegen das Lemma zu Hans Werner Henze; sehr kurz: Krzystof Penderecki).
Auch auf anderen Gebieten bietet das Lexikon eine Vielzahl von hilfreichen Beiträgen. So verschafft z.B. das Lemma 'Oper' einen anschaulichen Überblick über die Operngeschichte und unterscheidet sich gerade in der guten Lesbarkeit von seinem sperrigen Pendant in MGG2, das freilich wissenschaftlich den neueren Stand repräsentiert, gerade deswegen aber im wesentlichen nur noch aus Verweislemmata und Literaturhinweisen besteht. Demgegenüber sollte z.B. beim Stichwort 'Bayreuth' unbedingt auf MGG2 zurückgegriffen werden, wo auch die Jahre ab 1933 behandelt werden.
Für den eigentlich für die Antike zuständigen Rezensenten bietet das Nachschlagewerk ebenso eine Anzahl fundierter Lemmata, so etwa 'Griechenland' (mit einer ausführlichen griechischen Geschichte aus musikalischer Perspektive), 'Aristoteles', 'Aristoxenos', 'Boethius', 'Cassiodorus Senator', 'Romanos' oder auch 'Euripides', dessen musikalische Sonderstellung gegenüber Aischylos und Sophokles - zumindest soweit wir sie überhaupt rekonstruieren können - allerdings nicht stark genug akzentuiert wird, was die Frage aufwirft, warum dann nicht auch zumindest kurze Lemmata zu den beiden anderen Tragikern aufgenommen worden sind (vgl. zu diesen aber auch das Stichwort 'Griechenland').
Alles in allem eine CD-ROM, deren Erwerb sich lohnt, zumal die elektronische Version gegenüber der Druckfassung noch mit einigen besonderen Vorzügen aufwartet: So führt die Eigenheit, verwandte Personen in ein und demselben Lemma zu behandeln, in der Druckfassung immer wieder zu lästigem Suchen, bis man z.B. den Komponisten Erich Wolfgang Korngold schließlich doch noch unter seinem Vater, dem Musikkritiker Julius Korngold, findet. Die elektronische Fassung hat auch diese 'versteckten' Personen in ihr Register aufgenommen und damit den Zugriff erheblich erleichtert. Gleichzeitig wurden die Addenda et Corrigenda aus den beiden Supplementbänden, soweit möglich, in die Hauptlemmata integriert, wodurch mühsames Blättern erspart wird, was zugleich aber auch eine neue Fehlerquelle darstellt. So wurde z.B. im Artikel 'Braunfels, Walter' das Todesdatum 1954 eingangs nachgetragen, ohne aber den Rest des Artikels darauf abzustimmen. Und so endet der biographische Teil weiterhin damit, daß der Komponist seit Herbst 1950 am Bodensee im Ruhestand lebe. Doch dies sind lediglich Kleinigkeiten in einer insgesamt ausgesprochen gelungenen CD-Produktion.