Die vergangenen zwei Jahre waren wie kaum eine Periode seit 100 Jahren von der kollektiven Erfahrung einer Pandemie und ihren vielfältigen Folgen und Begleiterscheinungen geprägt. Je länger dieser „Ausnahmezustand“ andauert, desto deutlicher zeigt sich für viele Beobachter:innen die hohe Relevanz emotionaler Aspekte bei gesellschaftlichen Gesundheitskrisen, wie sie Epidemien darstellen. Enge Interdependenzen von sozio-kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Prozessen auf kollektiver Ebene einerseits sowie psychischen und somatischen Prozessen auf individueller Ebene andererseits wurden und werden u.a. von Psychotherapie und Psychologie, von Gesundheits- und Emotionssoziologie, von Sozialisations- und Bildungsforschung sowie von den Medical Humanities herausgearbeitet; in historischer Ausrichtung ist in diesem Forschungsfeld, neben der Mentalitäts- und Emotionsgeschichte, auch die Sozialgeschichte der Medizin aktiv. Multi- und transdisziplinären Herangehensweisen kommt bei allen diesen Ansätzen hohe Relevanz zu, für die spezifische Fragestellung der mannigfaltigen Konnexe von Epidemie und Emotion erscheinen sie geradezu unerlässlich.
Die Verbindung der beiden Begriffe Emotion und Epidemie lässt zuallererst wohl an jene massiven kollektiven „Gefühlsausbrüche“ von Furcht und Verzweiflung denken, welche das unerwartete Auftreten einer hochinfektiösen und hochletalen Epidemie auslöst. Derartige „Seuchenpaniken“ sind der Historiographie seit langem bekannt, waren doch solche gesellschaftlichen Ausnahmezustände seit Beginn der Schriftlichkeit immer wieder Anlass für betroffene Menschen, hierüber Aufzeichnungen anzufertigen. Zweifellos ist längst noch nicht die Gesamtheit der historischen Quellen dieser Art der Geschichtsforschung bekannt bzw. eröffnen sich durch die Fokussierung auf die Emotionalität der Narrative auch neue Lesarten bekannter Quellenbestände.
Die Zusammenhänge von epidemischem Geschehen und Affektivität reichen aber weit darüber hinaus: Das mit gefürchteten „Seuchen“ oftmals verbundene Massensterben hinterließ eine Vielzahl von Menschen mit Traumatisierungen – aufgrund eigener Erkrankung und Todesgefährdung ebenso wie wegen des Verlustes von Familienangehörigen und anderen nahestehenden Menschen, oftmals verbunden mit der quälenden Erfahrung der eigenen Hilflosigkeit. Gleichermaßen regelmäßig traten und treten im Zuge von Epidemien aber auch mentale Abwehrmechanismen auf, die darin bestehen, dass auf diese Gefährdung bezogene Denkinhalte, und damit verbunden auch negative Gefühlslagen, wie sie von derartigen Krisen an sich induziert werden, individuell-mental und kommunikativ-sozial nicht „zugelassen“ werden: Es kommt zur Verdrängung des Erlebten, ja zur Verleugnung dieser bedrohlichen Teile der Realität, anstelle realistischer Auseinandersetzung mit der Gefährdung.
Nicht selten wird das unbewusst weiter vorhandene Bedrohungsgefühl dann re-interpretiert und anderen Ursachen zugeschrieben, insbesondere personalisierten „Schuldigen“, welche dann auch als Objekte der Projektion eigener negativer Affekte dienen können. So erwachsen aus an sich schon gefährlichen Epidemien vielfach zusätzliche, wesentlich durch die menschliche Affektivität bedingte negative Konsequenzen sozialer Spannungen. Analoges gilt für sachlich grundsätzlich adäquate Maßnahmen zur Bekämpfung epidemischer Gefährdungen: Auch diese ziehen, gerade wenn es sich um die Einschränkung sozialer Kontakte zur Infektionsvermeidung handelt, regelmäßig erhebliche negative Folgen nach sich, auf der Ebene des alltäglichen Handelns, speziell im wirtschaftlichen Bereich, ebenso wie im sozialen Kontext. Derartige Maßnahmen zur Seuchenprävention wurden und werden daher geradezu regelhaft sehr kontrovers diskutiert, wie die aktuelle Situation, aber auch die Geschichte der Epidemien zeigen kann. Emotionale Aspekte von Epidemien sind dabei vielgestaltig. Erwähnt seien hier auch die mit konkreten Krankheitserscheinungen verbundenen Schmerzens-, aber auch Ekel-Erfahrungen und der Umstand, dass es offenbar so etwas wie einen „epidemiologischen“ oder „immunologischen“ Ethnozentrismus zu geben scheint, welcher vor allem in den Anfangsphasen eines Seuchenzuges in noch nicht unmittelbar betroffenen Regionen bzw. Gruppen dazu beiträgt, dass viele Menschen die heraufziehende Gefahr verdrängen und Präventionsmaßnahmen nicht rechtzeitig ergriffen werden. Gleichermaßen weisen auch adäquatere Reaktionsformen auf Epidemien wesentlich emotionsbezogene Komponenten auf, das gilt für traditionelles „Gottvertrauen“ ebenso wie für typisch „moderne“ Strategien zur Krisenintervention und Resilienzsteigerung. Von besonderer Bedeutung waren und sind wirksame Methoden emotionaler Selbstregulation dabei für jene Menschen, die – sei es innerhalb persönlicher Beziehungen, sei es berufsbedingt – auch in Zeiten einer Epidemie Sorge für andere tragen, also Care-Arbeit leisten – was die Bedeutung gender- und altersspezifischer Differenzierungen für einschlägige Untersuchungen herausstreicht.
Wir freuen uns über Vortragseinreichungen zu den skizzierten, aber auch zu hier unerwähnt gebliebenen Aspekten des Tagungsthemas „Epidemie und Emotion“.
Derzeit sind folgende thematische Schwerpunkte geplant:
- Kollektivierte Emotion – Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Zeiten von epidemischer Gefährdung
- Individuelle Krankheitserfahrung zwischen Traumatisierung und Resilienz
- Emotion und Pflege/Care
- Emotion und Geschlecht
Im Rahmen einer öffentlichen Keynote-Lecture wird Bettina Hitzer (Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin) zum Thema „Pandemiegefühle. Nutzen und Grenzen einer emotionshistorischen Perspektive“ sprechen.
Bitte senden Sie Vorschläge für Einzelvorträge mit Abstracts im Umfang von ca. 2.000–4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) bis zum 31.12.2021 an: Elisabeth.Dietrich@uibk.ac.at.
Tagungssprachen: Deutsch und Englisch.
Die eingehenden Vorschläge werden vom Organisationsteam gemeinsam mit dem Vereinsvorstand und den Kooperationspartner:innen der Tagung diskutiert und alle Einreicher:innen bis Ende Jänner 2022 über eine Annahme oder Absage informiert.
Die Tagungsgebühr für alle Teilnehmer:innen beträgt 100,00 EUR und deckt anfallende Kosten für Tagungsunterlagen, Führungen sowie Getränke und Imbisse in den Kaffeepausen ab. Studierende und Personen mit geringem Einkommen können bei der Tagungsleitung einen reduzierten Beitrag von 50,00 EUR beantragen.
Die Referent:innen werden im Anschluss an die Tagung eingeladen, eine schriftliche Fassung ihres Vortrags zur Veröffentlichung in einem themenspezifischen Band der vom Verein für Sozialgeschichte der Medizin herausgegebenen Zeitschrift „Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin“ einzureichen. Die Zeitschrift ist durch peer-review qualitätskontrolliert und erscheint jährlich im Print sowie, als Open-Access-Journal, online.
Für die Veranstalter:
Marcel Chahrour
Elisabeth Dietrich-Daum
Marina Hilber
Carlos Watzka
(Organisationsteam)