Die Vergangenheit in der Gegenwart. Historische Vergleiche in zeitgenössischen Demokratiediskursen

Die Vergangenheit in der Gegenwart. Historische Vergleiche in zeitgenössischen Demokratiediskursen

Veranstalter
Prof. Dr. Agnès Alexandre-Collier, Prof. Dr. Nicolas Bonnet, Prof. Dr. Pierre-Paul Grégorio, Prof. Dr. Nathalie Le Bouëdec, Dr. Alix Meyer, Dr. Marine Paquereau (Université de Bourgogne, Forschungsgruppe « Individu & Nation »)
Veranstaltungsort
Université de Bourgogne
Gefördert durch
Centre Interlangues (EA 4182), Université de Bourgogne
PLZ
21000
Ort
Dijon
Land
France
Vom - Bis
20.10.2022 - 21.10.2022
Deadline
28.02.2022
Von
Prof. Dr. Nathalie Le Bouëdec, Université de Bourgogne

Nahezu alle westlichen Demokratien befinden sich in einer tiefgreifenden (Vertrauens-)Krise. Seit einigen Jahren häufen sich in gegenwärtigen Verhandlungen von Demokratie in Europa und auch in den USA gar historische Bezugnahmen auf die historische Vergangenheit. Die interdisziplinäre Tagung will diese Phänomene untersuchen und dabei den Dialog zwischen Ansätzen und Forschungsgegenständen sowohl aus unterschiedlichen nationalen Kontexten als auch aus unterschiedlichen Disziplinen fördern.

Die Vergangenheit in der Gegenwart. Historische Vergleiche in zeitgenössischen Demokratiediskursen

Diese Argumentationsstrategie lässt sich sowohl auf Seiten der Verteidiger der bestehenden Demokratien als auch auf Seiten derjenigen finden, die deren Defizite und Funktionsweise anprangern. In Deutschland haben der Aufstieg der AfD und rechtsextremistische Anschläge (z.B. der Mord an den Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019, antisemitisch motivierte Anschläge in Halle 2019 und in Hanau 2020) Vergleiche mit der Weimarer Republik aufleben lassen. „Querdenker“ schrecken nicht davor zurück, sich bei ihrem Protest gegen die Corona-Maßnahmen auf Sophie Scholl als Symbol des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu berufen. Bereits während der Kampagne zum Brexit Referendum 2016 erreichte die Beschwörung der Zeit des Zweiten Weltkriegs, wie sie im politischen Diskurs, aber auch in der Boulevardpresse immer wieder anklingt, einen neuen Höhepunkt. In den USA klangen nach dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 und begünstigt durch das gesamtgesellschaftliche Klima, in dem die letzten Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben, historische Bezugnahmen auf den Amerikanischen Bürgerkrieg an. In Spanien wird seit 1995/96 und insbesondere seit 2007 eine Debatte um die „historische Erinnerung“, die unter der derzeitigen Regierung zur „demokratischen Erinnerung“ umformuliert wurde, geführt. Sie entstand aus der Annahme heraus, dass die Transición ein „Pakt des Vergessens“ gewesen wäre. Bei der Errichtung des demokratischen Systems – einschließlich der Verfassung von 1978 – wäre die Aufarbeitung der Franco-Diktatur und des Bürgerkriegs vernachlässigt worden. Daraus folgt nicht nur die Forderung nach einer dritten Republik, sondern auch die Ablehnung der parlamentarischen Monarchie und des geltenden politischen Systems. In Italien vergleicht der Philosoph Giorgio Agamben die Einführung von Gesundheitspass und Impfpflicht mit den Ausnahmegesetzen des faschistischen Systems. Paradoxerweise sind jedoch gerade jene Parteien und Bewegungen, die in der Tradition des Faschismus stehen, die vehementesten Widersacher der Gesundheitspolitik der Regierung Draghi und stellen sich als Verteidiger der individuellen und kollektiven Freiheiten hin.

Die interdisziplinäre Tagung will diese Phänomene aus der Perspektive „historisch gewachsener“ Demokratien (Großbritannien, USA) sowie von noch stark durch die Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägten Demokratien (Deutschland, Italien, Spanien) untersuchen. Fallstudien zu Lateinamerika sind ebenso erwünscht.

Ziel ist es zum einen, einen Beitrag zur Erforschung der Erinnerungs- bzw. Vergangenheitspolitik und der Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart – einem hochaktuellen Thema in den Geisteswissenschaften – zu leisten und somit auch die gegenwärtige Krise der westlichen Demokratien besser zu verstehen. Zum andern soll – in der Kontinuität der Arbeit der Forschungsgruppe „Individuum & Nation“ an der Université de Bourgogne – der Dialog zwischen Ansätzen und Forschungsgegenständen sowohl aus unterschiedlichen nationalen Kontexten als auch aus unterschiedlichen Disziplinen gefördert werden. Beiträge aus u.a. der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, den Kulturwissenschaften, Filmstudien, Literaturwissenschaft sowie Linguistik sind daher erwünscht.

Fragestellung

Der Schwerpunkt soll nicht auf die Relevanz der gezogenen historischen Vergleiche gelegt werden, sondern darauf, wie die historischen Bezüge verwendet werden und welche Funktionen sie haben: Wer (welche Bewegungen, welche Medien, usw.) greift auf sie zurück, und das nicht selten auf widersprüchliche Weise? Wie bzw. im Rahmen welcher argumentativen und diskursiven Strategien? Zu welchen Zwecken: um vor Gefahren für die Demokratie zu warnen, um deren Mängel anzuprangern, um die öffentliche Meinung zu mobilisieren? In welchen Kontexten (etwa im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen, im Rahmen besonders emotional aufgeladener Diskurse)? Inwiefern wird die Geschichte je nach bestimmten Interessen um-, wenn nicht gar neugeschrieben? Und was sagt dieser Umgang mit der Vergangenheit schließlich über das Demokratieverständnis sowie über kollektive Erinnerungsprozesse in den betreffenden Gesellschaften aus?

Die Untersuchung solcher Diskurse in verschiedenen nationalen Kontexten führt auch zu der Frage, inwiefern unterschiedliche Erfahrungshorizonte sich auf die gezogenen Vergleiche und die politische Instrumentalisierung der Vergangenheit auswirken, aber auch, inwiefern gemeinsame Strategien und Diskurselemente zu erkennen sind.

Dabei sollen folgende Akteure und Diskurse über Demokratie untersucht werden:

- Diskurse institutioneller Akteure;
- Diskurse politischer Bewegungen, und insbesondere derjenigen, die den aktuellen Zustand der Demokratie scharf kritisieren (AfD in Deutschland, Podemos und Vox in Spanien, Trumps Anhänger in den USA, usw.);
- Mediendiskurse (wobei alle Medienkategorien in Betracht kommen);
- Diskurse von Intellektuellen und Wissenschaftler:innen; diese werden oftmals von den Medien um Stellungnahmen gebeten (so werden in Deutschland immer wieder Historiker über die Relevanz von Parallelen mit den „Weimarer Verhältnissen“ befragt);
- literarische und audiovisuelle Produktionen, wenn sie beispielsweise durch Intrigen, die in der Vergangenheit stattfinden (einschließlich in einer fiktiven Vergangenheit wie im Fall einer Uchronie), auch den Zustand der heutigen Demokratie thematisieren – oder zumindest so gedeutet werden. Interessante Beispiele könnten etwa die seit 2017 laufende deutsche Serie Babylon Berlin, deren Handlung in der Endphase der Weimarer Republik spielt, oder David Simons Miniserie The Plot Against America (2020), die selbst aus einem Roman Philip Roths adaptiert wurde.

Möglich sind sowohl Beiträge, die sich auf einen spezifischen Diskurs konzentrierten, als auch Studien, die den Rückgriff auf die gleichen historischen Bezüge in verschiedenen Diskursen vergleichend analysieren. Transnationale Untersuchungen sind auch ausdrücklich erwünscht.

Bewerbungsmodalitäten

Interessierte Wissenschaftler:innen werden gebeten, Ihren Beitragsvorschlag (ca. 2.000–3.000 Zeichen) samt kurzem Lebenslauf bis zum 28. JFebruar 2022 thematisch unterteilt an eine der folgenden Personen zu senden:

- für die englischsprachigen Länder: Marine Paquereau, marine.paquereau@u-bourgogne.fr
- für den deutschsprachigen Raum: Nathalie Le Bouëdec, nathalie.le-bouedec@u-bourgogne.fr
- für Spanien und Lateinamerika: Pierre-Paul Grégorio, pierre-paul.gregorio@u-bourgogne.fr
- für Italien: Nicolas Bonnet, nicolas.bonnet@u-bourgogne.fr

Beitragsvorschläge von DoktorandInnen und Nachwuchswissenschaftler:innen sind ausdrücklich erwünscht.

Die Beitragsvorschläge können auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch eingereicht werden. Tagungssprachen werden aber nur Französisch und Englisch sein.

Verpflegungs- und Unterkunftskosten werden zurückerstattet.

Eine Veröffentlichung der Beiträge ist vorgesehen.

Kontakt

E-Mail: nathalie.le-bouedec@u-bourgogne.fr

https://til.u-bourgogne.fr/manifestations/colloques-a-venir.html
Redaktion
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Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Französisch
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