Computer und ihre Codes verursachen vermeintlich einen „epistemischen Bruch“ (Schönthaler 2022, 23) hinsichtlich dessen, was Schreiben und Schrift bedeutet. Wenn Programmieren das „wahre digitale Schreiben“ (Bolter 2005, 462) ist, dann meint digitale Schriftlichkeit nicht bloß die digitale Erscheinungsform der Buchstaben- oder Bilderschrift, sondern immer schon den Programmcode unter der Oberfläche, besonders der Benutzerschnittstelle (user interface). Die langfristige Folge könnte sein, dass die Hauptbedeutung der Schrift als eines graphischen Äquivalents menschlicher Rede relativiert wird und an Bedeutung verliert – trotz der massiven Nutzung der Schrift als eines sozialen Kommunikationsmediums in der digitalen Medienkultur der Gegenwart. Ohne jeden medienkritischen Unterton lässt sich sagen, dass die momentane Hypertrophie von Schrift, Bild und Ton im Digitalen von jener anderen Schrift – dem sogenannten Code und seinen Algorithmen – ermöglicht und organisiert wird. Mechanisierung, Automatisierung und selbstlernende Algorithmen lösen den Geist vom Akt des Schreibens, des Lesens und des Übersetzens von Schrift und überlassen viele der mit ihnen verbundenen Vorgänge und Entscheidungen dem Rechner. Nur welche genau?
Auch Code braucht einen Autor/eine Autorin, eine Sprache, in der er verfasst ist, und jemanden oder etwas, der ihn liest. So erscheint eine Leerstelle, die, wie Philipp Schönthaler schreibt, offenlässt, „[…] ob sich Kategorien wie die Agency oder Subjektivität ebenfalls auf der Grundlage formaler Programmiersprachen ausbuchstabieren oder denken lassen oder ob sich diese Problematik nur in der Grammatik und im Vokabular der natürlichen Sprache entscheiden lassen.“ (Schönthaler 2022, 35) Mit „natürlicher Sprache“ ist die menschliche Rede gemeint. Dem gegenüber stehen Programmiersprachen, die sprechen, weil sie funktionieren. Funktionieren heißt dabei meistens, ein Problem lösen. Computerprogramme werden aber nicht nur dafür geschrieben. Code ist „a communication medium“ (Marino 2020, 8), wie Marko C. Marino schreibt, das über jene Problemlösung hinaus geht. Code hat ein Surplus, einen Überschuss, der sich ästhetisch, politisch und ethisch äußern kann. Deshalb ist die Fähigkeit, Code zu lesen, nicht nur eine maschinelle, sondern sollte auch eine literaturwissenschaftliche sein. Lesen meint hier das Untersuchen, Erläutern und Erkunden des Codes nicht nur auf der Oberfläche, sondern gerade auch im Repository (ebd., 16). Und weil Code eine performative Sprache ist, die macht, was sie sagt, wird Code zu einem Akteur, der Verknüpfungen zwischen ihm, Menschen und Maschinen aufzeigt und herstellt.
Roland Barthes’ Lust am Text heißt im Zeitalter digitaler Schriftlichkeit „algorithmic mining.“ (Ebd., 30) Die Parole „Feed, don’t read the Internet“ (Simanowski 2016, 29) macht Code als Text zum dringend zu analysierenden „cultural object of inquiry“ (Marino 2020, 31). Seine Subjekte sind Coder, Hacker und Programmierer:innen; ihre Praktiken Codieren, Programmieren und Prozessieren.
Im geplanten Workshop wollen wir uns der digitalen Schriftlichkeit im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit Code als Schrift und Text, Software und Hardware widmen. Mögliche Themenfelder werden durch diese drei Bereiche kartographiert, aber nicht beschränkt. Beiträge können sich auf folgende Themenfelder beziehen:
1. Geschichte, Ästhetik und technische Bedingungen von Programmiersprachen
2. Literarische Anwendungen von Programmiersprachen
3. Programmierte Literatur zwischen Mechanisierung und Automatisierung
4. Subjekte und Schreibpraktiken des Codes: Hacker, Coder, Programmer
5. Materialität von digitaler Schriftlichkeit und Schrift: Hardware und Plattform-Analysen
6. Virtualität von Schrift im Kontext von neuronalen Netzen, Big Data und Deep Learning
7. Theoriegeschichte von Schrift und Code: Alan Turing, Claude Shannon, Max Bense, Friedrich Kittler und andere
8. Gender und Code/Coding
9. Postkoloniale Perspektiven auf Coding, Programmieren und Schrift hinsichtlich einer „kulturellen Hegemonie des Digitalen“
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Aufgefordert sind nicht nur Literaturwissenschaftler:innen, sondern auch Beitragende aus angrenzenden Fächern wie zum Beispiel der Medien- und Kulturwissenschaft, der Kunstwissenschaft, Soziologie, Digital Humanities und Informatik.
Der Workshop „Digitale Schriftlichkeit“ findet an zwei Freitagen im Dezember, 09.12. und 16.12. 2022, via Zoom statt.
Beitragsvorschläge von einer Länge von maximal 500 Wörtern für 20- bis 25-minütige Vorträge senden Sie bitte zusammen mit bio-bibliographischen Angaben bis zum 31.05.2022 an: mar-tin.bartelmus@hhu.de.
Zitierte Literatur:
Jay David Bolter: Digitale Schrift. In: Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, 453–467.
Mark C. Marino: Critical Code Studies. Cambridge/London 2020.
Philipp Schönthaler: Die Automatisierung des Schreibens und Gegenprogramme der Literatur. Berlin 2022.
Roberto Simanowski: Digital Humanities and digital media. Conversations on Politics, Culture, Aesthetics and Literacy. London 2016.