Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Veranstalter
Prof. Dr. Christoph Nonn (Heinrich Heine Universität Düsseldorf) und Prof. Dr. Hedwig Richter (Universität der Bundeswehr München)
Veranstaltungsort
Heinrich Heine Universität, Universitätsstr. 1
PLZ
40225
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.03.2023 - 24.03.2023
Deadline
24.03.2022
Von
Hedwig Richter, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

CfP: Workshop 23./24. März 2023
Christoph Nonn und Hedwig Richter

Staatsbürgerliche Mentalitäten: Massenpolitisierung und Demokratisierung in Deutschland im internationalen Vergleich 1870-1970

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte in westlichen Gesellschaften eine Politisierung der breiten Bevölkerung ein: Parlamente wurden geschaffen oder bekamen mehr Kompetenzen, das Wahlrecht weitete sich vielfach zu einem allgemeinen Männerwahlrecht, die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht schuf mit der Lesefähigkeit der breiten Bevölkerung die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der Massenpresse und die Zensur wurde gelockert, Massenverbände, Massenparteien und zivilgesellschaftliche Strukturen entwickelten sich. Erste sozialstaatliche Interventionen, die wesentlich die Inklusion unterer Schichten ermöglichten, begannen in dieser Zeit. Die weltweit entstehenden Frauenbewegungen nutzten die neue Öffentlichkeit, ihr Protest wurde hörbar und rief aggressiven Widerstand hervor. In einem widerspruchsvollen Prozess voller Ab- und Einbrüche etablierten sich bis 1970 im nordatlantischen Raum liberale Demokratien.
Diese Tagung will die Entwicklungen aus der Perspektive der Bevölkerung verfolgen, also der „Massen“, wie man sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert oft nannte, die in dieser Zeit zum Subjekt wurden: Gegenstand von Analysen, Utopien und Schreckensszenarien, aber auch Akteur:innen mit politischer Macht. Was bedeutete die Massenpolitisierung und Demokratisierung konkret für die Bürger:innen? Wie verstanden sie ihre Rechte, wie interpretierten sie ihr Verhältnis zum Staat, wie deuteten sie politische Partizipation und Demokratie? Welche Rolle spielten Religion und Identitätszuschreibungen wie Geschlecht, Klasse und Rasse? Zu welchen Exklusionen führten staatsbürgerliche Integrationsprozesse? Inwiefern entsprachen sich Massenpolitisierung und Nationalisierung?
Selbstverständnis und Handlungen von Staatsbürger:innen sollen dabei mit Blick auf vier verschiedene Rollen betrachtet werden:
1) Teilnehmer:in am öffentlichen Diskurs (Keynote: Frank Bösch). Die Massenpresse sprach seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Bürger ebenso an wie die Redner im Parlament oder die sich formierenden Parteien. Was bedeutete die Zeitungslektüre, die Diskussion von Artikeln oder Parlamentsreden für die Menschen in staatsbürgerlicher Hinsicht? Fühlten sich die Menschen dadurch ermächtigt oder eher als Zuschauer:innen?
2) Empfänger:in von sozialstaatlichen Leistungen und Kämpfer:in für soziale Gerechtigkeit (Keynote: Sabine Hering). Die Einführung von staatlichen Sozialversicherungen war nicht zuletzt Folge von Wahlrechtserweiterungen, und die Selbstverwaltungsorgane der Sozialversicherungen schufen neue Möglichkeiten zur Partizipation. Frauen waren von Anfang an in die „soziale Frage“ involviert, in Sozialreformen, im Kampf gegen soziale Ungleichheit, und spielten in den zahlreichen religiösen (christlichen und jüdischen) und sozialdemokratischen Wohltätigkeitsvereinen eine entscheidende Rolle. Zu fragen ist dabei, welche Bedeutung der Sozialstaat in unterschiedlichen Systemen über die Zeit hinweg hatte, wie stark die Loyalität der Bürger:innen davon abhing, aber auch wie wichtig diese Leistungen waren, um Inklusion und Partizipation zu realisieren.
3) Konsument:in und Produzent:in (Keynote: Frank Trentmann). Vieles spricht dafür, dass Massenpolitisierung und Demokratisierung in einem Zusammenhang mit zunehmendem Wohlstand stehen und das staatsbürgerliche Selbstverständnis mit ökonomischer Sicherheit korreliert. Manche Demokratietheorien verwiesen auf die Zusammenhänge kapitalistischer und demokratischer Logik im Hinblick auf Vertragstheorie, Wahlfreiheit oder Konkurrenz. Maß man den Wert von Staatsbürger:innen in der Öffentlichkeit vorher oft nach ihrer Produktivität, wurden sie nach 1945 vielfach primär als Konsument:innen adressiert. Die neue Stabilität der Demokratie in der Nachkriegszeit wurde häufig mit dem ökonomischen Erfolg in Zusammenhang gebracht. Staatliche Stellen betrieben systematisch die „Erziehung“ zur Demokratie und Erziehung zum „rationalen Verbraucher“, häufig lief beides Hand in Hand. Wie weit sahen die Menschen selbst Zusammenhänge zwischen politischer und wirtschaftlicher Sphäre?
4) Mitglied von Organisationen und Teilnehmer:in an Aktionen (Keynote: Paul Nolte). Die reiche Forschung über Parteien- und Vereinsarbeit soll aufgegriffen werden, aber auch über Feste und Masseninszenierungen wie Vereinsfeierlichkeiten, Militärparaden, Wahlkampfveranstaltungen oder faschistische Massenspektakel. Beachtung sollen dabei auch die Kirchen und andere vermeintlich „unpolitische“ Organisationen finden, die häufig für Frauen mehr Zugänge boten als beispielsweise Parteien.
Die genannten Punkte bilden die Sektionen des Workshops. Der Blick auf die Themen soll jene Perspektiven nicht ausschließen, die darüber hinaus gehen und mehrere der Schwerpunkt umfassen. Exposés (1-2 Seiten) können sich auf eine einzelne Epoche (also das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die NS-Zeit oder die frühe Bundesrepublik) konzentrieren. Doch von besonderem Interesse erscheint uns ein zeitlicher Längsschnitt. Neben den Brüchen und Wandlungen sollen nicht zuletzt die Kontinuitäten in den Blick kommen. Auch wenn die Demokratie etwa in Deutschland nach 1933 brutal zerstört wurde und die freiheitliche Demokratie in Kontinentaleuropa um 1940 kaum noch als Alternative galt, so blieben die europäischen Gesellschaften doch Massengesellschaften, und gerade auch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts beriefen sich auf die Legitimation durch das Volk. Exposés mit einem transnational und international vergleichenden Blick sind ebenfalls besonders willkommen.

Kontakt

Exposés bis zum 7.4.22 bitte senden an Prof. Dr. Christoph Nonn, Universität Düsseldorf: nonn@hhu.de.