Kooperationspartner:innen: Institut für die Geschichte der deutschen Juden & Leo Baeck Institute New York
Mit einem großen Ansinnen startete 1966 das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Der Name des Instituts war gleichbedeutend mit der eigentlichen Aufgabe der neugeschaffenen Forschungseinrichtung: Wenige Jahre nach der Shoah galt es, die jüdische Geschichte in Deutschland zu erforschen, um nach „der physischen Vernichtung nicht die geistige der mangelnden Erinnerung und des fehlenden historischen Wissens“ folgen zu lassen – wie es ein Zeitungsartikel zur Gründung des IGdJ 1966 umschrieb.
Dieser Auftrag gilt bis in die Gegenwart. Gleichwohl haben sich die Zugriffe auf die deutsch-jüdische Geschichte in den zurückliegenden Jahrzehnten erheblich ausdifferenziert. Die Diskurse zur Erinnerungskultur und Aufarbeitung, aber auch die Beiträge zur historischen Geschlechter- und Migrationsforschung stehen stellvertretend für die Wandlungsprozesse in Wissenschaft und Gesellschaft, die zur Erweiterung von Forschungsperspektiven und neuen theoretischen Ansätzen geführt haben. An die Stelle eines Masternarratives à la M. I. Jost, H. Graetz oder S. W. Baron traten unterschiedlichste Zugänge, die das Forschungsfeld der deutsch-jüdischen Geschichte erweitert haben und die Vielfalt der Selbstverständnisse sichtbar machen.
Die geplante Konferenz will an diese neuen Perspektiven anschließen, um am Beginn des 21. Jahrhunderts die Ausgestaltung des Deutsch-Jüdischen und dessen Veränderungen bis in die Gegenwart genauer in den Blick zu nehmen. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei zum einen auf das jüdische Leben in Deutschland selbst, das seit den Nachkriegsjahrzehnten maßgeblich durch verschiedene Migrationsbewegungen von und nach Deutschland gekennzeichnet war, wie etwa durch die Transitwanderung von Holocaust-Überlebenden post-1945, die Einwanderung jüdischer Gruppen aus den Staaten des Warschauer Pakts in den 1960er- und 1970er-Jahren oder die Immigration russischsprachiger Jüdinnen und Juden nach 1989. Insbesondere diese letzte, zahlenmäßig große sowie die zwar kleine, aber symbolisch relevante israelische Migration nach der Jahrtausendwende stehen nicht nur für einen grundlegenden demographischen Wandel, sondern auch für eine neue kulturelle und religiöse Vielfalt und fordern dazu heraus, über ein verändertes Verständnis des Deutsch-Jüdischen nachzudenken und danach zu fragen, inwieweit diese Begriffspaarung weiterhin sinnvoll ist.
Denn nicht nur die Anzahl und Größe der jüdischen Gemeinden sind gewachsen, sondern auch die vertretenen Zugehörigkeiten und damit die Bestimmung von „Jüdisch“. Verschiedene jüdisch- religiöse Strömungen haben sich (re-)etabliert und jüdische Schulen und Bildungseinrichtungen wurden neu eröffnet. Gleichzeitig formieren sich neben einem institutionalisierten und gemeinschaftlich-organisierten Judentum neue Räume, in denen vor allem säkulare Jüdinnen und Juden verschiedene Formen von Zugehörigkeit praktizieren und diese selbstverständlich zu Gehör bringen.
Zeichnen sich in diesen Vorgängen Dimensionen eines innerjüdischen Wandels ab, so spiegeln sich darin zum anderen auch Veränderungen wider, die in den zurückliegenden Jahrzehnten die Bedeutung des „Deutschen“ neu bestimmt haben. Vor allem die jahrzehntelang politisch kontrovers geführte Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, hat zahlreiche Konflikte und Diskussionen über die Neubestimmung von Nation, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit ausgelöst. Während die Forderungen von Minderheiten nach gesellschaftlicher Teilhabe und der Anerkennung pluraler Erinnerungsgemeinschaften in einer Migrationsgesellschaft für eine Öffnung des „Deutschen“ jenseits des Nationalen stehen, weisen alte und neue Formen von Antisemitismus und Rassismus sowie die wachsenden rechtspopulistischen Strömungen auf das Bestreben hin, die Kategorie „deutsch“ erneut homogen zu denken und nationalistisch zu schließen.
Die innerjüdischen Veränderungen wie auch die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen veränderten und verändern bis heute nicht nur die Wahrnehmungen und Erforschung der deutsch- jüdischen Geschichte, sondern fordern auch dazu auf, einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Begriffspaarung deutsch-jüdisch am Beginn des 21. Jahrhunderts zu werfen. Insbesondere als ein Institut „für“ die Geschichte der deutschen Juden ist es damit wichtig, eine Art Bestandsaufnahme und Standortbestimmung vorzunehmen und die Frage ins Zentrum zu stellen, was die skizzierten Erweiterungen und Ausdifferenzierungen für die Begriffspaarung „deutsch“ und „jüdisch“ für die Gegenwart und den Blick in die Vergangenheit bedeuten.
Die folgenden angerissenen Themenkomplexe sollen zum Weiterdenken anregen. Sie stellen eine erste Auswahl dar, um eine Diskussion zum Thema „Deutsch-Jüdische Geschichte und Gegenwart“ anzustoßen.
- Was sind die Realitäten, Herausforderungen und Perspektiven auf und für das deutsche Judentum?
- Welche Akteure, Objekte, Räume und Performanzen sind sichtbar/werden wahrgenommen und welche nicht?
- Welche Narrative haben sich post-1945 etabliert und welche alternativen Narrative haben existiert oder wurden verdrängt?
- Welchen Einfluss haben territoriale, ethnische oder diasporische Identitätskonzeptionen und wer gehört damit zur deutsch-jüdischen Geschichte bzw. wer gemeindet wen in die jeweilige Geschichte ein?
- Warum ist für die deutsch-jüdische Geschichte die Idee der Herkunft entscheidend? Sollte nicht auch die Erfahrung eine Rolle spielen?
- Welche nostalgischen Verklärungen der Vergangenheit werden zur Legitimation von In- wie Exklusion herangezogen?
- Wie geht die deutsch-jüdische (Zeit)Geschichte mit dem „Einbruch der Gegenwart“ um? Welche Herausforderungen, Chancen aber auch welche Grenzen der Interdisziplinarität folgen aus der Tatsache, dass neben der Geschichte eine wachsende Zahl an Studien aus den benachbarten Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften Forschungen zu jüdischem Leben/zum Judentum vorlegen?
- Welche Rolle spielt das Beziehungsgeflecht jüdisch-israelisch, aber auch deutsch-israelisch in der Ausformulierung einer deutsch-jüdischen Geschichte?
Bitte senden Sie Ihren Abstract (300 Wörter) und eine Kurzbio bis zum 1. Juni 2022 an karen.koerber@igdj-hh.de und bjoern.siegel@igdj-hh.de. Die Entscheidung über die Annahme der Beiträge erfolgt bis spätestens 15. Juni 2022.
Die Konferenz ist bisher als eine Präsenz-Veranstaltung in Hamburg geplant, was sich aber aufgrund von neuerlich auftretenden Beschränkungen im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie verändern kann.