In der öffentlichen Kommunikation erscheint er als große Ausnahme: ein großer Krieg in Europa, erstmals seit 1945. Angesichts der Kriege um die Auflösung Jugoslawiens während der 1990er-Jahre (einschließlich des NATO-Bombardements und der ersten deutschen Kriegsbeteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg unter einer rot-grünen Regierung) und des fortwährenden Kriegs der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung ist dies nicht ganz zutreffend. Dennoch verweist die jetzt viel berufene „Zeitenwende“ auf die Notwendigkeit und Herausforderung, das globale Gewaltregime neu zu reflektieren.
Offensichtlich sind Kriege in anderen Weltregionen als im größten Teil Europas, in Nordamerika, in Ostasien und Ozeanien während der vergangenen Jahrzehnte in viel stärkerem Maße Normalität gewesen, als dies im öffentlichen Bewusstsein zumal in Deutschland ernsthaft wahrgenommen wurde. Oder sie wurden zwar wahrgenommen, aber ein Krieg im vermeintlich zivilisierten Europa wird gänzlich anders bewertet: eben nicht als Normalität, sondern als „Zeitenwende“. Ein Ausdruck dieses Umstandes ist aktuell das anhaltende, deutliche Ungleichgewicht zwischen der Wahrnehmung der Schrecken des Krieges in der Ukraine einerseits, im Jemen andererseits. Die Lieferung auch deutscher Waffen an Parteien in diesem Krieg, zumal an Saudi-Arabien oder auch Ägypten unterstreicht dies. Zu dieser nach wie vor in den Hintergrund der öffentlichen Kommunikation gedrängten Wirklichkeit gehören auch die Orientierung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze und die Erfahrungen damit, die auch für diejenigen nicht ermutigend sein können, die sich einer grundlegenden Kritik verweigern. Die Zusammenhänge zwischen der militärischen Intervention wichtiger westlicher Staaten – freilich nicht Deutschlands – 2011 in Libyen und dem darauffolgenden Gewaltgeschehen in der Großregion Sahara sind dafür ein zentrales Beispiel. Dies gilt insbesondere angesichts aktueller Zuspitzungen, die mit dem quasi-offiziellen Scheitern zentraler Aspekte der europäischen Mali-Einsätze, dem Vordringen auch militärisch agierender islamistischer Gruppen und dem Auftreten der Gruppe Wagner, die anscheinend im russischen Auftrag handelt, schlaglichtartig, wenn auch unvollständig benannt werden können. Letztere Dimension verknüpft exemplarisch das Kriegsgeschehen sowohl in wesentlichen Teilen Afrikas wie im Nahen Osten unmittelbar mit dem Krieg in der Ukraine. Und sie erinnert auch daran, dass Parteien in Kriegen und Konflikten eben nicht nur Staaten, sondern Gruppierungen wie Terrorgruppen, Paramilitärs oder Söldner sind. Ihr Agieren speist sich oftmals aus einem Mix aus ideologischen, religiösen und ökonomischen Motiven.
Eine weitere Dimension des Kriegs gegen die Ukraine betrifft das Abstimmungsverhalten einiger wichtiger Staaten des Globalen Südens – neben China und Indien ein Großteil der afrikanischen Staaten – in den UN-Gremien und damit ihre Positionierung zu diesem Konflikt und hier implizierte Bündnisse. Die Enthaltung in der UN-Generalversammlung hat u.a. eine lebhafte Debatte in Südafrika ausgelöst – u.a. über die Frage, mit welchem der Staaten, die beide Teil der den Anti-Apartheids-Kampf unterstützenden Sowjetunion waren, man nun verbunden sein sollte. Übergreifend stellen sich auch Fragen an die mit dem Wechsel im deutschen Außenministerium angekündigte feministische Außenpolitik. Diese, wie auch postkoloniale, antirassistische und antinationalistische Perspektiven auf Weltpolitik, sehen sich in der Defensive. Ihnen wird in Zeiten der Forderung nach Wehrhaftigkeit und der Orientierung auf starke Männer fehlende Eindeutigkeit und pazifistische Naivität vorgeworfen.
Ein weiterer besorgniserregender Aspekt ist das offene racial profiling durch ukrainische, polnische und deutsche Behörden im Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Dass Menschen die Flucht aus einem Kriegsgebiet entlang rassistischer Einteilungen ermöglicht, erschwert oder verunmöglicht wird, verursacht mehr als einen bitteren Beigeschmack in der derzeit viel beschworenen Solidarität in Europa. Die Ungleichheit, mit der Geflüchtete konfrontiert werden, zeigt sich am anhaltenden mörderischen Regime im Mittelmeer und sinnbildlich an der Willkommenskultur gegenüber weißen Ukrainer:innen in Polen einerseits, der im Bau befindlichen Mauer an der Grenze Polens zu Belarus andererseits.
Neben der Beschreibung der Zusammenhänge und dem Bemühen, sie zu systematisieren und zu verstehen, stellt uns der Umschlag in der öffentlichen Diskussion in Deutschland hin zu einer positiven Besetzung der Militarisierung von Politik, kommuniziert als „Zeitenwende,“ auch vor die Notwendigkeit grundlegender Überlegungen zu Krieg und Frieden. Diese Thematik hat die PERIPHERIE immer wieder beschäftigt, angefangen von der kritischen Auseinandersetzung mit bewaffneten Befreiungskämpfen und ihren Folgen bis hin zu Weichenstellungen wie dem Zweiten Golfkrieg (Nr. 42 [1991]), von Fragen der Intervention und Besatzung (Nr. 55/56 [1994]; Nr. 79 [2000]; Nr. 84 [2001]; Nr. 116 [2009]) über die Folgen des Terroranschlags vom 11. September 2001 (Nr. 88 [2002]) und Grundfragen der „Sicherheit“ (Nr. 122/123 [2011]) bis hin zur Fragestellung von „krieg macht geschlecht“ (Nr. 133 [2013]) und nicht zuletzt immer wieder zur Erfahrung mit der Besetzung Afghanistans ab 2001/02.
Die katastrophale Zuspitzung im Osten Europas stellt gewiss diese Debatten auf den Prüfstand, diese können jedoch auch umgekehrt zu einer Einordnung helfen, die eurozentrisches Denken konterkariert, also auch fragt, was so anders ist an dieser jetzt in Europa virulenten Situation gegenüber den andauernden Kriegen im Globalen Süden. Die viel unmittelbarere Gefahr eines alle vernichtenden Atomkrieges ist zweifellos ein eklatanter und bedenkenswerter Unterschied gegenüber den zahlreichen „Stellvertreterkriegen“ der Vergangenheit. Eine andere Fragestellung betrifft die Bedeutung des Imperiums und kolonialer Herrschaft für die (einstige) Machtsphäre des Zarismus und der Sowjetunion. Zugleich sind aber auch Fragen neu zu bedenken, die die oben angesprochenen Konflikte immer begleitet haben. Sie betreffen die zumal durch den Kosovo-Krieg 1999 entschieden aufgeworfene Frage des Völkerrechts, seiner Geltung und Durchsetzung ebenso wie Möglichkeiten und Formen regionaler Friedensordnungen, die seit Langem nicht nur für Europa, sondern etwa auch für die WANA-Region (Westasien und Nordafrika) diskutiert werden – wie wir gerade aktuell wissen, mit allzu geringem praktischem Erfolg. Dennoch bleibt diese Debatte notwendig. Weiterhin grundlegend bleiben auch Fragestellungen, die lange unter den Stichworten „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ diskutiert wurden, wobei sich auch in Beiträgen in der PERIPHERIE als strittig erwies, welche Antworten auf die Fragen von Krieg und Frieden der einen oder der anderen Seite zuzurechnen wären.
Für ein Heft, das auf die aktuelle Zuspitzung reagiert, sind uns Beiträge (ausführliche Artikel und kürzere, nicht begutachtete Diskussionstexte) zu den folgenden Themen besonders willkommen:
- regionale Friedensordnungen als realistische Perspektive
- wer Frieden will, muss Frieden machen – oder den Krieg vorbereiten?
- ethische Fragen nach Krieg und Frieden
- Globalisierung von Kriegsgeschehens und Kriegsfolgen
- die Kriege in der Sahara und ihre überregionalen Gründe und Auswirkungen
- Folgen der Regionalkriege in der WANA-Region
- Strategien von Staaten des Globalen Südens angesichts der Konfrontation in Europa
- feministische Außenpolitik auf dem Prüfstand
- Eurozentrismus in der Konfliktwahrnehmung
- der Ukraine-Krieg und das internationale Migrationsregime – Diskriminierung zwischen Geflüchteten
- russischer Imperialismus: osteuropäische Perspektiven
- unterschiedliche Kommunikationen/Kommunikations- und Bildstrategien der Kriege – wozu dienen sie
Redaktionsschluss für Artikel ist der 31. August 2022.
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