Ich esse kein Fleisch! Ich lasse mich nicht impfen! Ich fliege nicht mehr! In unserer „Multioptionsgesellschaft“ ist es zunehmend eine Option, sich dem Handeln und Mittun zu verweigern, nicht selten in dezidierter und sozial demonstrativer Weise, die sich von früheren Mustern des sozialen „Ausstiegs“ oder der Sonderregeln z.B. religiöser Vergemeinschaftung unterscheidet. Solche „Praktiken der Negation“ können als Signum des frühen 21. Jahrhunderts gelesen werden und markieren einen Unterschied zu den Protestformen der klassischen Moderne, die auf Inklusion zielten: „Auch ich will!“, nicht „Ich nicht – und ihr sollt auch nicht!“
Diese These möchten wir im Rahmen von „Eine Woche Zeit“ vom 10. bis 14. Oktober 2022 auf Gut Siggen diskutieren. Für die Teilnehmer:innen ist Kost und Logis kostenfrei; die Reisekosten müssen selbst getragen werden. Die Bereitschaft zur Teilnahme an der gesamten Dauer wird erwartet, obgleich das Programm Raum lässt für universitäre Verpflichtungen kurz vor Semesterbeginn. Für die Teilnahme mit Kind und/oder Partner:innen gibt es begrenzte Möglichkeiten.
Unter „Praktiken der Negation“ verstehen wir bewusste Verhaltensäußerungen, die sich gegen gesellschaftliche Normen richten, indem sie sich deren Einhaltung kommunikativ und demonstrativ verweigern. Diese können radikal subjektivierend für sich selbst sein oder appellativ an die Gesellschaft adressiert. Das Ziel dieser Handlungen ist es, Normen zu verändern und die soziale Ordnung neu zu konfigurieren. Beispiele sind das Nicht-Arbeiten als Kritik an Arbeitsbedingungen, das Nicht-Essen (Hungerstreik) als politische Protestform, Nicht-Gebären als weibliche Ermächtigung. Welche Motivationen stehen hinter Praktiken des Nicht-Tuns? Beschreiben die Phänomene im Gegensatz zu Protestformen der klassischen Moderne einen neuen Aushandlungsraum, der Verhalten ändern will, statt revolutionär ein System zu stürzen? Fordern sie die gesamte Gesellschaft deshalb so heraus, weil sich ihre Vertreter:innen nicht in Gegenöffentlichkeiten absondern, sondern die Mainstream-Ordnung verändern wollen?
Das Muster hinter den Einzelbefunden des Nicht-Tuns wurde bislang kaum diskutiert. Zugleich gibt es historische Spuren, die in dieses Muster führen: Wenn nicht der Zölibat, dann die Kriegsdienstverweigerung, der Konsumentenboykott, das Nicht-Wählen. Die „Praktiken der Negation“ als dominierendes Gegenwartsphänomen laden zum interdisziplinären Austausch zu seinen historischen, politischen und kulturellen Dimensionen ein. Wie und wodurch etablierte sich historisch das Nicht-Tun als demonstrative Praxis, woher kommt seine gegenwärtige Wirkmächtigkeit, und welchen Einfluss entfaltet es als Protestform in der Zukunft?
Während der Seminarwoche wollen wir in Vortrags- und Diskussionsformaten die Tragfähigkeit des Konzepts der „Praktiken der Negation“ testen und seine möglichen Pfade gemeinsam erkunden. Dafür suchen wir Teilnehmer:innen, die sich mit einem eigenen Beitrag (mündliches Referat auf der Tagung und kürzerer schriftlicher Diskussionsvorlage) aus den Bereichen Politik, Arbeit, Körper, Konsum, Glaubensfragen und anderen mehr an der Diskussion beteiligen möchten. Interessensbekundungen mit einem Abstract von nicht mehr als 300 Wörtern und einer kurzen biografischen Skizze werden erbeten bis zum 20. Juni 2022 an: norman.aselmeyer@uni-bremen.de. Zusagen werden Mitte Juli verschickt.