Doing kinship by doing law? Zur Alltagsbedeutung von Recht in verwandtschaftlichen Kontexten

Von
Felix Gaillinger

Digitale Tagung des Instituts für Europäische Ethnologie
Wien, 09. Dezember 2022 bis 10. Dezember 2022.

Doing kinship by doing law? Zur Alltagsbedeutung von Recht in verwandtschaftlichen Kontexten

Wir freuen uns über Einreichungen bis zum 29. Juli 2022!

Das festgeschriebene Gesetz, so bereits ein früher Begründer der Rechtssoziologie, sei eine „Form der Herrschaft des Toten über den Lebenden“ (Ehrlich 1913: 323).

Was im ersten Moment die definitive Deckungsungleichheit von abstraktem und daher totem Recht und eigentlichen Rechtsbedürfnissen der Lebenden behauptet, zielt im Kern auf eine zentrale ethnographische Perspektive ab: Es geht um das Bewusstsein dafür, dass rechtlich normierte Handlungsideale und die tatsächlich gelebte Alltagspraxis im Umgang mit dem Recht nicht unbedingt reibungslos miteinander vereinbar sind (Bourdieu 1987).

Sichtbar werden solche Deckungsungleichheiten im „überaus doppelbödige[n] Instrument der Interessensdurchsetzung“ (Binder 2018: 58) beispielsweise in konflikthaften Momenten, in denen um die Deutungshoheit über rechtliche Ansprüche gerungen wird. Im Unterhaltsstreit gegen ihre Eltern etwa versuchen junge Volljährige, ihren subjektiv wahrgenommenen Rechtsanspruch unter Rückgriff auf Regelbrüche und Emotionspraktiken (Scheer 2016) durchzusetzen, um die Verweigerungshaltung zu überwinden. Dezidiert vaterstaatliche, geschlechterhierarchische und klassistische Aktivierungslogiken der gesetzlichen Regelungen strukturieren, öffnen und schließen Handlungsräume (Gaillinger 2022).

Zunehmend entstehen an der Schnittstelle von family- / kinship studies und Rechtsanthropologie Forschungen, die aufzeigen, wie sich familiäre und verwandtschaftliche Verhältnisse entlang des Rechts konstituieren, beispielsweise in familialer Generationensorge im Alter(n) (Retkowski 2011), in lebensweltlichen Annäherungen an Vereinbarkeitsdilemmata von Alleinerziehenden (Jochim 2020) oder auch der rechtlichen Regulierung der 24‑Stunden-Pflege in Österreich (Kretschmann 2019).

Um beim Sprechen von Familie und Verwandtschaft einen „Begriffsschematismus, der die Sicht auf Feinstrukturen behindert“ (Hartmann 1988: 103), zu vermeiden, wurden Appelle an eine stärker praxeologische Ausrichtung mittels der Konzepte doing family und doing kinship laut (vgl. Knecht 2009; vgl. Jurczyk 2018). Neben einer Synopse von historischen und gegenwartsbezogenen ethnologischen Zugängen schlägt Elisabeth Timm (2011) vor, sich auf Arten und Weisen der Verbundenheit und der Lebensform in den Familien zu fokussieren.

Diese Arten und Weisen werden auch vor dem Hintergrund von und im Umgang mit rechtlichen Regelungen greifbar. Unter der Leitfrage Doing kinship by doing law? möchte sich die digitale Tagung der Alltagsbedeutung von Recht in verwandtschaftlichen Kontexten dezidiert praxisorientiert annähern und inhaltlich-analytisch sowie programmatisch und methodologisch zu einer konkreteren Bestimmung der gegenseitigen Bedingtheit von kinship- / family studies und Rechtsanthropologie beitragen.

Mögliche Zugänge:

- Wie konstituiert sich Familie als Herstellungsleistung (Jurczyk 2018) entlang von rechtlichen Regelungen? Welche Vereinbarkeitsleistungen werden erbracht, um rechtliche Regelungen mit innerfamiliären Logiken zu harmonisieren? Wie wird mit Recht als „Kosmos abstrakter, normalerweise: absichtsvoll gesatzter Regeln“ (Weber 1964: 166) in familiären Alltagen und verwandtschaftlichen Beziehungen umgegangen? Was bedeutet doing law in diesen Fällen konkret?

- Wen adressieren rechtliche Regelungen (nicht)? Welche Strukturen und Formen von Familie und Verwandtschaft werden anerkannt, welche hingegen ausgeschlossen? Welche Rolle spielen dabei Faktoren wie class, race, gender und weitere Sozialkategorien? Entlang welcher Familienbilder öffnen und schließen rechtliche Regelungen Handlungsräume?

- Wie gestalten sich verwandtschaftliche Alltagspraktiken in Unterhaltskonflikten, Scheidungsstreitigkeiten, Adoptionsfragen, Erbrechtsstreit, Ehevertragsabwicklungen und weiteren? Welche Rolle spielen (staatliche) Institutionen, die in diese Aushandlungsprozesse eingebunden werden?

- Welchen Beitrag kann eine praxeologische Familien- und Verwandtschaftsforschung in Feldern des Alltagsrechts dazu leisten, den familienbegrifflichen „[S]chematismus, der die Sicht auf Feinstrukturen behindert“ (Hartmann 1988: 103) zu überwinden? Wie können Rechtsanthropologie, kinship- und family studies voneinander profitieren?

- Mit welchen Begriffen von familiärer und verwandtschaftlicher Solidarität, Gemeinschaft, Verantwortung, Familie und Generationalität arbeiten rechtliche Regelungen?

Call for Papers:

Abstracts im Umfang von bis zu 300 Wörtern zuzüglich einer biographischen Kurznotiz von bis zu 100 Wörtern werden bis zum 29. Juli 2022 angenommen. Bitte schicken Sie eine entsprechende PDF-Datei an felix.gaillinger@univie.ac.at. Zu- und Absagen werden bis zum 10. August 2022 verschickt.

Ihr deutsch- oder englischsprachiger Vortrag sollte einen Umfang von 20 Minuten nicht überschreiten. In begründeten Fällen sind Ausnahmen möglich, etwa für Podiumsdiskussionen, Workshops und andere Formate. Bitte teilen Sie dies in Ihrer Bewerbung gegebenenfalls mit.

Die Konferenz möchte den interdisziplinären Austausch fördern. Ausdrücklich zur Einreichung eingeladen sind nicht nur Vertreter:innen des Vielnamenfachs Europäische Ethnologie / Empirische Kulturwissenschaft / Volkskunde / Kulturanthropologie et al., sondern explizit auch jene der historisch arbeitenden, sozial- und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und weitere. Nachwuchswissenschaftler:innen sind herzlich zu Einreichungen ermutigt.

Eine Publikation der Tagungsbeiträge wird grundsätzlich angestrebt.

Kontakt

Felix Leopold Gaillinger, M.A.
Institut für Europäische Ethnologie
Universität Wien
Hanuschgasse 3
Ö – 1220 Wien
E-Mail: felix.gaillinger@univie.ac.at

https://euroethnologie.univie.ac.at/einzelansicht/news/call-for-papers-doing-kinship-by-doing-law/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=29e8aca9605b973b3d915f752aac193c