In der Diskussion um rechtspopulistische und rechtsextreme Politik und Aktivitäten wird die historische Kontinuität rechtsextremen Denkens und Handelns wenig thematisiert. Das rechtsextreme Milieu wird häufig als etwas Fremdes und außerhalb der Gesellschaft und ihrer grundlegenden politischen Kultur Stehendes verstanden. Noch augenfälliger galt dies für die DDR, die aus dem Antifaschismus ihre politische Legitimation bezog. Zugleich zeigt sich in den aktuellen Wahlkämpfen in Europa immer deutlicher, dass ein erhebliches Stimmenreservoir für rechtsextreme, nationalistische Parteien gibt. Diese oft populistischen Bewegungen lediglich als „Betriebsunfälle“ zu interpretieren, verkennt die vielfältigen historischen Kontinuitäten im rechtsextremen Milieu ebenso wie soziale Brüche und ideologische Neuausrichtungen.
Eine Gesellschaftsgeschichte des Rechtsextremismus zu entwerfen, mit einem vergleichenden Blick auf Entwicklungen in Europa, ist daher ein lohnender Ansatz, um diese politische Bewegung stärker zu kontextualisieren und vor allem zu historisieren. Eine solcher Ansatz fragt nicht nur nach den Entwicklungen und Hintergründen des politisch marginalisierten rechtsextremen Milieus, sondern auch nach tieferliegenden Einstellungen und vor allem nach gesellschaftlichen Bedeutungen und Funktionen des Rechtsextremismus. Dabei wird auch erkennbar, dass bereits der Begriff viele unterschiedliche Aufladungen hatte. War Rechtsextremismus in den 1950er-Jahren das Gleiche wie heute? Wer entwarf Zuschreibungen, wie wurden Kategorien und Kriterien definiert? In welchem Verhältnis standen Fremd- und Selbstzuschreibungen? Nicht zuletzt ist an dieser Stelle auch zu analysieren, welche Rolle Beobachter politischer Bewegungen für die Begriffsverständnisse spielten.
Hinsichtlich der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit Rechtsextremismus sind staatlich-institutionelle und politische Ausführungs- und Entscheidungsgruppen ebenso bedeutsam wie zivilgesellschaftliche Akteure, Gruppen ehemals Verfolgter oder von rassistischer Gewalt und Diskriminierung Betroffener. Wer beteiligte sich am gesellschaftlichen Diskurs über Rechtsextremismus, welchen Deutungen dominierten und welche wurden ausgegrenzt? Welche Funktionen nahm der Rechtsextremismus im politischen Selbstverständigungsdiskurs Deutschlands ein – auch jenseits der deutsch-deutschen Auseinandersetzung? Wie wurde er beobachtet und eingeordnet? Dies ließe sich beispielsweise im Kontext von Wahlen näher analysieren, deren Ergebnisse auch die Konjunkturen der Beobachtung und Erforschung mitbestimmten. Hier sind vielfache Verschiebungen und Erweiterungen im historischen Verlauf zu beobachten. Zudem internationalisierten sich Rechtsextremismus und Rechtspopulismus nach 1945 und vernetzten sich überdies transnational.
Ausgehend von diesen Fragen will das Archiv für Sozialgeschichte die historische Genese, Wandlungen, Bedeutungen und gesellschaftliche Funktionen von Rechtsextremismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert erkunden. Dazu sind Beiträge zum Rahmenthema gewünscht, die sich an folgenden Aspekten orientieren können:
Sozial- und Gesellschaftsgeschichte
Ein dezidiert sozialhistorischer Blick auf das Phänomen Rechtsextremismus soll Beiträge zu einer gesellschaftshistorischen Analyse ermöglichen: Wer waren die Träger rechtsextremer Politik oder rechtspopulistischer Aktionen? Lassen sich historische Veränderungen im rechtsextremen Milieu seit 1945 feststellen und welche Ursachen können dafür genannt werden? Gab und gibt es überhaupt so etwas wie ein „Milieu“ oder ist der Rechtsextremismus mit anderen Kategorien besser zu erfassen? Wie lassen sich Selbstbeschreibungen und Produkte des Rechtsextremismus für die wissenschaftliche Analyse nutzen? Trifft die geläufige Annahme zu, dass der Rechtsextremismus vor allem in spezifischen sozialen Verhältnissen Zuspruch findet? Inwiefern lassen sich dazu aus zeithistorischen empirischen Studien Schlüsse ziehen? Und wie finanzierte sich der politische und terroristische Rechtsextremismus? Hier wären Untersuchungen zu unternehmerischen bzw. wirtschaftlichen Verflechtungen und deren Bedeutung für die Weiterentwicklung in Richtung einer Professionalisierung und Internationalisierung wünschenswert ebenso wie Analysen der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation des Rechtsextremismus.
Europa und Nordamerika
Eine räumliche, hier vorrangig europäische und nordamerikanische Perspektive einzunehmen, erscheint uns notwendig, um nationale „Sonderheiten“ ebenso herauszuarbeiten wie übereinstimmende rechtsextreme Haltungen und Politiken: Auf welchen nationalen Traditionen und Kontinuitäten bauten rechtsextreme Politiken nach 1945 auf? Wo wurden aber auch Brüche sichtbar oder gar notwendig, um gesellschaftliche Zustimmung zu erreichen? Welche Rolle spielten Vorstellungen von Europa und europäischer Zusammenarbeit? Welche Formen von Rechtsextremismus entstanden in West- und in Osteuropa? Welche Formen transnationaler rechtsextremer Zusammenarbeit sind zu beobachten, etwa hinsichtlich rechtsterroristischer Strategien?
Vergleich
Rechtsextremismus baut historisch auf verschiedenen nationalen Kulturen auf, weist aber auch übernationale Merkmale im Denken und in Politikstilen auf: Wie lassen sich systematische Vergleiche, etwa mit Blick auf Trägergruppen oder Aktivitäten, durchführen? Wie steht es mit Quellen zur Geschichte des Rechtsextremismus in Europa? Ist es sinnvoll, historische Vergleiche zwischen rechtsextremen Politiken in unterschiedlichen Kontinenten zu ziehen?
Reaktionen
Im gesellschaftlichen Diskurs über Rechtsextremismus spielen Gegner:innen, Justiz, Polizei sowie andere Akteure eine zentrale Rolle. Sie bestimmen mit, wer wann und warum als rechtsextrem eingeschätzt wird: Wie reagierten staatliche Organe und Zivilgesellschaft in Europa auf rechtsextreme Aktivitäten? Wie wurde überhaupt Wissen über Rechtextremismus generiert, mit welchen Folgen? Was galt wann als rechtsextrem? Welche Gruppen traten gegen rechtsextreme Politik und Haltungen auf; mit welchen Mitteln? In welcher Form organisierten sich von rechtsextremer Gewalt und Hetze betroffene Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Auseinandersetzungen mit Faschismus und Nationalsozialismus und Konjunkturen des Rechtsextremismus erkennen?
Auf einer Tagung, die am 29/30. September 2022 von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin ausgerichtet wird, möchten wir Beitragsideen, Themenangebote und gemeinsame Fragen des hier skizzierten Rahmenthemas der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte 63 (2023) entwickeln. Wir laden alle Interessierten ein, uns bis zum 30. Juni 2022 Vorschläge einzureichen (E-Mail an afs@fes.de). Sie sollten 3.000 Zeichen nicht überschreiten und können, ebenso wie die Vorträge auf der Tagung und die späteren Texte für den Band, auf Deutsch oder Englisch verfasst werden. Die anschließend von der Redaktion für den Band ausgewählten Beiträge im Umfang von etwa 60.000 Zeichen müssen bis zum 31. Januar 2023 fertiggestellt werden.