Shoah als europäisches Projekt? Neue Täterforschung in transnationaler Perspektive

Die Shoah als europäisches Projekt? Neue Täterforschung in transnationaler Perspektive

Veranstalter
Deutsches Historisches Institut, Paris
PLZ
75003
Ort
Paris
Land
France
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
14.03.2023 - 16.03.2023
Deadline
24.07.2022
Von
Agnieszka Wierzcholska, Deutsches Historisches Institut Paris

Shoah als europäisches Projekt? Neue Täterforschung in transnationaler Perspektive

Call for Papers für die internationale Tagung: "Die Shoah als europäisches Projekt? Neue Täterforschung in transnationaler Perspektive". Internationale Konferenz am Deutschen Historischen Institut, Paris, Daten: 14.-16. März 2023, Deadline für den Call for Papers 24.Juli 2022

The Shoah as a European Project? New Perpetrator Research in a Transnational Perspective"

Call for Papers for the Conference "The Shoah as a European Project?
New Perpetrator Research in a Transnational Perspective"
Internationale Conference at the German Historical Institute, Paris
14 - 16. March 2023
Deadline for the Call for Papers: July 24th, 2022

Die Shoah als europäisches Projekt? Neue Täterforschung in transnationaler Perspektive

Inwiefern die Shoah als ein europäisches Projekt zu verstehen ist, fragten jüngst so prominente Holocaust-Forschende wie Mary Fulbrook und Thomas Sandkühler. Die Deutschen waren seit der nationalsozialistischen Machtübernahme die Vordenker und Praktiker einer systematischen Diskriminierung, Ausgrenzung und schließlich Ermordung der Juden in Deutschland. In den Kriegsjahren waren die deutschen Besatzer unbestritten die Initiatoren, Architekten und Vollstrecker der Judenvernichtung in Europa. Doch überall fanden sie Helfershelfer und Partner bei der Ghettoisierung, Deportation und Ermordung von Juden. Während es bereits wichtige Studien zur Mittäterschaft in einzelnen besetzten Ländern gibt, fehlt bislang ein interpretatorischer Rahmen, mit welchem die Verstrickung in die Shoah als transnationales Phänomen beschrieben und erklärt werden kann. Denn obschon die Holocauststudien in den letzten Jahrzehnten zunehmend internationaler geworden sind, wird in diesem so prominenten Forschungsfeld das Instrumentarium der transnationalen Geschichte (d. h. die Frage nach Transfers von Wissen und Praktiken, der systematische Vergleich, die Suche nach einem übergeordneten interpretatorischen Rahmen) wenig genutzt, wenn es um die (Mit-)Täterschaft nichtdeutscher Gesellschaften geht. Die Tagung will dazu beitragen, die europäische Dimension der Täterschaft während der Shoah konzeptionell, komparatistisch und begrifflich zu erfassen, um nach den Möglichkeiten einer shared oder entangled history auf diesem Feld zu fragen.

Themen und Forschungsfragen
Eine Beschäftigung mit den Formen der Verstrickung in die Shoah muss die unterschiedlichen Ausprägungen der deutschen Besatzungsregime bzw. der Zusammenarbeit in verschiedenen Teilen Europas Rechnung tragen. Die Menschen agierten innerhalb unterschiedlicher Handlungsrahmen, die von den Deutschen als den Vollstreckern des Massenmords an den europäischen Juden gesetzt wurden.

Unter Berücksichtigung solcher unterschiedlichen Kontexte und der deutschen Verantwortung soll während der Tagung nach Vergleichen, Verflechtungen sowie möglichen Transfers von Wissen und Praktiken in europäischer Perspektive gefragt werden. Grundsätzlich muss zunächst herausgearbeitet werden, welche Phänomene, Gruppen oder Institutionen sich überhaupt für einen Vergleich oder die Untersuchung von Transferprozessen eignen, wenn wir die unterschiedlichen Besatzungsbedingungen und Formen der politisch-staatlichen Zusammenarbeit in den besetzten Gesellschaften Europas als Ausgangspunkt nehmen. Die Verständigung darüber kann Desiderate sichtbar machen und eine zukünftige Forschungsagenda setzen.

In einem weiteren Schritt soll die Konferenz der Frage nachgehen, inwiefern und wie die deutschen Täter bewusst die lokale Bevölkerung, Institutionen und Verwaltungen in den Völkermord an den Juden verstrickten. Wie effektiv war diese Strategie in verschiedenen Regionen und Kontexten? Darüber hinaus verfolgten die Besatzer eine Minderheit, die bereits vor dem Krieg in den besetzten Ländern stigmatisiert war: Welche Bedeutung kam also antisemitischen Praktiken und Diskursen aus der Vorkriegszeit zu?

Berücksichtigt man die Rahmenbedingungen deutscher Besatzung, welche Formen der Kooperation und Zuarbeit lassen sich jeweils ausmachen? Verschiedene Kategorien von nichtdeutschen Tätern möchten wir im Rahmen der Konferenz diskutieren:
- Partner bei Massenverbrechen, die Juden auf eigene Initiative ermordeten (z. B. rumänische Armee),
- Europäer in deutschen mobilen Tötungseinheiten und in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ (z. B. Trawniki-Männer),
- lokale Täter und Polizeikräfte, die unter deutschem Kommando standen,
- Kooperationspartner (z. B. Polizeikräfte, Institutionen, Verwaltungen und Gendarmerie in verschiedenen europäischen Ländern) – nicht unter deutschem Kommando,
- Zivilbevölkerung, Denunzianten, Nutznießer der „Arisierung“,
- Untergrundeinheiten (Widerstand gegen die Deutschen und zugleich Täter gegenüber den Juden).

Unser Ziel ist es, uniformierte Einheiten, Zivilverwaltungen und andere Institutionen in einer vergleichenden und transnationalen Perspektive zu untersuchen: z. B. die Rolle der einheimischen Polizei, der Feuerwehren, des Baudienstes, der unteren Zivilverwaltung oder der Kirche. Wie können wir diese Institutionen länderübergreifend vergleichen? Inwieweit spielte die Aneignung von jüdischem Eigentum durch die Einheimischen eine Rolle bei der Art und Weise, wie sie in die Morde verwickelt wurden? Lässt sich die Denunziation von Juden in verschiedenen Ländern vergleichend beschreiben (was Häufigkeit, administrative Verfahren, gesellschaftliche Normen angeht)? Unweigerlich stellt sich die Frage nach der Gleichzeitigkeit verschiedener Phänomene: Inwieweit waren nichtdeutsche Täter gleichzeitig Opfer der deutschen Besatzung oder am Widerstand beteiligt – und wie waren Täterschaft, Opferstatus und Widerstand gegebenenfalls miteinander verknüpft?

Zentral ist schließlich auch der Wechsel der Perspektive: Betrachteten die jüdischen Opfer ihre Verfolgung als ein europäisches Phänomen, bei dem sie keine Verbündeten hatten, und wie beschrieben sie selbst ihre Situation in den Besatzungsgesellschaften? Wie nahmen sie die Radikalisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und -praxis sowie das Verhalten der lokalen Bevölkerung wahr? Wie zirkulierte das Wissen über die Shoah unter den Juden in Europa?

Unser Ziel ist es ausdrücklich, Konzepte, Begriffe und methodische Ansätze während der Konferenz auf den Prüfstand zu stellen. Der in der Forschung sehr umstrittene und dennoch häufig verwendete Begriff der Kollaboration muss als analytische Kategorie hinterfragt werden. Brauchen wir eine neue „Kollaborationsforschung“ oder eine „neue Täterforschung“, die Nichtdeutsche einbezieht? Sind andere Begriffe wie collusion, Kooperation, Komplizenschaft besser geeignet? Welche Quellen können neu gelesen werden? Welchen Stellenwert kommt den Quellen der Opfer in einer „neuen Täterforschung“ zu?

Wir begrüßen Vorschläge für 20-minütige Vorträge, die nichtdeutsche Täterschaft oder Verstrickung im Kontext deutscher Herrschaft in vergleichender oder transnationaler Perspektive behandeln. Die jüdische Perspektive auf die Frage nach dem europäischen Ausmaß der Shoah sowie auf die Zirkulation von Wissen möchten wir dezidiert miteinbeziehen. Wir sind auch an methodologischen oder konzeptionellen Fragen interessiert. Der Schwerpunkt liegt auf Frankreich und Deutschland sowie Ost(mittel)europa, aber auch Vorschläge zu Süd- und Südosteuropa sowie zu den französischen Kolonien und insbesondere dem Maghreb sind willkommen.

Die Konferenz findet unter Vorbehalt der Finanzierung statt.

Bitte senden Sie Vorschläge in englischer Sprache (max. 500 Wörter) und einen kurzen Lebenslauf bis zum 24. Juli 2022 an Agnieszka Wierzcholska: conference2023@dhi-paris.fr

Organisationskomitee
Frank Bajohr, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Havi Dreifuss, Tel Aviv University/ Yad Vashem, Jerusalem
Jürgen Finger, Deutsches Historisches Institut, Paris
Andrea Löw, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Anna Ullrich, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Agnieszka Wierzcholska, Deutsches Historisches Institut, Paris
Claire Zalc, CNRS-IHMC (Institut d’Histoire Moderne et Contemporaine) / EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales), Paris

The Shoah as a European Project? New Perpetrator Research in a Transnational Perspective

Can the Shoah be described as a “European project”? This has recently been raised as a new research question by such eminent scholars as Mary Fulbrook and Thomas Sandkühler. As soon as the National Socialist Party came to power, Nazi Germany masterminded and engaged in the discrimination, systematic exclusion, and murder of Jews in Germany. And as occupiers during the war years, the Germans were indisputably the initiators, architects, and executioners of the extermination of European Jewry more generally. However, they found helpers, facilitators, and partners throughout Europe in the expulsion of the Jews, the robbery of their property, their deportation and their murder. While important studies on local complicity in some occupied countries do exist, an interpretative framework to explain (co-)perpetration as a European phenomenon is still lacking. For although Holocaust studies have become increasingly international in recent decades, in this prominent field of research with Europe-wide implications, the methodology of transnational history (i.e. of transfer processes, systematic comparisons, and overarching frameworks of interpretation) is still too little used when it comes to the question of how local societies became complicit in the murder of Jews. This conference will contribute to the development of a conceptual, comparative and transnational understanding of the European dimension of non-German perpetrators in the Shoah. How can we narrate collusion or complicity in a transnational framework as part of an entangled or shared European history of the Shoah?

Conference Aims and Research Questions
When studying complicity in the Shoah, the diverse forms of the occupation regimes in different parts of Europe must be considered. Locals were acting in very different contexts. It is important to stress that the Germans established the framework, and were the main executors of the mass murder of European Jews.
First, we must identify which phenomena, groups or institutions are suitable for such comparisons, given the non-uniform character of the German occupation and of forms of collaboration with the Germans in different European contexts. The discussion will set an agenda for future research. Second, we must ask to what extent the German perpetrators consciously involved and implicated the local inhabitants and/ or institutions and administrations in the genocide of the Jews, and how effective the German occupiers were in doing so in different regions and contexts. Furthermore, the occupiers were persecuting a minority that had already been stigmatized before the war. What significance can be attributed to pre-war anti-Semitic practices and discourses in each of the countries?
Different categories of non-German perpetrators that we would like to address during the conference include:
- Partners in mass crime, murdering Jews on their own initiative (e.g. Romanian army and other armed forces)
- Europeans in German mobile killing units and in Aktion Reinhardt Death Camps (e.g. Trawniki men)
- Local perpetrators and police forces under German command
- Cooperation partners (e.g. police forces, institutions, administrations, and gendarmeries in various European countries) not under German command
- Civilian population, denouncers, beneficiaries of aryanization
- Underground units (resistance to Germans but perpetrators vis-à-vis the Jews)
We thus aim to examine uniformed units, civil administrations, and other institutions in a comparative and transnational perspective: the role of the native police, fire departments, building brigades, lower levels of civil administration, the church, etc. How can we compare these institutions across countries? How significant a role did locals’ appropriation of Jewish property play in the way in which they got involved in the killings? Can denunciations of Jews be described comparatively across countries (administrative procedures, local norms, “effectiveness”)? Inevitably, we must ask about the simultaneity of different phenomena: to what extent were non-German perpetrators at the same time victims of the German occupation or involved in the resistance; and how were perpetration, victim status, and resistance interconnected?
A change of perspectives is crucial: We must also ask how knowledge about the Shoah circulated among the Jews. Did Jewish victims consider their persecution as a European phenomenon in which they had no allies? How did they perceive the radicalization of Nazi extermination policies and practices and the behavior of local populations?
We would also like to address concepts, terms, and methodological approaches. The concept of collaboration, which is highly controversial in research and yet frequently used, must be put to the test as an analytical category. Do we need “new collaboration research” or “new perpetrator research" that includes non-Germans? Are other terms more appropriate, such as collusion, cooperation, complicity? What sources can be re-examined? What importance should be given to victim sources in “new perpetrator research”?
The conference organizers welcome proposals that address selected aspects, groups, and dynamics of non-German perpetrators in a comparative or transnational perspective. We will include papers examining the Jewish perspective on the question of the European scale of the Shoah, as well as on the circulation of knowledge. We are also interested in methodological or conceptual questions. The core focus is on France and Germany as well as Central and Eastern Europe, but proposals on South and Southeastern Europe and on the French colonies, especially the Maghreb, are also welcome.

The conference will take place provided sufficient funding is received.

Please send proposals in English of no more than 500 words and a CV by July 24th, 2022 to Agnieszka Wierzcholska conference2023@dhi-paris.fr

Organizing Committee:
Frank Bajohr, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Havi Dreifuss, Tel Aviv University/ Yad Vashem, Jerusalem
Jürgen Finger, German Historical Institute, Paris
Andrea Löw, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Anna Ullrich, Zentrum für Holocaust-Studien, Institut für Zeitgeschichte, München
Agnieszka Wierzcholska, German Historical Institute, Paris
Claire Zalc, CNRS-IHMC (Institut d’Histoire Moderne et Contemporaine) / EHESS (École des Hautes Études en Sciences Sociales), Paris

Kontakt

Agnieszka Wierzcholska
conference2023@dhi-paris.fr

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Englisch, Französisch
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