Die 1722 gegründete Herrnhuter Brüdergemeine machte ihren Mitgliedern im 18. und 19. Jahrhundert das Angebot einer kollektiven Identität, wie sie weder in den großen Konfessionskirchen noch in anderen pietistischen Gemeinschaften der Zeit zu beobachten ist. Die brüderische Identität konstituierte sich durch eine als total zu verstehende Kirchen- und Sozialstruktur, die alle Lebensbereiche – Familie, Beruf, kulturelle Praxis, Frömmigkeit – umfasste. Mit der internationalen Ausbreitung der Brüdergemeine und ihrer wachsenden Missionstätigkeit wurden die Formen des religiösen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenlebens zunehmend vereinheitlicht, normiert und kontrolliert. In der Forschung wurde dieses Phänomen der religiös-sozialen Vergemeinschaftung bereits von verschiedenen Fachdisziplinen herausgestellt. Bislang stand jedoch kaum zur Diskussion, wie tragfähig das Ideal einer universal wirksamen, von konkurrierenden ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeiten unberührten brüderischen Identität angesichts intensiver Kontakte und Verflechtungen mit der Außenwelt war. So sind weder die weltweite Missionstätigkeit noch die vielfältigen künstlerischen Praktiken ohne einen lokalen, regionalen und globalen Transfer von Ideen, Ästhetiken und Menschen denkbar. Zudem ließ sich das Herrnhuter Homogenitätskonzept spätestens im 19. Jahrhundert, vor allem im Hinblick auf Nationalstaatsbildungen und national-religiöse Bewegungen, nicht mehr aufrechterhalten.
Der interdisziplinäre Workshop soll der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines kollektiven brüderischen Gemeinsinns in unterschiedlichen sozialen, institutionellen und kulturellen Kontexten nachgehen. Wie tiefgreifend und weitreichend hat man sich eine homogene brüderische Identität vorzustellen, wie wurde diese geschaffen und gesichert? Wo entstanden Freiräume für individuelle Entfaltung und multiple Zugehörigkeiten, in welchen Lebensbereichen sind konkurrierende Normen anzunehmen? Ein besonderer Fokus liegt auf den von den Herrnhutern gepflegten Medien wie Musik, Literatur und Kunst, die zum einen identitätsstiftende Funktionen hatten und das brüderische Alltagsleben prägten, zum anderen das Potenzial einer künstlerisch-ästhetischen Verselbstständigung besaßen.
Der Workshop ist offen für Beiträge aus den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen (z. B. Geschichts-, Literatur-, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte) und der Religionswissenschaft bzw. Theologie. Beiträge aus anderen Fachbereichen, etwa den Erziehungswissenschaften oder der Architekturgeschichte, sind ebenso willkommen. Möglich sind sowohl übergreifende Perspektiven auf die Herrnhuter Brüdergemeine als auch Fallstudien zu konkreten Gemeinorten oder einzelnen Gemeinmitgliedern in ihrem regionalen, nationalen oder internationalen Kontext. Auch vergleichende Studien mit anderen – z.B. pietistischen – Gemeinschaften des 18. und 19. Jahrhunderts sind von Interesse.
Mögliche Themenfelder und Fragen:
- das Agieren der Brüdergemeine in verschiedenen geografischen, politischen und konfessionellen Kontexten im Spannungsfeld von Identitätsbewahrung und Anpassung
- die Implementation brüderischer Ideale und Lebensformen in der Mission
- Familie und Gemeine als mögliche konkurrierende Institutionen
- interkultureller und -konfessioneller Austausch an Herrnhuter Schulen
- Musikpraxis und Kunstschaffen im Spannungsfeld religiöser Normen, äußerer Einflüsse und ästhetischer Verselbstständigung
- literarisches Schaffen (geistliche Dichtung, Lebensläufe, Diarien, Briefe) als Ausdruck kollektiver Identität oder individueller Frömmigkeit
- wirtschaftliche Tätigkeit im Dienst der Gemeinschaft oder gewerbliche Unabhängigkeit
Ein Abstract zum Thema im Umfang von max. 300 Worten für einen Beitrag von 25 Minuten sowie eine Kurzbiografie richten Sie bis zum 31. August 2022 bitte an: maryam.haiawi@uni-hamburg.de und maximilian.rose@uni-hamburg.de. Reise- und Übernachtungskosten werden voraussichtlich übernommen.