Déjà-vu? Gender, Holocaust und Subjektivierung in der Erinnerungskultur nach 1945

Déjà-vu? Gender, Holocaust und Subjektivierung in der Erinnerungskultur nach 1945

Veranstalter
Dr. Mirjam Wilhelm / Dr. Julia Noah Munier (FKW / Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur)
Ausrichter
FKW / Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur
Veranstaltungsort
https://www.fkw-journal.de
PLZ
28359
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Findet statt
Digital
Vom - Bis
11.08.2022 -
Deadline
01.11.2022
Von
Dr. Mirjam Wilhelm/ Dr. Julia Noah Munier

Déjà-vu? Gender, the Holocaust, and Subjectivation in Erinnerungskultur (Memory Culture) after 1945

FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Heft 2023 Nr. 1

Déjà-vu? Gender, Holocaust und Subjektivierung in der Erinnerungskultur nach 1945

Insbesondere für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft und die Nachgeborenen der Täter:innen stellte sich im Angesicht der NS-Verbrechen die Frage danach, „Wer wir sind“ grundlegend vielfach neu. Im Rahmen erinnerungskultureller Repräsentationen nach 1945 wurde diese Frage, „Was uns definiert“, entschieden auch über Sexualität und Geschlecht zu beantworten gesucht.1

Deutungsmuster von Geschlecht und Sexualität sind in erinnerungskulturelle Narrative eingeschrieben. Sie scheinen gleichermaßen – jedoch nicht in gleicher Weise – erinnerungskulturelle Repräsentationen von Überlebenden, Täter:innen und deren Nachgeborenen bzw. derjenigen, die sich im Feld der Erinnerungskultur als deren „Erb:innen“ begreifen, zu strukturieren. Ein derartiges Nach-Leben von Geschichte wirkt subjektivierend, insofern es mitunter als Bestandteil von Erinnerungspolitiken an der Herausbildung und Sichtbarwerdung vergeschlechtlichter (kollektiver) Identitäten und der Formierung bestimmter Subjektpositionen beteiligt ist.

Im Blick auf gegenwärtige Repräsentationen von Nationalsozialismus, Gewalt und Geschlecht scheinen sich bereits etablierte Muster der Repräsentation zu wiederholen, die seit 1945 die Auseinandersetzung geprägt haben und weiterhin prägen. Das „schon Gesehene“ (Déjà-vu) drängt sich in gegenwärtige Repräsentation von Nationalsozialismus und Holocaust.

Zugleich bleibt die Erinnerung an die NS-Vergangenheit auch gegenwärtig ein hochpolitisiertes Feld, in dem Narrative der Identität umkämpft sind und sich verschieben. Debatten um Erinnerungspolitiken haben zuletzt zwar wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit erhalten. Allerdings werden Fragen nach Geschlecht und Sexualität selten aufgeworfen oder bleiben gänzlich unberücksichtigt. In jüngster Zeit haben insbesondere kritische wissenschaftliche Positionen u.a. aus Mittel- und Osteuropa wiederholt verdeutlicht, wie umstritten bestimmte Vergangenheitsnarrative, aber auch gender- und sexualitätsspezifische Zugänge in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen sein können.2 Etwa dann, wenn ein Erinnern an die Verfolgung und Ermordung von sexuellen Minderheiten, sogenannten „Geisteskranken“ und „Asozialen“ sowie von Sinti:zze und Rom:nja mit staatsoffizieller Geschichtsklitterung oder Entnennung konfrontiert ist. Oder aber wenn die Aufarbeitung von Mittäter:innenschaft in den Graubereichen zwischen persönlichen und kollektiven Schuldnarrativen mit juristischen Konsequenzen geahndet wird, die die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung grundsätzlich in Frage stellt.3

Im innerdeutschen Kontext konnte ein solches sexualitätsspezifisches Entnennungsmoment etwa in der Debatte um ein Gedenken an lesbische Frauen in der Gedenkstätte in Ravensbrück beobachtet werden. Zudem wurde auch in der Gedenkstätte des NS-Konzentrationslagers Stutthof bis in die jüngste Vergangenheit eine Repräsentation homosexueller Häftlinge ausgespart.

Die machtvolle Ordnung der erinnerungskulturellen Diskurse verläuft entlang einer impliziten Hierarchisierung und gestattet die Artikulation bestimmter Sachverhalte – wie etwa Fragen nach Sexualität und Geschlecht, oder Mittäter:innenschaft – nicht oder nur eingeschränkt bzw. verweist sie in den Bereich des „Marginalen“. In einer solchen intersektionalen Perspektive zeigt sich, dass Praktiken der Entnennung und Marginalisierung mit Momenten des Unsichtbar-gemacht-Werdens korrelieren, die mal durch Heteronormativität, Ableism, Antisemitismus und/oder Rassismus geprägt sind.

Die Frage nach dem „Schon Gesehenen“, nach erkennbaren Verschiebungen sowie nach möglichen Impulsen für andere, bislang unterrepräsentierte und/oder marginalisierte Narrative an der erinnerungskulturellen Schnittstelle von Gender, Holocaust und Subjektivierung treibt diesen Call-for-Articles an.

Das geplante Heft zielt auf Beiträge aus dem Bereich der (audio-) visuellen Kultur. Sie können aus den Themenfeldern des (in-)offiziellen Gedenkens, des Ausstellungsdisplays, filmischer und künstlerischer Repräsentationen, oder auch aus dem breiteren Kontext der Digital History (z.B. im Medium des Video Games) stammen. Der Begriff des Déjà-vus zielt dabei weniger auf eine „Täuschung“, sondern auf die Wiederholung und Reproduktion sowie eine mögliche textuelle und visuelle Musealisierung bestimmter Erinnerungskonstruktionen. Die Frage nach der Tradierung und Kanonisierung verbinden wir mit der Frage nach möglichen (Auf-)Brüchen und (De-)Stabilisierungen, nach umstrittenen Verschiebungen und unerwünschten Aufmerksamkeiten und nicht zuletzt mit ihrer (subjektivierenden) Bedeutung für die jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften. Inwiefern werden Deutungsmuster von Geschlecht und Sexualität im Sinne eines „Schon-Gesehenen“ in gegenwärtigen Repräsentationen von NS-Geschichte und Holocaust reproduziert? Sind Brüche mit tradierten Deutungsmustern innerhalb neuerer Repräsentationen von Nationalsozialismus und Holocaust zu erkennen? Inwiefern wirken vergeschlechtlichte und sexualisierte Repräsentationen von Holocaust und NS-Vergangenheit subjektbildend im Hinblick auf ihre Reziepient:innen, auf Individuen und Kollektive? Und wie verändert sich möglicherweise ihre Subjektivierung, wenn sich die Repräsentationen und damit die Subjektbildungsangebote verschieben?

Die Publikation erfolgt in einem Peer-Review-Verfahren durch die Herausgeber:innen der FKW.

Die Deadline für die Einreichung eines Abstracts von max. 3.500 Zeichen nebst Kurz-CV ist der 01. November 2022.

Einreichungen in englischer und deutscher Sprache sind möglich.

Anmerkungen:
1 Wenk, Silke (2002): „Rhetoriken der Pornografisierung. Rahmungen des Blicks auf die NS-Verbrechen“. In: Eschebach, Insa; Jacobeit, Sigrid; Wenk, Silke (Hg.) (2002): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt a.M. New York: Campus, S. 269–294.
2 Vgl. Ostrowska, Joanna; Talewicz-Kwiatkowska, Joanna; Van Dijk, Lutz (Hg.) (2020): Erinnern in Auschwitz auch an sexuelle Minderheiten. Berlin: Querverl.
3 Vgl. Engelking, Barbara; Grabowski, Jan; Libionka, Dariusz (Hg.) (2018): Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski [Danach ist nur Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens], Bd. 1–2, Warschau: Stowarzyszenie Centrum Badań nad Zagładą Żydów.

Déjà-vu? Gender, the Holocaust, and Subjectivation in Erinnerungskultur (Memory Culture) after 1945

Especially for the post-war German society and the descendants of Nazi-perpetrators, the question of "who we are" was posed anew in many fundamental ways in the face of Nazi crimes. Within the framework of cultural representations of memory after 1945, attempts to decidedly answer the question, "What defines us?" have been in terms of sexuality and gender.1

Memory and memory culture are both inscribed with and interpreted through narratives of gender and sexuality. These narratives equally structure—but not in the same way—representations of survivors, perpetrators, as well as their respective descendants, or those who view themselves as their "heirs" in the field of memory culture. Such an afterlife of history has a subjectivizing effect: it is a key component in the emergence and visualization of gendered (collective) identities and the formation of certain subject positions within memory politics.

When examining contemporary representations of National Socialism, violence, and gender, previously established patterns of representation seem to repeat themselves—patterns that have shaped and continue to shape the debates since 1945. The "already seen" (déjà vu) forces its way into current representations of National Socialism and the Holocaust.

At the same time, the memory of the Nazi past remains a highly politicized field in which narratives of identity are highly contested and subject to frequent shifts. Debates about the politics of remembrance have recently received increased attention. However, issues of gender and sexuality are rarely raised and often left unaddressed. Recently, critical scholarship from Central and Eastern Europe, among others, has repeatedly pointed out how certain narratives of the past, but also gender-specific approaches, can be controversial in academic and public debates.2 So is the case, for example, when remembrance of the persecution and murder of sexual minorities, of the so-called "mentally ill" and "asocials", as well as of Sinti and Roma is confronted with state-sanctioned distortion and disinformation. Instances of indifference or explicit attempts of re-writing can sometimes even culminate in legal action against scholarship on minority perspectives, which fundamentally calls into question research freedom and integrity.3

Recently, such a gender-specific erasure shaped the debate on commemorating lesbian women at the Ravensbrück Memorial. In addition, representation of homosexual victims was omitted from the memorial site of the Stutthof Nazi concentration camp until very recently.

The powerful order of discourses on memory culture adheres to an implicit hierarchy and often does not allow for equal articulation and/or representation whilst relegating some victimized groups to the margins. Such an intersectional perspective shows that practices of denial and marginalization correlate with being rendered invisible due to heteronormativity, ableism, antisemitism and/or racism.

Thus, the question of what is "already seen", of recognizable shifts, and of possible impulses for other, hitherto underrepresented and/or marginalized narratives at the intersection of gender, the Holocaust, and subjectivation is the impetus behind this call for submissions.

The planned issue is interested in contributions from the field of (audio-)visual culture within the thematic scope of (in-)official commemoration, exhibition display, cinematic and artistic representations, or from the broader context of digital history (e.g., in the medium of video games). The notion of déjà vu is understood less as "deception" or "illusion" but rather as repetition and reproduction, as well as textual and visual musealization of certain memory constructions. We connect the question of transmission and canonization with the question of possible ruptures and (de)stabilizations, of controversial shifts and unwanted attentions, and finally of their (subjectivizing) meaning for the respective memory communities.

To what extent are known narratives of gender and sexuality reproduced in current representations of Nazi history and the Holocaust? Are there recognizable ruptures from traditional representations within more recent representations of National Socialism and the Holocaust? To what extent do gendered and sexualized representations of the Holocaust and the Nazi past have a subjectivizing effect on their recipients, on individuals and collectives? And how might their subjectivation change if the representations, and thus the offers for subject formation, shift?

The publication will be peer-reviewed by the editors of FKW.

The deadline for submissions is November 1st, 2022. Please send us an abstract of no more than 3,500 characters as well as a short CV to FKW73@gmx.net.

Submissions in English and German will be accepted.

Notes:
1 Wenk, Silke (2002): „Rhetoriken der Pornografisierung. Rahmungen des Blicks auf die NS-Verbrechen“. In: Eschebach, Insa; Jacobeit, Sigrid; Wenk, Silke (Hg.) (2002): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt a.M. New York: Campus, S. 269–294.
2 Vgl. Ostrowska, Joanna; Talewicz-Kwiatkowska, Joanna; Van Dijk, Lutz (Hg.) (2020): Erinnern in Auschwitz auch an sexuelle Minderheiten. Berlin: Querverl.
3 Vgl. Engelking, Barbara; Grabowski, Jan; Libionka, Dariusz (Hg.) (2018): Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski [Danach ist nur Nacht. Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens], Bd. 1–2, Warschau: Stowarzyszenie Centrum Badań nad Zagładą Żydów.

Kontakt

Dr. Julia Noah Munier
Universität Stuttgart
Historisches Institut/ Abt. Neuere Geschichte

Dr. Mirjam Wilhelm
Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien, VWI

E-Mail: FKW73@gmx.net

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