Tagungsexposé (10.–12. Mai 2023)
Martin Kovacs, Richard Posamentir, Sebastian Schmidt-Hofner
Seit jeher hat die Forschung Bezüge zwischen den soziopolitischen Veränderungen, die viele Poleis der griechischen Welt in der späten Archaik und dem Hochklassik durchliefen, und dem Stil- und Formwandel in der Darstellung von Menschen (oder anthropomorphen Göttern) in jener Zeit hergestellt. Während systematische Auseinandersetzungen mit diesem Problem lange eher die Ausnahme waren, hat in den letzten Jahren eine intensivierte Forschungsdebatte dazu eingesetzt. Sie hat zu sehr unterschiedlichen Positionen geführt: Auf der einen Seite stehen Stimmen, die einen Zusammenhang zwischen ästhetischem Wandel und strukturellen Prozessen wie der Zurückdrängung einer aristokratischen zugunsten einer von Egalitätsidealen geprägten politischen Kultur bis hin zur Demokratie oder mit den Perserkriegen und durch sie ausgelösten soziokulturellen Veränderungen bejahen. Andere sehen kunstimmanente Prozesse am Werk, zu denen soziale, politische und kulturelle Entwicklungen nur sekundär beitrugen. Wieder andere schließlich lehnen direkte Zusammenhänge mit politischen Ereignissen oder Prozessen zwar ab, akzeptieren aber längerfristige soziokulturelle Entwicklungen als Treiber des Stil- und Formwandels. Ein Konsens zeichnet sich bislang nicht ab.
Unsere Tagung möchte diese Debatte weiterbringen, indem sie die Teilnehmer über einen zentralen Aspekt dieses Problem zu reflektieren einlädt, nämlich den zwischen Modi und Formen der Eliteninteraktion und dem ästhetischem Wandel in der visuellen Repräsentation von Menschen in Plastik und Vasenmalerei. Wir fokussieren den Aspekt der Eliteninteraktion, weil wir von der großen Bedeutung ausgehen, die in der soziopolitischen Interaktion innerhalb der Polisgesellschaften Griechenlands der direkten Interaktion der sozialen Akteure zukam. Denn mangels fester hierarchischer Strukturen und transzendental begründeter Ordnungen mussten sozialer Rang und politischer Einfluss dort stets in unmittelbarer Interaktion unter Anwesenden ausgehandelt werden, sei es in der politischen Auseinandersetzung vor dem Bürgerverband der Polis, in der Repräsentation in Heiligtümern und Agonen oder in spezifischeren sozialen Kontexten, etwa dem Symposion mit aristokratischen peers. Für diese Aushandlung spielten ästhetische Praktiken eine große Rolle: Repräsentation in Bildwerken, aber auch die eigene Stilisierung durch Auftreten, Kleidung, Art der Sprache, Gestik und Mimik, kurz dem Habitus. Darstellung von Menschen in Bildwerken, aber auch in literarischen Zeugnissen sind zugleich medium und Spiegel dieser Aushandlungsprozesse. Die Fragen, ob formale Transformationsphänomene in der visuellen Kultur mit diesen Aushandlungsprozessen und den mit ihr einhergehenden ästhetischen Praktiken zu tun haben, und wenn ja, wie man diese Interdependenzen beschreiben kann, drängen sich auf – auch wenn man am Ende zu anderen Ergebnissen kommen mag. Die Fokussierung auf die sozialen Eliten liegt darin begründet, dass wir Eliteninteraktion am besten greifen und die genannten ästhetischen Praktiken und die damit verknüpften visuellen Zeugnisse mit ihr in Verbindung bringen können; allerdings ist die Frage nach weiteren gesellschaftlichen Interaktionskontexten immer mitzudenken.
Demgegenüber steht die ästhetische Eigenlogik der Produktion von Artefakten: Wenngleich Herstellung und Bebilderung etwa von Symposionsgeschirr oder die spezifische Gestaltung von statuarischer Skulptur nicht unabhängig von ihren konkreten kulturellen Zusammenhängen gedacht werden können, so stellt sich dennoch die Frage, ob man die Besonderheiten und Veränderungen in Form und Stil deckungsgleich mit scheinbar offenkundigen politischen Transformationen interpretieren kann, oder ob man damit nicht die Komplexität des Zusammenhangs zwischen der konkreten Gestaltung von Bildmedien, der sich verändernden Nutzung von Objekten und gesellschaftlich-politischer Praxis zumindest partiell verkennt. Der Tagung wird es daher darum gehen müssen, soziopolitische, kulturelle und kunstautonome Faktoren gleichermaßen in Betracht zu ziehen.
Die Tagung ist bewusst interdisziplinär als Gespräch zwischen Archäologie und Alter Geschichte angelegt. Damit wollen wir nicht nur sicherstellen, den aktuellen Debattenstand sowohl über Stil- und Formwandel als auch über soziopolitische Veränderungsprozesse im Betrachtungszeitraum abzubilden. Darüberhinaus hoffen wir einerseits, der Debatte neue Impulse zu geben, indem wir die betrachteten Phänomene über Bildwerke hinaus auf die oben genannten habituellen, in der Regel in Schriftquellen fassbaren ästhetischen Praktiken erweitern, die mit jenen Aushandlungsprozessen über Rang, Einfluss und Präsenz einhergehen. Und andererseits wir wollen auch die Unterschiedlichkeit der einschlägigen Phänomene von Region zu Region und Polis zu Polis greifen. Beides ist nicht ohne Expertise aus beiden Fächern zu leisten.
Sprecher sind eingeladen, das Thema aus Sicht bestimmter Phänomene des Form- und Stilwandels oder der Eliteninteraktion zu behandeln oder auch grundsätzliche Überlegungen zu beiden Aspekten und deren Veränderungen im Betrachtungszeitraum beizusteuern. Um den interdisziplinären Austausch zu erleichtern, bitten wir die Sprecher zum einen, in ihren Vorträgen explizit auf das die Fragestellung der Tagung einzugehen und dabei auch den Blick über das eigene Fach hinaus zu wagen. Zum anderen werden wir Diskutanten aus beiden Fächern einladen, die wir bitten werden, zu Beiträgen aus dem jeweils anderen Fach eine die Diskussion einleitende, kurze Stellungnahme im Hinblick auf das Tagungsthema zu abzugeben.
Sprecher bitten wir um ein ein- bis zweiseitiges Abstract der Vorträge bis 20. Februar 2023, in dem Fragestellung, Thesen und das diskutierte Material beschrieben wird, idealerweise außerdem um eine Rohfassung der Vorträge Anfang einige Tage vor der Tagung, die den Diskutanten Vorbereitung ermöglicht.
Die Tagung findet vom 10.–12. Mai 2023 statt; Abstracts und Titel erwarten wir bis zum 1. Oktober 2022.