Umsiedlung als die geplante und organisierte Verschiebung von Bevölkerung stand bislang vor allem hinsichtlich der Dimensionen staatlichen Gewalthandels, insbesondere mit Blick auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, gelegentlich hinsichtlich der Umsiedlungen an der innerdeutschen Grenze, im Mittelpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung. Gleichzeitig verweisen jüngere Studien zur Geschichte der Raumplanung und Raumordnung auf die ideologische Überdeterminiertheit dieses sozialtechnologischen Schlüsselbegriffs seit den 1920er-Jahren. Die Praktiken und der Vollzug der Umsiedlung finden dabei weniger Aufmerksamkeit. Gemein ist beiden Ansätzen darüber hinaus, dass sie sich auf Umsiedlung als staatlich organisiertes Zwangs- und Gewalthandeln konzentrieren; privatwirtschaftliche organisierte Umsiedlung im Kontext der Anwendung von Großtechnologien (Kernkraftwerke, Braunkohlenbergbau, Autobahnbau) aber wenig Beachtung schenken. Im Rahmen des Workshops soll angesichts des 70. Jahrestages des Beginns der „Aktion Grenze“ (in Thüringen „Aktion Ungeziefer“) erstmals vergleichend, landeshistorisch und systemübergreifend nach Umsiedlung gefragt werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die folgenden Komplexe:
1. Aushandlung von Legitimität und Illegitimität von Umsiedlung: Welche Formen von Umsiedlung galten wann und warum als legitim, wann als illegitim? Welche Strategien der Skandalisierung und Kriminalisierung; welche Formen der Rechtfertigung und Begründung lassen sich identifizieren? Inwieweit wurden über den Begriff der Umsiedlung einerseits die staatliche Verfügungsmacht über Individuen, andererseits der staatliche Zugriff auf den Raum verhandelt?
2. Wiedergutmachung, Entschädigung und Erinnerung: Welche Vergangenheitspolitiken konzentrierten sich auf den Begriff und das Phänomen der Umsiedlung, welche Opfergruppen konstituierten sich mithilfe welcher Strategien? Wie erfolgt die juristische, wie die historische und wie die gesellschaftlich-kulturelle Aufarbeitung? Welche Blindstellen und Opferkonkurrenzen entwickelten sich daraus?
3. Praktiken des Umsiedelns: Wie wurde versucht, Bevölkerung zum Verlassen eines Gebietes zu bewegen? Welche Formen der Gewalt und welche Formen der (gelenkten) Freiwilligkeit lassen sich identifizieren? Wie unterschieden sich staatliche und privatwirtschaftliche Umsiedlungspraktiken? Inwieweit eröffneten sich Handlungsspielräume und welche Rolle spielte der Eigensinn der Umzusiedelnden?
4. Raumkonfigurationen, Bevölkerungswissen und Differenz: Inwieweit basierte Umsiedlung auf einem Ensemble an Techniken zur Herstellung des Wissens über Raum wie z.B. Eigentumskataster, Fragebögen, Landesvermessung etc.? Inwiefern wurden über Begriffe und Umsiedlungspraktiken immer auch die Identität und die Zukunft von Raum ausgehandelt? Inwieweit stellte Umsiedlung einen Modus der Generierung von und des Umgangs mit gesellschaftlicher Differenz seit dem späten 19. Jahrhundert dar?
Angestrebt wird, Umsiedlung nicht als Analyse-, sondern als Quellenbegriff zu behandeln und zu untersuchen, wie im kleinsten Raum regionale, nationale und internationale Auseinandersetzung zusammenfielen und so zu Kristallisationspunkten für grundsätzliche Widersprüche des 20. Jahrhunderts avancierten. Der Workshop leistet so einen Beitrag zur Erforschung des Verhältnisses von Raum, Bevölkerung, Ökonomie und Staat seit dem späten 19. Jahrhundert.
Die Tagungsteilnahme ist kostenfrei, aber das Platzkontingent ist begrenzt. Deshalb bitten wir um eine Anmeldung per E-Mail an landesgeschichte@lda.stk.sachsen-anhalt.de bis zum 28. Oktober 2022. Zu beachten sind die zu dieser Zeit gültigen gesetzlichen Regelungen zur Einschränkung des Infektionsgeschehens. Eine digitale Teilnahme an dem Workshop ist ebenfalls möglich.