Besetzter Alltag – Neue Perspektiven auf die westalliierten Besatzungen (1945–1955)

Besetzter Alltag – Neue Perspektiven auf die westalliierten Besatzungen (1945–1955)

Veranstalter
Valentin Bardet (Sciences Po Lyon), Élise Mazurié (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/EHESS), Stefanie Siess (Universität Heidelberg/EHESS), Félix Streicher (Maastricht University)
Veranstaltungsort
EHESS Paris, Campus Condorcet, Paris-Aubervilliers
Gefördert durch
Deutsch-Französische Hochschule (DFH)
PLZ
93322
Ort
Paris-Aubervilliers
Land
France
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.01.2023 - 20.01.2023
Deadline
10.11.2022
Von
Valentin Bardet (Sciences Po Lyon), Élise Mazurié (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/EHESS), Stefanie Siess (Universität Heidelberg/EHESS), Félix Streicher (Maastricht University).

Dieses Forschungsatelier für Nachwuchswissenschaflter*innen widmet sich den alltäglichen Realitäten militärischer Besatzung in den Westzonen in Deutschland und Österreich nach 1945, im Ausblick auf übergreifende und komparatistische Ansätze, die auch andere alliierte Besatzungen einbeziehen. Ziel des Workshops ist es, militärische Besatzungen als asymmetrische Kräfteverhältnisse zwischen sozialen Gruppen (Besatzer/Besetzte) zu untersuchen.

Besetzter Alltag – Neue Perspektiven auf die westalliierten Besatzungen (1945–1955)

In den letzten Jahren ist international ein neuerwachtes Interesse an militärischen Besatzungen als historischem Forschungsthema zu erkennen. Insbesondere die wissenschaftliche Beschäftigung mit den alliierten Besatzungen in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine Erneuerung erfahren, wobei nun nicht nur die Besatzungspolitik, sondern insbesondere auch soziale und alltägliche Dynamiken in den Blick genommen werden. In der Verknüpfung einer „Geschichte von unten“ (Alltagsgeschichte) und einer „Geschichte von oben“ (Politikgeschichte) heben diese Überlegungen die ständigen Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Sphären hervor. (Schissler 2001; Goedde 2003; Knowles 2017). Vielschichtige Beziehungen und Alltagsbegegnungen, sowie deren Auswirkungen auf Mentalitäten und Emotionen stehen zum ersten Mal im Mittelpunkt der Forschung. Besatzung wird somit als ambivalente und dynamische Herrschaftsform greifbar. Unser Forschungsatelier für Nachwuchswissenschaflter*innen möchte an dieses Forschungsinteresse anknüpfen und sich explizit der alltäglichen Realität militärischer Besatzung in den Westzonen in Deutschland und Österreich nach 1945 widmen, im Ausblick auf übergreifende und komparatistische Ansätze, die auch andere alliierte Besatzungen einbeziehen.

Die westlichen Besatzungsregime brachten nach 1945 Gesellschaften hervor, in denen Gewalt zwar weniger vorherrschend war als während des Krieges, die aber dennoch von vorhergegangenen Gewalterfahrungen sowie von starken Antagonismen durchzogen waren. Es handelte sich hierbei um Gesellschaften, die grundsätzlich von einer "dynamic power relationship" zwischen Besatzern und Besetzten geprägt wurden (Knowles & Erlichman 2018), was eine ständige Neuverhandlung der sie durchdringenden Machtverhältnisse bedeutete. Die westalliierten Besatzungen waren zudem von einer Dynamik der "sortie de guerre" (Cabanes & Piketty 2007, Audoin-Rouzeau 2008) beeinflusst, und somit von einer insgesamt rückläufigen Konflikthaftigkeit, zumindest in Westeuropa. Dieser Rückgang war jedoch weder linear noch homogen: Spannungsfelder blieben lebendig und interagierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Beginn des Kalten Kriegs sowie mit kolonialen Konflikten. Vor diesem Hintergrund der beginnenden Blockkonfrontation wollen wir auch unseren geographischen Fokus auf die Westzonen begründen. Als liberale Demokratien bilden die drei Westalliierten einen einheitlichen Vergleichsrahmen, insbesondere in Abgrenzung zu der Sowjetunion. Die sowjetischen Besatzungszonen wurden und werden aus diesem Grund in der Forschung oft gesondert behandelt. Verflechtungsansätze sind in diesem Bereich dennoch wichtige zukünftige – und auch in diesem Workshop erwünschte – Forschungsfelder.

Ein Ziel dieses Workshops ist es demnach, die militärischen Besatzungen in Deutschland und Österreich als asymmetrische Kräfteverhältnisse zwischen sozialen Gruppen (Besatzer/Besetzte) zu untersuchen, die in ständiger Beziehung zueinander standen, aber dennoch individuelle Handlungsspielräume (agency) zuließen. Das bekannteste Beispiel für solche Beziehungen, das in der Geschichtsschreibung gut dokumentiert und kommentiert ist, stellt die sogenannte „Fraternisierung“ zwischen Vertretern der Besatzungstruppen und der deutschen Bevölkerung dar (Biddiscombe 2001, Höhn 2002, Goedde 2003). Diese Debatte konzentrierte sich allerdings stark auf heterosexuelle Beziehungen zwischen männlichen Besatzern und Frauen aus der besetzten Bevölkerung, während andere Arten von zwischenmenschlichen Beziehungen aus dem Blick gerieten. Die Natur solcher Beziehungen konnte jedoch stark variieren, je nach Geschlecht der beteiligten Individuen, dem Grad an Konsens und der emotionalen Beteiligung jedes/r Akteurs/Akteurin, sowie den Ressourcen, die ausgetauscht werden, insbesondere den materiellen (Weinreb 2017).

Darüber hinaus war keine dieser beiden Gruppen (Besatzer sowie Besetzte) homogen, sondern beide blieben von tiefen Spaltungen durchzogen. Die Gruppe der „Besatzer“ war nicht nur durch die klassische administrative – jedoch oft unscharfe Einteilung – in Militär und Zivil strukturiert, sondern zudem durch soziale, geschlechtsspezifische, politische, ethnische, konfessionelle und generationsbedingte Spaltungen geprägt. All diese Schichtungskriterien betrafen auch die Gesellschaft der „Besetzten“ und beeinflussten die Beziehungen zur Besatzungsmacht und zu deren Repräsentanten, indem sie oftmals die Binarität durchbrachen. Die vielschichtigen Beziehungen zwischen und innerhalb der beiden Gruppen, ihrer äußeren und inneren Grenzen, stellen daher wichtige Untersuchungsgegenstände dar.

Zudem macht die Beschäftigung mit den westalliierten Besatzungen nach 1945 deutlich, dass Vergleiche und Kontinuitäten mit anderen Besatzungsregimen und Herrschaftssystemen in Betracht gezogen werden müssen. Synchrone Vergleiche sollen vertieft werden, wobei das deutsche Gebiet auch auf Österreich ausgeweitet und mit Japan und Italien in Verbindung gebracht werden kann, den anderen Achsenmächten, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Alliierten besetzt wurden (Hagemann, Jarausch & Hof, 2020). Auch die Untersuchung von Verflechtung und Austausch mit den Besatzungsregimen der Sowjetunion, der vierten alliierten Partei, sind hier erwünscht. Durch diachrone Vergleiche kann eine Kontextualisierung der Besatzungen nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit vorhergegangenen Besatzungserfahrungen im 20. Jahrhunderts erfolgen, insbesondere mit denjenigen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Hinblick auf Herrschaftssysteme könnte zudem das Zusammentreffen der Besatzungsregime mit der "situation coloniale" (Balandier 1951; Stoler 2006; Miot 2021) untersucht werden. Eine weitere vielversprechende Perspektive stellt die Erforschung der langfristigen Nachwirkungen – der „legacy“ – der Okkupationen dar.

Wir begrüßen dementsprechend Vorträge, die sich mit einem der folgenden Themen befassen (nicht ausschließlich oder zwingend):

- Doing occupation: Die Bedeutung und Auswirkung von Beziehungen zwischen und innerhalb sozialer Gruppen für die offizielle Besatzungspolitik; die mobilisierten Strategien auf Seiten der Besatzer, sowie die Nutzung von Handlungsspielräumen durch die Besetzten.

- Begegnung: Alltägliche Interaktionen zwischen den „Besatzern“ und den „Besetzten“ und die Beziehungen innerhalb dieser heterogenen Gruppen. Die Rolle von Minderheiten und Randgruppen, sowie der „Grenzfiguren“ an der Schnittstelle zwischen Besatzern und Besetzten („auxiliaires authochtones“, Dolmetscher, Übersetzer) dürfte hierbei besonders interessant sein.

- Schichtung: Die vielfältigen Schichtungen, die die Gesellschaften im Kontext der Besatzung innerhalb der untersuchten Gruppen aufwiesen (besonders in Bezug auf class, race und gender).

- Regulierung: Die formelle und institutionelle Regulierung der Interaktionen, die Unterschunung jeder Organisationen, die mit dieser Regulierung betraut waren (Polizei, Gerichte), sowie informelle Mechanismen der sozialen Kontrolle.

- Wahrnehmung: Die Rolle von Mentalitäten, Vorstellungswelten und Emotionen in den Besatzungsgesellschaften, sowie die Untersuchung von Kulturerzeugnissen. Die Mobilisierung von historischen Quellen in ihrer gesamten Vielfalt (Literatur, Fotografie, Musik/Ton, materielle Quellen) wird besonders geschätzt.

Dieses Atelier richtet sich an Nachwuchswissenschaftler*innen, insbesondere Doktorierende. Vortragssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch. Interessierte werden gebeten, bis zum 10. November 2022 ein Abstract mit maximal 300 Wörtern (+/- 10%), sowie eine Kurzbiographie per Email an folgende Adresse zu richten:

atelieroccupations@protonmail.com

Die Reisekosten (150€ innerhalb von Frankreich, oder bis zu 250€ für Reisen aus dem Ausland nach Paris) sowie die Übernachtungskosten der Beitragenden werden übernommen.
Das Atelier wird von der DFH gefördert.

Kontakt

atelieroccupations@protonmail.com

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Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Französisch, Deutsch
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