Muttersprache / Native speaker. Interdisziplinäre (Neu)verhandlungen eines ambivalenten Konzepts.

Muttersprache / Native speaker. Interdisziplinäre (Neu)verhandlungen eines ambivalenten Konzepts.

Veranstalter
Prof. Dr. Nina Simon (Universität Leipzig), PD Dr. Esther Kilchmann (Universität Hamburg)
Veranstaltungsort
Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Hamburg
PLZ
20249
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
24.11.2023 - 25.11.2023
Deadline
01.12.2022
Von
Esther Kilchmann, Institut für Germanistik, Universität Hamburg

Workshop zur interdisziplinären Erforschung des Konzeptes Muttersprache / Native speaker, seiner Begriffsgeschichte und soziokulturellen wie didaktischen Effekte.

Warburg-Haus Hamburg 24. bis 25. November 2023.

Muttersprache / Native speaker. Interdisziplinäre (Neu)verhandlungen eines ambivalenten Konzepts.

Muttersprache bzw. Native Speaker sind als Begriff und Konzept fundamental in das moderne westliche Verständnis von Sprachen, ihrer Standardisierung und ihrer Erwerbs- und Verwendungsformen eingelassen und überdies mit monolingual normierten und als weitgehend homogen gedachten Sprechkollektiven verbunden. (s. u.a. Bonfiglio 2010; Ahlzweig 1994) Die sich als kultureller Regelfall und natürlich begründet präsentierenden Konzepte von Muttersprache und Native speaker erweisen sich dabei als Resultate nicht nur linguistischer Normierungen, sondern auch vielfältiger politisch-sozialer Praktiken und historisch-kultureller Konstruktionen, bei denen es nicht zuletzt um die Herstellung von (v.a., aber nicht ausschließlich sprachlicher) Identität und die Bestimmbarkeit von (Nicht-)Zugehörigkeit geht. (Doerr 2009) Muttersprache und Native speaker zielen mit anderen Worten zwar zunächst auf einen linguistischen Gegenstand ab, wirken aber durch ihre sozial-politischen, psychologischen und ästhetischen Effekte weit über diesen hinaus und sind bis heute für Sprachverständnis und soziale Wahrnehmung von Sprecher:innen, affektive Reaktionen auf bestimmte Sprachen und Akzente, Modelle von Sprachlehre und Bildung sowie Literaturschaffen bestimmende Größen. (Dirim/Simon 2022; Habjan 2018; Beinhoff 2013) Entsprechend erfordert die Erforschung dieser Konzepte und ihrer Wirkung Ansätze aus verschiedenen Disziplinen wie Linguistik und Erst-/Zweit-/Fremdsprachendidaktik, Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaft, Anthropologie, Ethnologie und Psychologie.

Der geplante Workshop will sich vor diesem Hintergrund drei Bereichen widmen:

1. Erweiterung des Forschungsstandes und Stärkung der Interdisziplinarität
Gefragt sind hier Fallstudien zu bislang nicht ausreichend untersuchten Bereichen, um auf dieser Basis den bislang noch zu wenig stattfindenden interdisziplinären Austausch zum Thema zu befördern. Ein besonderes Anliegen stellt dabei die historische Genese des Konzeptes wie seine spezifischen Ausprägungen und Verwendungen in einzelnen Disziplinen dar. Erwünscht sind Beiträge u.a. zu:

- Der Verbreitung des Konzeptes in spezifischen Kontexten (mehrsprachig, digloss, national, (post-)kolonial etc. geprägten Gesellschaften) sowie unterschiedlichen Disziplinen und bei einzelnen Theoretiker:innen, Philosoph:innen und Autor:innen: Welche konkreten (Kultur-)Konzeptionen und ggf. politischen Ziele sind dabei mit den Konzepten von Muttersprache / Native Speaker verbunden?
- Muttersprache / Native Speaker als hegemoniale Konzepte der Mehrheitsgesellschaft, aber auch als Bestandteil der Forderung von Minderheiten nach politischer und kultureller Anerkennung
- Stellung und Funktion in Spracherwerbsforschung, Sprachlehre, Standardisierungsprozessen und Literatursystemen
- Verhältnis von Muttersprachler.in / Native Speaker zu anderen Differenzverhältnissen (Geschlecht, Klasse usw.) inklusive intersektionaler Verwobenheit

2. Kritische Befragung des aktuellen Forschungsstandes und seiner Begrifflichkeiten
Im Rahmen der Begriffskritik soll zunächst die Übernahme des englischen Begriffs des Native Speakers auch in den deutschsprachigen Kontext diskutiert werden. Verbinden sich mit dem Sprachwechsel auf Begriffsebene auch inhaltliche Zuschnitte und gibt es historische und konzeptionelle Differenzen in den Begriffen Native Speaker und Muttersprache? Gibt es sozial-kulturelle und politische Bereiche in den amtlich deutschsprachigen Regionen (Dirim 2015), in denen gerade der Begriff Muttersprache weiterwirkt? Zu befragen ist außerdem die insbesondere in den Literatur- und Kulturwissenschaften verbreitete Nutzung von Muttersprache und Native Speaker als quasi-Synonyme zu Monolingualismus und Nationalsprache. Überprüft werden sollen die Überschneidungen und Differenzen der Konzepte sowie die derzeit gängige These, dass es sich bei Muttersprache / Native speaker um eine Erfindung der europäischen Moderne und insbesondere der deutschen Romantik handle. Gefragt wird nach Beiträgen u.a. zu:

- der Begriffsgeschichte von Native speaker und Muttersprache mit Berücksichtigung
evtl. Differenzen zwischen dem deutschen und anglophonen Konzept (und daraus resultierenden Problematiken der Übertragbarkeit)
- einer Begriffsdiskussion von Native speaker / Muttersprache / Erstsprache
- der Geschichte des deutschen Muttersprach-Begriffs in Literatur, Kultur und Wissenschaft
- dem historischen und aktuellen Verhältnis zwischen den Begriffen Muttersprache / Native Speaker und Monolingualismus sowie Nationalsprache

3. Transfer der Kritik in die gesellschaftspolitische und didaktische Praxis
Zwischen kritischer Forschung zu Muttersprache und Native speaker und der fortgesetzten Wirkkraft der Konzepte auf politischer und sozialer Ebene, in Bildungsinstitutionen, im Zweit- und Fremdspracherwerb sowie in der sozialen Wahrnehmung von Sprecher:innen herrscht eine große Spannung. Hier gilt es nach Gründen dafür zu forschen und Vorschläge zum Transfer in Sprachlehr- und Unterrichtspraxis sowie weitere gesellschaftliche Bereichen zu entwickeln. Darüber hinaus soll auch gefragt werden, warum die Prägekraft und Langlebigkeit der Konzepte gerade im außer-wissenschaftlichen Bereich trotz ihrer in den letzten Jahren erfolgten wissenschaftlichen Problematisierung noch immer hoch ist und welche bislang evtl. zu wenig berücksichtigten – und eventuell gängigen Forschungspositionen widersprechende Faktoren dafür verantwortlich sein könnten. Mit anderen Worten: Gibt es möglicherweise einen Bereich menschlicher Sprache und Sprechens, der etwa entwicklungsgeschichtlich begründet oder psychologisch stark affektiv besetzt ist und der mit Muttersprache/Native speaker miterfasst und aus Sprachkonzeption wie -praxis nicht so leicht wegzudenken und zu verändern ist? Und was müsste geleistet werden, um dennoch Veränderungen in den problematischen und diskriminierenden sozialen und (bildungs-)politischen Auswirkungen des Konzeptes herbeizuführen? Besonders wünschenswert sind hier Beiträge, die sich u.a. folgenden Fragen widmen:

- Wie lässt sich Kritik (besser) für didaktische und andere Zusammenhänge (in DaF/DaZ, aber auch Deutschdidaktik im migrationsgesellschaftlichen Kontext) adaptieren und somit in praktische Kontexte übersetzen?
- Gibt es eine Sprachdidaktik, im Falle des Deutschen eine Deutschdidaktik, die ohne die Konzepte Muttersprache / Native speaker auskommt? Wie könnte sie aussehen?
- Debatte um „nature / nurture“ für das Konzept von Muttersprache / Native speaker?
- Welche Rolle spielt die affektive Besetzung von Sprachen?
- Ist das Konzept Muttersprache ohne daran geknüpfte kollektive, nationale Sprachgemeinschaft sowie Standardisierung denkbar? Und umgekehrt: Sind sprachliche Standardisierungen davon ablösbar?

Der Workshop soll vom 24. bis 25. November 2023 in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg stattfinden. Reise- und Übernachtungskosten können voraussichtlich erstattet werden. Eine Publikation ist im Anschluss an den Workshop geplant. Themenvorschläge für Vorträge (ca. 20 Minuten) werden mit Abstract (ca. 250 Wörter) und Kurzbiografie bis zum 01. Dezember 2022 erbeten an:

Prof. Dr. Nina Simon (Universität Leipzig)
E-Mail: nina.simon@uni-leipzig.de

PD. Dr. Esther Kilchmann (Universität Hamburg)
E-Mail: estherkilchmann@gmail.com

Wir freuen uns auf Ihre Überlegungen!

Kontakt

Prof. Dr. Nina Simon
Universität Leipzig
E-Mail: nina.simon@uni-leipzig.de

PD Dr. Esther Kilchmann
Universität Hamburg
E-Mail: estherkilchmann@gmail.com