Biographie und Vergessen: Vernachlässigte Perspektiven sozialwissenschaftlicher Theoriebildung

Biographie und Vergessen: Vernachlässigte Perspektiven sozialwissenschaftlicher Theoriebildung

Veranstalter
André Epp und Merle Hinrichsen
PLZ
67133
Ort
Karlsruhe
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.11.2022 -
Von
André Epp

Schwerpunktheft zu Biographie und Vergessen in der Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen - BIOS.

Biographie und Vergessen: Vernachlässigte Perspektiven sozialwissenschaftlicher Theoriebildung

Konstitutiv für Biographieforschung und Oral History ist der Rückgriff auf Vergangenes. Wie das Hervorholen, die Auswahl und (Re-)Konstruktion vergangener Ereignisse und Erfahrungen bspw. im Rahmen von biographisch-narrativen Interviews durch Biograph:innen erfolgt, dazu bieten Überlegungen zum Gedächtnis und seinen zentralen Operationen, dem Erinnern und dem Vergessen, einen relevanten theoretischen Bezugsrahmen (u.a. Alheit & Dausien 2000; Niethammer 1980; Rosenthal 1995). Dass Erinnern und Vergessen dabei auf das engste miteinander verschränkt und beide konstitutiv an der Hervorbringung von Biographien beteiligt sind, zeigt der folgende Sachverhalt: „Man muss vergessen, um erinnern zu können, und (sich) erinnern um vergessen zu können“ (Jörissen & Marotzki 2008, S. 96). Eine einseitige Auflösung dieses paradoxalen Zusammenhangs – entweder in Form einer totalen Erinnerung oder eines totalen Vergessens – käme dabei einem Weltverlust gleich; die biographische Konstruktion würde sich auflösen und verlöre ihre je eigensinnige Gestalt. Folglich sind Biographien als Resultat des Zusammenspiels von Erinnern und Vergessen zu begreifen. Sie werden – ebenso wie Erinnerung und Vergessenes selbst – im Erzählen immer wieder neu geschaffen.

Obwohl damit sowohl dem Erinnern als auch dem Vergessen eine besondere Relevanz im Rückgriff auf Vergangenes zukommt, überwiegt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bisher eine deutliche Fokussierung auf das Erinnern (z.B. Apel 2018; Kuhn 2010; Rosenthal 1995; von Felden 2021). Zwar gibt es zunehmend Studien, die sich explizit dem Vergessen, seinen unterschiedlichen Formen und sozialen Funktionen, widmen (z.B. Assmann 2016; Dimbath, 2014; Dimbath/Wehling 2011), in der Biographieforschung ist jedoch eine weitgehende Vernachlässigung entsprechender theoretischer und empirischer Auseinandersetzungen mit Vergessen(em) zu konstatieren und das, obwohl sich in biographie- und erzähltheoretischen Arbeiten vielfältige Bezüge zu der Bedeutung von Vergessen finden lassen.

Exemplarisch kann dies mit Blick auf die biographische Erfahrungsaufschichtung gezeigt werden. So bieten etwa Überlegungen zu den Sinnüberschüssen von Biographien (z.B. mit Blick auf das „ungelebte Leben“) ebenso Anschlüsse für Reflexionen zum Vergessen wie Ausführungen zum Verhältnis von Erinnerung, Erfahrung und Erzählung. Wenn davon auszugehen ist, dass in der Erzählung Erinnerungen vom gegenwärtigen „Standort“ aus rekonstruiert werden, setzt dies nicht nur eine „doppelte Auswahl“ (Hahn 2003), sondern immer auch ein vorheriges Vergessen voraus.

Dass Vergessen nicht nur individuell bedingt, sondern auch sozial gerahmt ist, verdeutlicht ein Blick auf differente Erinnerungskulturen und gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen wie den institutionalisierten Lebenslauf (Kohli 1985), die Skripte dafür bereithalten, was erinnerungswürdig erscheint und was vergessen werden kann bzw. soll. Diese soziale Bedingtheit des Vergessens wird auch mit Blick auf die Organisation der biographischen Erzählung selbst deutlich: So werden in der Erzählsituation sowohl Sachverhalte ausgelassen, die etwa mit Scham besetzt sind oder nicht in die Erzählung passen, als auch Einfügungen vorgenommen, die das Vergessen bestimmter Sachverhalte narrativ bearbeiten, z.B. indem Erzählungen anderer an Stelle einer durch Erinnerung verbürgten eigenen Erfahrung angeführt werden (Rosenthal 1995). Vergessen ist dabei in unterschiedlicher Weise produktiv; es kann als Schutzmechanismus fungieren, etwa wenn belastende und traumatische Erfahrungen abgekoppelt werden. Gleichzeitig kann die Eigendynamik biographischer Erzählungen („Zugzwänge des Erzählens“) selbst auch einen produktiven Zugang zu Vergessenem darstellen. Etwa wenn bisher vergessene oder verdrängte Aspekte des eigenen Lebens im Prozess des Erzählens im Bewusstsein ‚auftauchen‘, die von den Erzählenden zuvor nicht wahrgenommen oder verstanden wurden (Schütze 1984). In diesen Beispielen deutet sich an, dass Vergessen in komplexer Art und Weise an der Hervorbringung von Biographien in je spezifischen sozialen und gesellschaftlichen Kontexten beteiligt ist und dass in der Hinwendung zu Vergessen(em) ein Potenzial für vielfältige biographie- und bildungstheoretische sowie historische Fragestellungen angelegt ist.

Der Call zu dem Schwerpunktheft will das Bearbeiten eben jener Leerstelle verstärkt anstoßen und die Auseinandersetzung mit Vergessen im Rahmen von Biographieforschung und Oral History anregen. Erwünscht sind Beiträge sowohl zu theoretisch-methodologischen als auch methodischen und empirischen Auseinandersetzungen, die sich mit den folgenden, aber auch weiteren Fragen beschäftigen:

- Welche theoretischen und/oder methodologischen Perspektiven eröffnen sich aus dem Blickwinkel der Biographieforschung, der Oral History, usw. hinsichtlich einer Fokussierung von Vergessen? Welche Bedeutung kommt Vergessen(em) in Hinblick auf biographische Konstruktionsprozesse allgemein zu? Wie sind individuelles und kollektives Vergessen (und Erinnern) in Biographien miteinander verwoben? Inwiefern sensibilisieren (gegenwärtige) biographietheoretische Überlegungen hinreichend für Phänomene des Vergessens?
- Welche Erkenntnisse hinsichtlich biographischer Lern- und Bildungsprozesse sind mit einer stärkeren Fokussierung auf Vergessen verknüpft und welche Relevanz entfaltet Vergessen im Hinblick auf Bildungsbiographien? Welche Anschlüsse ergeben sich daraus für Überlegungen zur Biographiearbeit?
- Welche methodischen Überlegungen schließen sich an eine stärkere Fokussierung auf Vergessen an? Wie kann der empirische Zugriff auf Vergessen im Rahmen von Biographieforschung erfolgen (z.B. Längsschnitt etc.)?

Geplanter Zeitablauf:

- Einreichung der Abstracts (maximal 800 Wörter): bis 23. Dezember 2022 an andre.epp@ph-karlsruhe.de und hinrichsen@em.uni-frankfurt.de Rückmeldung zu den Abstracts: bis 31. Januar 2023.
- Einreichung der vollen Manuskripte (maximal 65.000 Zeichen): bis 31. August 2023
- die Beiträge werden extern begutachtet (double-blind). Rückmeldung zu den Manuskripten: bis 30. November 2023 Überarbeitung der Manuskripte: bis 28. Februar 2024 Erscheinungszeitpunkt des Heftes: Sommer 2024

Informationen zur Zeitschrift und den Manuskript-Richtlinien finden sich hier: https://www.budrich-journals.de/index.php/bios und hier: https://budrich.de/Zeitschriften/Call-for-Papers/BIOS-C4P-Biographie-Vergessen.pdf.