Thema:
Phänomenologie, das ist im besten Sinne des Wortes eine „Arbeitsphilosophie“. Sie ist keine Methode „ex cathedra“, welche unabhängig von den Phänomenen entwickelt und dann auf diese angewandt wird. Anstatt eine Theorie zu bilden, die versucht Phänomene zu erklären, entwickelt und klärt sich die Phänomenologie selbst allererst in der Auseinandersetzung mit den „Sachen selbst“. Korrelationsapiori, Intentionalität, Retention und Protention etc., alle diese phänomenologischen Strukturmomente sind den Phänomenen ebenso abgerungen, wie sie zu deren Erhellung beitragen. Es lässt sich deshalb mit einigem Recht sagen, dass sich die konkrete Gestalt der Phänomenologie gar nicht von den von ihr erforschten „Sachen“ tren-nen lässt und sie sich selbst allererst im Vollzug der phänomenologischen Praxis entwickelt.
Rombach greift diese enge Verbindung zwischen der Phänomenologie und den von ihr un-tersuchten Phänomenen in seinem strukturphänomenologischen Ansatz auf, weist aber auf deutlich weiterreichende Konsequenzen hin, indem er zeigt, dass sich die Phänomenologie in der Auseinandersetzung mit den Phänomenen nicht einfach weiterentwickelt, sondern darüber hinaus auch selbst differenziert. Ausgangspunkt ist auch hier die Überlegung, dass sich Phänomene grundsätzlich nur von innen her erhellen lassen. Um die Phänomene zur Erscheinung zu bringen, muss die Phänomenologie deshalb das Strukturierungsgeschehen der Phänomene selbst mitvollziehen. Wie die Phänomenologie genau aussieht, hängt dann aber strenggenommen von den jeweiligen Phänomenen ab, die erhellt werden sollen. Es ver-wundert deshalb nicht, dass der Vielfalt der Phänomenbereiche eine fast ebenso große Viel-falt phänomenologischer Ansätze entspricht, so beispielsweise Husserls Analyse der Hori-zontkonstitutionen der in ihnen gegebenen Gegenständlichkeit, Heideggers Aufweis einer Mannigfaltigkeit von Seinsweisen der geschichtlichen Wahrheit des Seins, Merleau-Pontys Phänomenologie der Leiblichkeit dem Involviert-Sein des Menschen in die Welt (und seiner Verflechtung mit dem Fleisch der Welt), Levinas‘ „Ethik“ dem Phänomen des Anderen, Waldenfels‘ Phänomenologie der Responsivität dem Phänomen des Fremden, Marions Ana-lyse „gesättigter Phänomene“ dem religiösen Glauben, Stengers „intermundane“ Phänomenologie der interkulturellen Situation – um nur eine unvollständige Auswahl an bekannteren Beispielen anzuführen.
Wenn sich die Phänomenologie derart konsequent von den Phänomenen leiten lässt, die sie analysiert, dann ist ihr die Tendenz, sich zu pluralisieren, zutiefst eigen. Es gibt nicht die eine immergleiche Phänomenologie. Das wird besonders dort deutlich, wo sich Phänomeno-log:innen Grundphänomenen zuwenden, die ein ganzes Feld eigenständiger Phänomenalität eröffnen. Jedes solche Grundphänomen erfordert eigene Anpassungen in der Art der Analyse. Rombach geht aber noch einen Schritt weiter. Da die Phänomene in aller Regel nicht offen vorliegen, sondern von der Phänomenologie allererst in der ihr eigenen Sinntiefe zur Er-scheinung gebracht werden müssen, bedeutet der genannte Mitvollzug des phänomenalen Strukturierungsgeschehens nichts anderes als die Selbstentfaltung der Phänomene: In der Strukturanalyse gehen die Phänomene erst als diejenigen auf, die sie eigentlich sind; sie ent-falten sich selbst, und das je spezifisch und geschichtlich. So verstanden kann sich die Phä-nomenologie nicht darin erschöpfen, die Welt durch Deskription verständlich zu machen – sie muss ihr allererst zur vollen Entfaltung verhelfen. Darin zeigt sich die ontologische Rele-vanz der Phänomenologie.
In seiner Strukturontologie arbeitet Rombach heraus, was es bedeutet, dass sich ein Phänomen in seinem Zur-Erscheinung-Kommen selbst entfaltet. Er zeigt, dass der relationale Be-zug zwischen den einzelnen Momenten eines Phänomens nicht statisch verstanden werden darf (Systemdenken), weil die einzelnen Momente dann niemals das Ganze des Phänomens zur Erfahrung bringen könnten. Stattdessen ist die relationale Struktur der verschiedenen Momente so zu verstehen, dass sie in der Genese des Phänomens wechselseitig auseinander hervorgehen. Mit dem Schritt zur Genese der Phänomene führt die Strukturontologie nicht nur die Phänomenologie in ihre äußerste Konsequenz, sondern bezieht nun auch das ontologische Denken ganz in das phänomenologische Geschehen ein. Der ontologische Grundzug der Wirklichkeit entscheidet sich an der Struktur und Konstellation der Phänomene; das ist der Grund dafür, dass es plurale Ontologien geben kann – eine Konsequenz, die Rombachs Denken heute aktueller denn je erscheinen lässt.
Organisation
In vier Tagen gemeinsamer Diskussion wollen wir uns Heinrich Rombachs Strukturontologie erarbeiten. Daran schließt sich ein zweitägiger Workshop zu Rombachs Denken an, zu dem neben den Teilnehmer:innen des Lektürekurses ausgewählte Expert:innen eingeladen werden.
Die Teilnehmer:innen sollten das Buch vorab gelesen haben und bereit sein, ein 15-minütiges Referat zu halten, in dem sie in die Diskussion eines der Kapitel des Textes einführen.
Bewerbung
Der Lektürekurs richtet sich an Studierende (Bachelor/Master) und Doktorand:innen der Philosophie und angrenzender Fächer.
Schicken Sie Ihre Bewerbung (Motivationsschreiben und tabellarischer Lebenslauf) bitte bis zum 15. Juli 2023 an info@cof.uni-tuebingen.de.
Wir benachrichtigen Sie bis Ende Juli über die Vergabe der Plätze.
Es wird keine Programmgebühr erhoben, allerdings müssen die Teilnehmer:innen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung selbst tragen. Wir helfen Ihnen gerne bei der Suche nach einer preiswerten Unterkunft.