Am 14. August 2004 entschuldigte sich die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul persönlich für den Genozid an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 im heutigen Namibia. Obwohl es bis zu einer offiziellen Entschuldigung und Anerkennung des Genozids durch die Regierung Merkel und einer Milliardenhilfe an Stelle von Reparationen noch bis 2021 dauern sollte, stieß die Aktion von Wieczorek-Zeul einen Prozess der Aufarbeitung an, der bis heute andauert und die Sichtbarkeit des Themas in der deutschen Öffentlichkeit sowie die akademische Forschung und Diskussion wesentlich anregte. In den seither vergangenen fast zwanzig Jahren sind zahlreiche Publikationen erschienen, welche den deutschen Kolonialismus, seine Akteuer:innen, Institutionen und ideologischen Versatzstücke sowohl in den afrikanischen, asiatischen und ozeanischen Kolonien als auch in Deutschland selbst beleuchten. Eine der Stoßrichtungen der frühen Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte war es, nach „strukturellen Verbindungen“ zwischen dem Genozid an den Herero und Nama und dem Holocaust zu fragen. Die Erfahrungen des Genozids und anderer Kolonialkriege hätten in militärischen und administrativen Kreisen des Deutschen Kaiserreichs in einer Vorbildfunktion den Weg zum Holocaust geebnet. Diese Darstellung von Kontinuität geriet in Kritik, die die strukturellen und ideellen Unterschiede zwischen den deutschen Kolonialverbrechen (insbesondere dem Genozid in Namibia) und dem Holocaust hervorhob. Nichtsdestotrotz lieferte die Diskussion weiteren Anschub für eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen der Kolonialgeschichte, wobei immer stärker einzelne Kolonien oder spezifische kolonialen Kontexte, koloniale Akteur:innen, wirtschaftliche Ausbeutung und koloniale Infrastrukturen ins Auge gefasst wurden.
Das bleibende Interesse an Themen der deutschen Kolonialgeschichte in den letzten zwanzig Jahren geht allerdings auch auf die Popularität transnationaler und globalgeschichtlicher Ansätze zurück. Jenseits von nationalen Untersuchungsrahmen untersuchen Historiker:innen Personen, Waren- und Wissensströme sowohl innerhalb des deutschen Kolonialimperiums als auch in Konkurrenz zu und Kooperation mit anderen europäischen Imperien. Zudem wurde auch zunehmend begonnen, die postkolonialen Ideologien zu hinterfragen, die sich in Deutschland nach dem Verlust seiner Kolonien 1919 durch den Versailler Vertrag entwickelten, sei es in der Zeit des Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik, in den Gesellschaften der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den ehemaligen deutschen Kolonien. Weitere Studien haben die Auswirkungen und den Einfluss des deutschen Kolonialismus auf die Entwicklung der ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien aufgezeigt.
Von den vielen möglichen Themen und Fragestellungen möchten wir fünf Schwerpunkte in den Fokus stellen, die während der Konferenz weiterentwickelt werden könnten:
Die chronologischen und geographischen Grenzen des deutschen Kolonialreiches:
Viele Arbeiten betrachten den deutschen Kolonialismus über seinen formellen Zeitraum (meist zwischen 1884 und 1919) hinaus. Diesen Ansätzen folgend können Beiträge zu Aktivitäten und Reisen deutscher Akteur:innen in koloniale Territorien anderer europäischer Mächte in der Frühen Neuzeit sowie Praktiken, Diskurse und Repräsentation des deutschen Kolonialismus nach 1919 helfen, die traditionellen chronologischen und geographischen Grenzen des deutschen Kolonialismus hinterfragen. Verschiedene Beiträge haben zurecht darauf hingewiesen, dass sich die koloniale Herrschaft in einzelnen Kolonien und ebenso in verschiedenen Regionen und Städten innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich auswirkte. Wo und wann wurde das deutsche Kolonialreich etabliert? Welche Erinnerungskulturen und (Dis-)Kontinuitäten existierten nach 1919 und 1945? Wie beeinflusste der Kolonialismus verschiedene Kolonien und einzelnen Regionen/Städte in Deutschland?
Die transimperialen Dimensionen des deutschen Kolonialismus:
Ein erneuertes Interesse an den transimperialen Verbindungen zwischen den verschiedenen kolonialen Imperien hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, imperiale und koloniale Geschichte weiter zu entnationalisieren. Daher sollen unter diesem Oberbegriff Beiträge versammelt werden, welche die Interaktion deutscher kolonialer Akteuer:innen in den Territorien anderer Kolonialmächte in den Blick nehmen und so das Verständnis von imperialen Solidaritäten, Rivalitäten oder auch pragmatischen Kooperationen weiter ausbauen. In welcher Weise war das deutsche Kolonialreich unterschiedlich zu oder vergleichbar mit anderen europäischen Kolonialreichen? Wie interagierten, konkurrierten oder kooperierten deutsche koloniale Akteur:innen mit Akteur:innen anderer Kolonialmächte?
Handlungsmacht und Diversität indigener/lokaler Akteur:innen unter deutscher Kolonialherrschaft:
Die deutsche Kolonialherrschaft setzte für die Erkundung, Erforschung, Eroberung und Ausbeutung der kolonialen Territorien auf eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur:innen. Ebenso leisteten unterschiedliche Personen und Gruppen in organisierter oder spontaner Weise Widerstand gegen die Etablierung kolonialer Herrschaft. In dieser Sektion stehen daher Beiträge im Fokus, die die Rolle indigener/lokaler intermediaries und Widerstandsgruppen untersuchen. Wie profitierten lokale Akteur:innen von der Etablierung der deutschen Kolonialherrschaft? Wie leisteten sie Widerstand? Zu welchem Grad beeinflussten koloniale Rechts- und Ordnungspraktiken lokale Gesellschaften?
Wirtschaft und Arbeit:
Rohstoffe und Waren wie Kokos, Kaffee oder Kautschuk waren essentiell für die europäischen Märkte um die Jahrhundertwende und wurden von deutschen Firmen aus den Kolonien ausgeführt und in globale Warenströme eingespeist. Fallstudien über einzelne Unternehmen zeigen, durch welche Praktiken koloniale Ökonomien aufgebaut wurden und hinterfragen die Diffusion von europäischen Politiken der Arbeit vom Zentrum zur Peripherie. Dagegen haben sie Praktiken des Widerstandes und Manipulation von lokalen Akteur:innen hervor; ebenso werden die Verflechtungen von deutschem Imperialismus und Globalisierung ins Blickfeld gerückt.. Auf welche Weise wurden Modelle von Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien etabliert und herausgefordert? Wie nahmen deutsche Firmen an der Formierung kolonialer und postkolonialer Ökonomien teil?
"Deutschland postkolonial":
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist oft als Periode der kolonialen Amnesie sowohl in West- als auch in Ostdeutschland beschrieben worden, obwohl die koloniale Vergangenheit nie gänzlich aus akademischen oder öffentlichen Diskussionen verschwand. Verschiedene Erinnerungskulturen formierten sich innerhalb Deutschlands und koloniale Diskurse lebten in ökonomischen und internationalen Beziehungen, Entwicklungshilfe, Tourismus etc. weiter. Gleichzeitig erlebten die deutschen Gesellschaften die Dekolonisationsphase der 1950er- und 1960er-Jahre aus der Perspektive von Außenstehenden. Die letzten zwanzig Jahren markieren schließlich eine Rückkehr und feste Etablierung verschiedener Debatten in der deutschen Öffentlichkeit über Kolonialismus – allen voran den Umgang mit dem Genozid an Herero und Nama sowie die Rückgabeforderungen der geraubten Kunstgüter aus den ethnologischen Museen. Fragen: In welcher Weise prägten koloniale und antikoloniale Diskurse die deutschen Gesellschaften in der Dekolonisationsära? Wie wurde deutscher Kolonialismus erinnert oder vergessen?
Die Konferenz soll uns die Möglichkeit bieten, aktuelle Forschungsperspektiven zur deutschen Kolonialgeschichte weiter auszubauen. Sie soll insbesondere diese Perspektiven und Themen einem frankophonen Publikum näher bringen und folgt damit einer Reihe von Konferenzen und Publikationen, die bereits einen Austausch über die Rezeption und Diskussion deutscher Kolonialgeschichte in Frankreich begonnen haben. Die genannten Schwerpunkte sind dabei thematisch, chronologisch und geographisch bewusst breit angelegt und sollen sich nicht auf den Genozid an den Herero und Nama, der vor allem in Frankreich den Einstiegspunkt zu einer Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte bietet, beschränkt sein. Über einen deutsch-französisch Rahmen hinaus soll die Konferenz zusätzlich die Möglichkeit bieten, die Forschung zum deutschen Kolonialismus mit den neuesten Entwicklungen zur Geschichte von Kolonien und Imperien zu verbinden.
Die Konferenz findet am Donnerstag, 23. Mai und Freitag 24. Mai 2024 in Paris am Deutschen Historischen Institut statt. Interessierte bitten wir um einen Abstract (samt Vortragstitel) ihres Vortrages von maximal 300 Wörtern (oder 2.000 Zeichen) sowie eine kurze biographische Notiz oder einen Lebenslauf. Abstracts können auf Deutsch, Französisch oder Englisch eingereicht werden. Konferenzsprach ist Englisch. Senden Sie ihre Unterlagen vor dem 15. Juli 2023 an die folgenden Adresse (german.colonialism@gmail.com). Diese Mailadresse kann auch für jegliche Anfragen bezüglich der Konferenz genutzt werden.
Reise- und Unterbringungskosten für Konferenzteilnehmer:innen ohne institutionelle Förderung werden nach Maßgabe der noch verfügbaren Mittel übernehmen. Wir ermutigen insbesondere Nachwuchswissenschaftler:innen und Wissenschaftler:innen aus dem Globalen Süden sich zu bewerben. Eine Publikation auf Basis der Konferenzvorträge in einem peer-reviewed journal wird angestrebt.
Das wissenschaftliche Komitee zur Auswahl der Beiträge besteht aus: Hélène Blais (École Normale Supérieure, Paris), Antje Dietze (Universität Leipzig), Walter Nkwi Gam (Universiteit Leiden), Christine de Gemeaux (Université de Tours), Joël Glasman (Universität Bayreuth), Henry Kah (Universiteit Leiden), Yixu Lu (University of Sydney), Catherine Repussard (Université de Strasbourg) und Jakob Vogel (Science Po Paris).
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