Keine Kultur kommt ohne Regeln aus. Ob staatliche Anordnungen, Gesetze und Bräuche, bewährte Konventionen, eingeübte Verhaltensweisen, kunstvolle Reglements des Spiels oder auch generelle Regeln des Umgangs: In jeder Gesellschaft organisieren mehr oder weniger kodifizierte Regelungen die Lebensführung und legen sie dabei mitunter bis ins Detail fest.
Eine wegweisende Gesamtschau zur Thematik bietet neuerdings die Monografie der Berliner Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston, die sich in ihrem jüngsten Buch ausführlich mit der Bedeutung von historisch gewachsenen Regeln für unser heutiges Leben auseinandergesetzt hat (1). Angeregt von diesen Nachforschungen zur historischen Dimension von Regeln und Reglements in Staat, Gesellschaft, Familie und Schule will die Konferenz jene Regeln in den Blick nehmen, die im 18. Jahrhundert entweder erstmals geformt, ganz neu bedacht oder anders kodifiziert wurden. Denn es ist auffällig, dass in diesem Jahrhundert Regeln eine neue Bedeutung zugesprochen bekamen und ein größeres Gewicht erhielten als in früheren Zeiten – vor allem in Europa und in Nordamerika, jenen Ländern also, die sich in dieser Zeit in besonderer Weise für die Ideen der Aufklärung öffneten. Zum Beleg des Bedeutungswandels von Regeln im 18. Jahrhundert mögen einige Beispiele genügen:
1. Während im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen die Rechtschreibung noch völlig ungeregelt war und es im Frühneuhochdeutschen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts allenfalls erste Versuche zur Vereinheitlichung der Orthografie gab, wurde die deutsche Schriftsprache im 18. Jahrhundert erstmals mit genauen Regeln fixiert, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben (vgl. Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie. Leipzig 1788).
2. Während die Menschen in ihrem Freizeitverhalten in Sport und Spiel bis in die Frühe Neuzeit hinein eher ungezwungen agierten, ob beim Eislaufen in den Niederlanden oder beim Ballsport in England, wurden diese Betätigungen im 18. Jahrhundert plötzlich mehr und mehr im Rahmen von allseits akzeptierten Regeln ausgeübt, wofür gerade die Debatte über die Regeln des Schwimmens und Schwimmenlernens ein guter Nachweis ist (vgl. etwa Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst zum Selbstunterrichte, Weimar 1798).
3. Und schließlich waren im 18. Jahrhundert auf einmal Benimmregeln gefragt, die die Formen des Miteinanders bis in alltäglichste Verrichtungen hinein sehr viel besser nachvollziehbar machen und in vorbildlicher Weise vor Augen führen sollten als zu früheren Zeiten (vgl. vor allem Adolf von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1788).
Die Konferenz möchte dem Bedürfnis des Zeitalters der Aufklärung, die Abläufe des Lebens erkennbar anders oder ganz neu zu regeln, intensiver auf die Spur kommen, um zu neuen Deutungen dieses Phänomens des Regeln-Wollens zu gelangen. Dies geschieht auch mit Blick auf heute existierende Regeln, die sich in ihren Ursprüngen vielfach auf das 18. Jahrhundert rückbeziehen lassen.
Die Konferenz findet im historischen Rochow Kulturensemble Reckahn statt, einem Museums- und Tagungsort, der seit mehr als zwei Jahrzehnten Forschungen und Ausstellungen zum 18. Jahrhundert veranstaltet, insbesondere solche, die das mit dem Ort verbundene bildungsgeschichtliche und volksaufklärerischen Reformgeschehen berücksichtigen. Deshalb liegt im interdisziplinären Tagungsprogramm ein Schwerpunkt auf jenen Regeln und Regelwerken, die in der pädagogischen und schulischen Praxis sowie der wissenschaftlich-pädagogischen Reflexion des 18. Jahrhunderts und in den allgemeinen Bildungsprozessen der damaligen Zeit eine hervorragende Rolle gespielt haben.
(1) Lorraine Daston: Rules. A Short History of What We Live By. Princeton & Oxford, Princeton University Press 2022.