Die Geschichte der Exploration verbindet technik-, umwelt- und wissensgeschichtliche Fragestellungen. Das Wissen über die globale Natur beruht auf der Entwicklung und dem Einsatz von Explorationstechniken. Von der Kleidung bis zur konservierten Nahrung sind Ausstattung und Alltag vielfach Teil einer technisierten materiellen Massenkultur. Schiffe, Flugzeuge, Schneemobile, Forschungsstationen und Satelliten sind dabei in globale Infrastrukturen eingebunden. Auch in den kulturellen Repräsentationen spielen Technik und der erforschte Naturraum eine zentrale Rolle, etwa wenn Forscherinnen und Forscher in rauer Natur inszeniert werden, geleitet von der indigenen Bevölkerung den Regenwald erkunden oder Eisbären mit dicken, kunststoffummantelten Kabeln spielen, die die Experimente mit dem Schiff verbinden. Die politischen Begründungen für die Erforschung und ihre Finanzierung haben sich seit der Kolonialzeit verändert. Für die deutsche Polarforschung sind seit den 1970er Jahren Klimaforschung und Naturschutz an die Stelle der Ressourcenerschließung getreten (vgl. Christian Kehrt oder Franziska Torma). In den USA prägen militärische Interessen die maritimen Explorationstechniken und die Wissensproduktion über die Ozeane viel entscheidender als etwa in Deutschland (vgl. Naomi Oreskes). Solche grundlegenden praktischen und imaginären Zusammenhänge von Explorationstechniken und extremen Umwelten gilt es in historischer Perspektive zu untersuchen. Die Tagung untersucht die Interdependenzen von Innovation, Technikanwendung, wissenschaftlicher Fragestellung, betriebs- und volkswirtschaftlicher Rechtfertigung, naturräumlicher Widerständigkeit, populärer Erzähl- und Bildwelt, kolonialer Machtasymmetrie sowie globalpolitischer Konkurrenz und Kooperation. Die Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte (GTG) im Jahr 2024 widmet sich somit kritischen Perspektiven auf die Explorationsgeschichte.
Mögliche Themenfelder sind:
a) Materielle Kultur und Überlebenstechniken
In Umwelten, die als gefährlich, rau oder als bedrohlich für Gesundheit und Leben bezeichnet werden, zeigen sich verändernde Beziehungen zwischen Mensch und Natur. Bereits im 19. Jahrhundert waren Konservendosen als Produkte der materiellen Massenkultur für Forschungsreisen unverzichtbar. Umgebungen wie der Weltraum oder die Tiefsee sind für den Menschen ohne Überlebenstechniken oder ferngesteuerte Sonden unzugänglich. Die Erforschung solcher Naturräume erfordert daher einen enormen technischen und logistischen Aufwand.
b) Technikentwicklung und -erprobung
Die Erkundung extremer Umwelten ist eng mit Prozessen der Technikentwicklung und -erprobung, mit dem Einsatz von Technik, aber auch mit Marketing und Verkauf technischer Produkte verbunden. Häufig war die Erprobung und Inszenierung von Technik ein zentrales Motiv für Expeditionen. Ein Beispiel sind die „Croisières“ des Automobilherstellers Citroën in den 1920er Jahren. Mit spektakulären Reisen in den kolonialen Raum wurden technische Leistungsfähigkeit und französische weltpolitische Ansprüche inszeniert. Heute ist die technische Erprobung beispielsweise in Raumfahrtprogrammen als Voraussetzung für größere Missionen zentral.
c) Ressourcen und Extraktion
Umwelten wie der Weltraum, die Tiefsee oder die Polarregionen wurden und werden als Ressourcenräume begriffen. Bei Planungen und Projekten spielt Technik oft eine zentrale Rolle. Welche Bedeutung kommen volks- und betriebswirtschaftliche Überlegungen bei der Technikentwicklung zu? Wie werden extreme Umwelten als Ressourcenräume imaginiert? Wie wird Technik für Extraktionsvorhaben konzipiert, entwickelt und eingesetzt? In welchem Verhältnis steht Technik zu (geo-)politischen Interessen?
d) Techniken der Feldforschung
Vermessungstechnik, Fotografie, Fundkonservierung, mobile Laboratorien und viele andere einfache und hochspezialisierte Techniken sind für die Feldforschung unverzichtbar. Darüber hinaus ist oft ein enormer logistischer Aufwand nötig, um Forschende an entlegene Orte zu bringen und dort umfangreiche Daten zu erheben und zu verarbeiten. Wie haben Technisierungsprozesse die Forschungspraxis verändert? Weitere Themen sind ferngesteuerte Systeme wie Raumsonden oder Tauchboote oder die satellitengestützte Fernerkundung, die Umwelterfahrungen für Forschende verändern und Fragen nach der Rolle des Menschen im technischen Ensemble aufwerfen.
e) Von Animal Studies bis Klimaforschung
Technisierte Exploration stellt historisch wandelbare Beziehungen zum erforschten Naturraum her. Welche Vorstellungen von der natürlichen Welt werden produziert, wo prägt die Widerständigkeit der Umwelt den Verlauf und das Ergebnis der Erkundung, auch unerwartet? Tierische Arbeitskraft war für Expeditionen lange Zeit unentbehrlich, man denke nur an Schlittenhunde, die Mobilität sicherten und im Notfall auch als Kalorienlieferanten für Menschen herhalten mussten. Gleichzeitig war und ist das Wissen, das in extremen Umgebungen, etwa bei Eiskernbohrungen, gewonnen wird, zentral, etwa für das Verständnis globaler Klimasysteme.
f) Kolonial- und Politikgeschichte von Natur und Technik
Die Erforschung und Erschließung entlegener Orte auf der Erde – und darüber hinaus – erzeugt Bilder und Erzählungen, die dem Publikum die historischen Beziehungen zwischen Zivilisation, menschlicher Technik und Natur vor Augen führen. Solche Unternehmungen führen an Orte, die unzugänglich, unerforscht, gefährlich oder unbekannt sind oder zu sein scheinen. Oft – aber nicht immer – sind diese Räume bewohnt, und westliche Reisende greifen auf das Wissen und die Arbeitskraft der Bewohnerinnen und Bewohner zurück oder machen sie selbst zu Forschungsobjekten. Für die Zeit des Kalten Krieges stellen sich Fragen nach dem Verhältnis von Technikentwicklung und -nutzung einerseits und strategischen Interessen andererseits, etwa bei der Erforschung und Nutzung der Polarregionen oder des Weltraums.
g) Bilder und Mythen in der Explorationsgeschichte
Spätestens seit Lisa Blooms „Gender on Ice“ (1993) oder Beau Riffenburghs „Myth of the Explorer“ (1995) werden die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Populärkultur, Geschlechterrollen, Wissenschaft, Imperialismus und der Rolle der Massenmedien von der historischen Forschung thematisiert. Welches Verhältnis von Technik, Natur und Geschlecht wird hier imaginiert bzw. praktiziert? Wie wird (technisches) Scheitern thematisiert? Wie haben sich literarische, mediale und popkulturelle Mythen- und Bildwelten verändert?
h) Sammeln, ausstellen und vermitteln
Feldforschung ist fast immer an Institutionen gebunden. Hier „zu Hause“ werden die Daten archiviert und oft auch ausgewertet. Viele Sammlungen in natur-, kultur- und technikhistorischen Museen gehen auf Expeditionen zurück. In den letzten Jahren sind Fragen nach den kolonialen und politischen Kontexten, in denen die Sammlungen zusammengetragen wurden, in den Mittelpunkt gerückt. Ausstellungen präsentieren die Ergebnisse dieser Forschungen und sind ein Ausdruck zeitgenössischer oder historischer Interpretationen und Ordnungssysteme: Seien es klassifizierte Tierensembles in Naturkundemuseen, inszenierte Räume in ethnologischen oder archäologischen Museen oder einzelne Highlights der Explorationstechnik in technischen Museen. In welchem Zusammenhang stehen Forschungstechniken, die erforschten Naturräume und Präsentationstechniken? Welche Rolle spielt das Format Ausstellung bei der Vermittlung technisch erzeugter, häufig abstrakter Daten und den daraus gewonnenen Forschungsergebnissen? Welche Bedeutung hat Technik für den langfristigen Erhalt und die Verfügbarkeit von Forschungsdaten?
Die Jahrestagung der GTG wird vom 2. bis 4. Mai 2024 im Deutschen Technikmuseum Berlin unter Mitorganisation von Dr. Nora Thorade (Deutsches Technikmuseum Berlin) stattfinden. Die Tagung ist Teil des Rahmenprogramms zur Sonderausstellung „Dünnes Eis“, die die internationale MOSAiC-Expedition beleuchtet, die 2019/2020 unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts in der Arktis durchgeführt wurde. Mitorganisator der Tagung ist außerdem der Leiter des DFG-geförderten Wissenschaftlichen Netzwerks „Moderne Expeditionen“ Dr. Eike-Christian Heine (https://expeditions.hypotheses.org).
Der Programmausschuss der Gesellschaft für Technikgeschichte bittet um die Einsendung von Abstract (max. 400 Worte) und CV (max. eine Seite). Es sind Vorschläge für Einzelvorträge (max. 20 min) oder ganze Sektionen (3-4 Beiträge) gewünscht. Fallstudien sind ebenso willkommen wie Beiträge zu einer methodischen Fundierung des Themenfeldes, gerne auch in interdisziplinärer Perspektive. Vorschläge von Tagungsbeiträgen (dt. oder engl.) sind bis zum 14. Januar 2024 erbeten an: gtg2024@technikmuseum.berlin