Schon in Johann Gustav Droysens Historik spielte die Topik eine große, wenn auch in der Rezeption oft untergeordnete Rolle. Befreite sich die Geschichte als Wissenschaft im 19. Jahrhundert schrittweise aus dem Feld der schönen Künste, wurde doch immer wieder die Frage aufgeworfen, welche Rolle die Erzählkunst für sie spielte. Nicht zuletzt erhielt Theodor Mommsen für seine Römischen Geschichte den Nobelpreis für Literatur. Auch im 20. Jahrhundert nahmen gerade die Vertreter der klassischen Politikgeschichte oft für sich in Anspruch, gute Erzähler zu sein. Während die philosophischen Diskussionen über das Verhältnis von Erklären und Verstehen und die spezifische Struktur historischer Erklärungen im Fach kaum Widerhall fanden, trat das Geschichtenerzählen in der Form der Geschichtsschreibung in den Hintergrund, die sich ab den 1960er Jahren als historische Sozialwissenschaft begriff. Im Anschluss an die systematischeren Nachbardisziplinen sollten Historiker:innen nicht mehr primär erzählen, sondern vergangene Zusammenhänge analysieren, Entwicklungen erklären und ein Argument formulieren. Die Diskussion um die Formen der historischen Darstellung erhielt in den 1970er Jahren einen neuen Schub vor allem durch Hayden Whites Untersuchung der narrativen Strukturen historiographischer und literarischer Texte. Seitdem hat sich die Narrativitätsdiskussion enorm ausdifferenziert, ohne dass ihr Bezug zur historiographischen Praxis immer ganz klar ist. Während die Bedeutung von „Narrativen“ inzwischen so weit anerkannt ist, dass selbst Ökonom:innen versuchen, ihre Verbreitung und Wirkung zu bestimmen, werden Narrativ und Argument in der deutschen und englischsprachigen Historiographiediskussion bisweilen austauschbar gebraucht. Ein historisches Buch, so der weitgehende Konsens, muss zumindest eins davon haben.
In der neunten Diskussion unserer Reihe „Geschichtliche Grundfragen“ diskutieren wir vor diesem Hintergrund, ob Historiker:innen beschreiben, erzählen, argumentieren oder analysieren. Dabei geht es zum einen um das Ziel des historiographischen Unterfangens: Soll eine Geschichte erzählt werden, die möglichst viele Leser:innen findet? Soll ein historischer Sachverhalt beschrieben (vielleicht auch: dicht beschrieben) und/oder analysiert werden, um die Erkenntnis für die Scientific Community zu vergrößern? Oder soll ein Argument entwickelt werden, das sich auf eine Forschungsdiskussion bezieht oder aus dem vielleicht auch Lehren für andere Konstellationen und die Gegenwart zu ziehen sind? Oder ist gute Geschichtsschreibung immer alles zugleich? Zum anderen wollen wir diskutieren, welche Bedeutung die Entscheidung über diese Fragen für die konkrete Forschungs- und Schreibpraxis hat: Wie arbeiten und schreiben Historiker:innen, wenn sie beschreiben, wenn sie erzählen, wenn sie argumentieren und wenn sie analysieren wollen?
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Zur Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen":
Mit den sozial-, geschlechter-, kultur- und globalgeschichtlichen Erweiterungen der Geschichtswissenschaft vor allem seit den 1970er Jahren sind ihre Themen vielfältiger, die theoretischen Ansätze und Methoden pluraler und Forschungsdesigns multiperspektivischer geworden. Dementsprechend hat die Komplexität des Fachs zugenommen, das heute in seiner Vielgestaltigkeit gerade auch über die Epochengrenzen hinweg kaum noch zu überblicken ist. Angesichts dieser Pluralisierung scheinen die Konturen der Geschichtswissenschaft zu verschwimmen, was von den einen als „anything goes“ beklagt und von anderen als notwendige Diversitätssteigerung begrüßt wird. Unserer Ansicht nach stellen sich aber auch angesichts der Vervielfältigung von Perspektiven, Zugängen und Quellenkorpora auf einer ganz basalen Ebene des historischen Arbeitens noch immer gleiche oder zumindest ähnliche Grundfragen: Was ist eine gute historische Frage? Gibt eine Einheit der Geschichte oder nur partiale Geschichten? Wie politisch kann, darf und muss Geschichte sein? Ist historische Erkenntnis objektiv? Wie sollen die räumlichen und zeitlichen Bezüge unserer Forschungen gestaltet sein?