Internationale Konferenz "Gespaltene Geschichtskulturen? Die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges für die Etablierung nationalstaatlicher Symboliken und kollektiver Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa", L'viv, Ukraine, 30. Mai bis 1. Juni 2003.
Eine Veranstaltung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Leipzig, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichtswissenschaften der Nationalen Ivan Franko-Universität L'viv, dem Goethe-Institut Kiev und der Lemberger Zeitschrift "Ji"
Leitung: Prof. Dr. Stefan Troebst (GWZO) und Wilfried Jilge M.A. (GWZO) in Kooperation mit Prof. Dr. Jaroslav Hrycak (Nationale Ivan Franko-Universität L'viv) und Taras Voznjak ("Ji", L'viv)
Nach dem Zerfall der sowjetischen, jugoslawischen und tschechoslowakischen Föderationen in zwei Dutzend Nachfolgestaaten steht dort das Problem der Konstruktion einer einheitlichen Nationalgeschichte im Zentrum öffentlicher Debatten. So werden mit einer neu geschaffenen nationalstaatlichen Symbolik, also mit Staatswappen, Flagge, Hymne, Orden und anderen nationalen Hoheitszeichen, sowie mit staatlichen Gedenk- und Feiertagen bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten mit dem Ziel erinnert (oder vergessen), die Existenz der heutigen, "jungen" Staaten durch den Nachweis einer bis in älteste Zeiten zurückreichenden staatlichen Tradition zu legitimieren. Der komplexe Zusammenhang von Geschichtskultur und historischer Erinnerung einerseits und den weiter im Gange befindlichen Nationsbildungsprozessen in Ostmitteleuropa andererseits bildet den thematischen Rahmen der Konferenz.
Seit der Perestrojka-Zeit bzw. dem Zerfall der Sowjetunion spielte die Periode des Zweiten Weltkriegs in den Debatten um Symbolik und Nationalgeschichte in Ostmitteleuropa und insbesondere in den hier besonders interessierenden Ländern wie der Ukraine, Kroatien und der Slowakei eine wichtige Rolle. Der Grund dafür liegt in der zentralen Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für zwei Formen von Geschichtskulturen: die sowjetische (sozialistische) bzw. sowjetisch-nationale (sozialistisch-nationale) Geschichtskultur und die nationalistisch-antisowjetische (nationalistisch-antisozialistische) Geschichtskultur. Sie prägen entscheidend die historische Erinnerung der Gesellschaften der erwähnten Staaten und die Debatten um die nationale Vergangenheit. Die unterschiedliche Rezeption der nationalstaatlichen Symbolik nach 1991 in verschiedenen Teilen der Gesellschaft ist eng mit der Nachwirkung und dem Widerstreit dieser beiden (hier freilich idealtypisch beschriebenen) Geschichtskulturen und den ihnen zugrundeliegenden Geschichtsbildern verbunden.
Für die Etablierung einer sowjetischen Geschichtskultur diente der Zweite Weltkrieg in "antifaschistischer" Optik als Schlüsselereignis zur Legitimierung der Existenz der sowjetischen und sozialistischen Staatlichkeit. Dies äußerte sich in der Schaffung zahlreicher Gedenktage und der Inszenierung aufwendiger, staatlicher Feierlichkeiten zur Erinnerung des "Sieges über den Faschismus" sowie in dem Helden-Gedenken an Soldaten, Partisanen und einzelne Schlachten des Zweiten Weltkrieges in Form von Denkmälern, Orden und Medaillen. Demgegenüber steht die nationalistische Interpretation des Zweiten Weltkriegs als antisowjetischer Freiheitskampf gegen das "Moskauer Joch". In der nationalistischen Optik stehen die Staatsbildungsversuche bzw. die kurzen Staatlichkeitsphasen während des Zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt, die wesentlich zur Popularisierung, Bewahrung und Schaffung von nationalstaatlichen Symbolen beitrugen. Nach 1989 griffen die nationalen Bewegungen nicht zuletzt auf die in dieser Phase popularisierte nationalstaatliche Symbolik und andere mit dieser Periode verbundene historische Figuren und Ereignisse zurück, um eine Staatssymbolik für die unabhängigen Nationalstaaten zu etablieren. In nationaler Optik werden diese Phasen der Staatlichkeiten als wichtige Etappen der Staatsbildung von einem Teil der Bevölkerung akzeptiert.
Die Bewertung der kurzen Staatlichkeitsphasen bzw. Staatsbildungsversuche und damit die Bedeutung der in diesem Zusammenhang verwendeten und popularisierten Symbolik sind in den Gesellschaften der genannten Länder jedoch heftig umstritten. In der Ukraine beispielsweise versuchten Organisationen der Ukrainischen Nationalisten, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Formen mit den Deutschen kollaborierten, in Zusammenarbeit mit der deutschen Wehrmacht 1941 in Lemberg einen Staat zu proklamieren. Bei den kurzen Phasen der Staatlichkeit in Kroatien und der Slowakei handelte es sich um autoritäre, faschistische oder klerikal-faschistische Staaten, die abhängig von der deutschen Besatzungsmacht waren. Daher sind bestimmte Aspekte dieser Periode auch Teil einer verdrängten Geschichte, da sie häufig mit der Frage nach Kollaboration mit der Besatzungsmacht oder der Beihilfe Einheimischer bei der Deportation und Ermordung von Minderheiten, vor allem Juden sowie mit der blutigen Auseinandersetzung mit anderen Nachbarnationen verbunden sind (z.B. das gerade durch den Zweiten Weltkrieg so belastete ukrainisch-polnische Verhältnis).
In der Konferenz soll beleuchtet werden, wie der Zweite Weltkrieg als Katalysator zur Verbreitung einer nationalstaatlichen Symbolik wirkte und auf welche Weise mit dieser Symbolik die Traditionen der ersten Staatsbildungsphasen 1917-1921, 1918-1939 sowie 1939/41-44 weitergeführt, verändert oder modifiziert wurden. Desgleichen soll die Frage behandelt werden, ob, wie und in welchem Ausmaß die unterschiedliche Deutung des Zweiten Weltkriegs bzw. die Konfrontation der sowjetischen und nationalistisch-antisowjetischen Geschichtskulturen die Schaffung einer meist geschichtsträchtigen Staatssymbolik und damit auch eines konsens- und integrationsfähigen nationalen Selbstbildes nach 1989 erschwert hat (wie im Falle der Frage nach der Auswahl staatlicher Gedenktage in der Slowakei) oder phasenweise völlig unmöglich gemacht hat (wie z.B. die Annahme des Wappens in der Ukraine).
Die Konferenz ist eine Unternehmung des DFG-geförderten Projekts "Visuelle und historische Kulturen Ostmitteleuropas im Prozeß staatlicher und gesellschaftlicher Modernisierung seit 1918" des GWZO (Leitung: Prof. Dr. Stefan Troebst) und des dort angesiedelten Untervorhabens Untervorhabens "Nationale Symbolik und Staatsneugründungen in Kroatien, der Slowakei und der Ukraine, 1918, 1939/41-1944 und seit 1991/93" (Bearbeiter: Wilfried Jilge M.A.).