II. Internationaler Kongreß für Pietismusforschung

II. Internationaler Kongreß für Pietismusforschung

Veranstalter
Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus
Veranstaltungsort
Franckesche Stiftungen zu Halle
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.08.2005 - 01.09.2005
Deadline
20.09.2004
Von
Verantwortlich: Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung

DIE "NEUE KREATUR"
Pietismus und Anthropologie
Erinnerung - Erneuerung - Erwartung

Vom 28. August bis zum 1. September 2005, im Jahr des 450. Geburtstages von Johann Arndt und des 300. Todestages von Philipp Jakob Spener, findet in Halle a.d. Saale der II. Internationale Kongress für Pietismusforschung statt.

Wie der erste Kongress, an dem im Spätsommer 2001 rund 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 19 Nationen teilgenommen haben, wird auch der zweite Kongress vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (IZP) in Zusammenarbeit mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus ausgerichtet. Im Unterschied zum ersten Kongress, bei dem bewusst auf eine thematische Eingrenzung verzichtet wurde, weist der zweite eine inhaltliche Perspektivierung auf das Verhältnis von Pietismus und Anthropologie aus, die gleichwohl - entsprechend der ‚Internationalität' und ‚Interdisziplinarität' des historischen Phänomens - einen weiten Horizont denkbarer Beiträge eröffnet. Die bewährte Kongressstruktur mit übergreifenden Hauptvorträgen und Sektionsreferaten wird auch im Jahr 2005 beibehalten und um thematisch gebundene Workshops ergänzt.

Diese inhaltliche Fokussierung trägt dem anhaltenden Interesse am Thema Anthropologie in der disziplinären und der interdisziplinären human- und kulturwissenschaftlichen Forschung Rechnung und soll den - aus der historischen Konstellation (gerade in Halle) gebotenen - Dialog mit der Aufklärungsforschung vertiefen und intensivieren. Zugleich ist über das neutestamentliche Bibelwort von der "neuen Kreatur" die Erschließung und Konturierung von anthropologischen Konzepten angesprochen, die der Pietismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen rezipiert, die er entwickelt und - in unterschiedlichen Textsorten und literarischen Gattungen - formuliert und womit er einen Beitrag zur ‚anthropologischen Wende' im 18. Jahrhundert geleistet hat.

Der Untertitel "Erinnerung - Erneuerung - Erwartung" bezieht das Bibelwort von der "neuen Kreatur" auf zentrale Leitkategorien für den Pietismus und für das, was pietistische Anthropologie zu nennen wäre: die "Erinnerung" ebenso an prälapsal-paradiesische und urchristliche Zeiten wie an die postlapsale Verderbtheit und Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, die "Erneuerung" zur "neuen Kreatur" durch die den ‚alten Adam' vernichtende, den Menschen von Grund auf verändernde Kraft der göttlichen Gnade, des Glaubens und der praxis pietatis und schließlich die ‚Erwartung besserer Zeiten' und einer "Generalreformation der Welt", die ihre Erfüllung im 1000jährigen Reich Christi finden.

Das weite, mit dem bündelnden Terminus "Historische Anthropologie" umrissene Feld ist nach gut dreißigjähriger Forschung übersichtlich parzelliert, die Parzellen sind begrifflich scharf gefasst, phänomenologisch jedoch übergängig. Jenes ist eine wissenschaftspragmatische Notwendigkeit, die der überfachlichen Kommunikation und Diskussion dient; dieses resultiert zwangsläufig aus der schwierigen historischen Sachlage. In Rede stehen und wissenschaftlich verhandelt werden: die theologische, die philosophische, die medizinisch-psychologische, die pragmatische, die ästhetische und die literarische oder poetische Anthropologie. Eine geleistete Forschungen resümierende, Probleme benennende, Methoden reflektierende und Perspektiven eröffnende Überschau bot 1992 die von dem Literaturwissenschaftler Hans-Jürgen Schings initiierte DFG-Tagung "Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert" (Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposium 1992. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart, Weimar 1994 (enthält eine Auswahlbibliographie zur Erforschung der [literarischen] Anthropologie im 18. Jahrhundert [1975-1993]). Vgl. auch Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6, 1994, 93-157). Abgesehen von gelegentlichen Rückgriffen ins ‚barocke' 17. und gelegentlichen Vorgriffen ins ‚romantische' frühe 19. Jahrhundert spielten - selbstverständlich - die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und deren vor allem poetisch manifeste Filiationen, die Empfindsamkeit und der Sturm und Drang, eine (angemessen) überragende Rolle. Keine Rolle spielte dagegen die neben der Aufklärung zweite wirkmächtige Reformbewegung des 18. Jahrhunderts: der regional und territorial, historisch und fachlich facettenreiche Pietismus. Das ist aus der gegenwärtigen Forschungslage heraus verständlich, bedeutet aber angesichts der zur Verfügung stehenden Quellen eine Herausforderung für die interdisziplinäre Pietismusforschung.

Dass es nur wenige Untersuchungen zur pietistischen Anthropologie gibt, hat sicherlich einen Grund darin, dass der Pietismus meist als eine in erster Linie religiöse und soziale Reformbewegung betrachtet wird, so dass unter den Leitkategorien Traditionsverhaftung und Traditionsbruch vor allem dessen theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Herkunft und dessen Verhältnis zu Frömmigkeitsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa (Puritanismus, Quietismus, Jansenismus, Nadere Reformatie) diskutiert werden. Gegenüber der Frage nach der Genese haben die Fragen nach dem Fortleben und dem Fortwirken des Pietismus während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und nach der über Theologie und Frömmigkeitspraxis ausgreifenden Traditionsbildung im und durch den Pietismus weniger beschäftigt. Von den Quellenbeständen her wird ein Grund für den Mangel an anthropologischen Forschungen zum Pietismus darin liegen, dass der Pietismus - im Unterschied zur Aufklärung - nicht ausdrücklich Anthropologien formuliert hat. Anthropologisches Wissen ist über die pietistischen Quellenkorpora verstreut (theologische, pädagogische und medizinische Abhandlungen und Traktate; Predigten, Briefe und Lebensläufe, Krankenberichte etc.), es wird verdeckt entfaltet und ist der Darstellung und der Diskussion des anstehenden Gegenstandes implizit.
Der Begriff Anthropologie begegnet freilich häufiger in der disziplinären und interdisziplinären Pietismusforschung. Forschungen zur Anthropologie im Pietismus gibt es vor allem in der Medizin- und Pharmazie- sowie in der Pädagogikgeschichtsschreibung. Die fachliche Konzentration ist nahe liegend, greift aber zu kurz, wenn mit Herder und Kant davon ausgegangen wird, dass neben "Bemerkungen der Ärzte" v.a. auch "Briefe" und "Lebensbeschreibungen einzelner Menschen" und "Weissagungen und geheime Ahndungen der Dichter" sowie "Reiseberichte" wesentliche Quellen für das im 18. Jahrhundert zur Anthropologie verdichtete Wissen vom Menschen bieten. Quellen dieser Art und Provenienz sind für die Pietismusforschung reichlich vorhanden. Dennoch steht eine historisch-systematische Antwort auf die Frage, wie sich seit dem späten 17. bis in das 19. Jahrhundert das Verhältnis von Anthropologie und Pietismus darstellt und was unter pietistischer Anthropologie oder unter Anthropologie des Pietismus zu verstehen wäre, noch aus.

Gerade im Blick darauf, dass dem Pietismus von der Forschung häufig eine eminente Prägekraft für die Künste und die Wissenschaften seit dem späten 17. Jahrhundert attestiert wird, ist die Beschäftigung mit anthropologisch relevanten Dimensionen des Pietismus nahe liegend. Dem behaupteten, methodisch schwer zu fassenden Einfluss ist, oft unausgesprochen, die Annahme zugrunde gelegt, der Pietismus habe im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert Prozesse der ‚Erfahrungsbezogenheit', der ‚Verinnerlichung' und der ‚Individualisierung'sowie der ‚Subjektivierung' (mit)initiiert und in deren Folge einen mentalitätsgeschichtlich signifikanten Paradigmenwechsel bewirkt, der sich auch in modernen Kulturkonzepten und -praktiken sowie in den modernen (Natur-)Wissenschaften niedergeschlagen habe. Das wird ausgehend von einem ‚neuen' Frömmigkeitstypus und einer ‚neuen' Frömmigkeitspraxis insbesondere für die Literatur und die Musik sowie für die Pädagogik, die Medizin, die Pharmakologie und die Psychologie geltend gemacht.

Aufbauend auch auf Referaten und Diskussionen des I. Internationalen Kongresses, vor allem aus den Sektionen 2 (Der Pietismus in Staat und Gesellschaft), 3 (Der Pietismus und die Künste) und 4 (Der Pietismus in Pädagogik, Psychologie und Medizin), will der II. Internationale Kongress für Pietismusforschung Problemstellungen und Ergebnisse der Forschung aufgreifen, den Dialog mit der anthropologischen Aufklärungsforschung vertiefen und mit der Frage nach dem Verhältnis von Anthropologie und Pietismus vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine grundsätzliche Problematik ansprechen, deren Diskussion entscheidend zur Konturierung eines interdisziplinär gültigen und praktikablen Pietismusbegriffs beitragen und zugleich präzisere Einblicke in die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Pietismus erbringen kann.

Ausgehend von drei zentralen anthropologischen bzw. anthropologisch akzentuierenden Problemstellungen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert - (I.) Transformationen und Umbrüche im Verhältnis Gott und Mensch und Natur, (II.) das commercium mentis et corporis und (III.) das (Selbst-)Verständnis des Menschen als natürliches, als kulturelles und soziales Wesen - wird u.a. zu fragen sein:

(1.) nach Kontextualisierungen pietistischer Anthropologien im Zeitalter der europäischen Aufklärung und der ‚anthropologischen Wende' im 18. Jahrhundert;
(2.) nach Form, Aufbau und Abzweckung und
(3.) nach dem Verhältnis von Rezeptivität und Produktivität, von Tradition und Innovation in pietistischen Anthropologien;

(4.) nach Übereinstimmungen und Korrespondenzen, nach Spannungen und Widersprüchen innerhalb von und zwischen anthropologischen Entwürfen in theologischen, pädagogischen, medizinisch-psychologischen, in psychagogischen und diätetischen sowie ästhetischen Theoriebildungen des Pietismus;
(5.) nach geschichtstheologischen oder geschichtsphilosophischen Rahmungen und Funktionalisierungen von bzw. geschichtstheologischen oder geschichtsphilosophischen Elementen in pietistisch-anthropologischen Konzepten;
(6.) nach dem Durchsetzungsanspruch und der tatsächlichen Durchsetzung pietistisch-anthropologischer Konzepte in der Frömmigkeits- und Glaubenspraxis, in der Erziehung, der Bildung und der Soziabilisierung des Einzelnen und der Vergemeinschaftung bzw. der Gestaltung sozialer Gruppen;
(7.) nach dem Verhältnis von (äußerer) Mission, Reich-Gottes-Arbeit, Ethnographie und Ethnomedizin sowie
(8.) nach Wirkungen und Rezeptionen anthropologischer Konzepte des Pietismus in den Geistes-, in den Humanwissenschaften und in den Künsten seit dem 18. Jahrhundert.

Folgende Hauptvorträge sind vorgesehen

· Anthropologieforschung zum 18. Jahrhundert - Bestandsaufnahme, Fragen, Perspektiven
· Zur Idee des ,ganzen Menschen' im 18. Jahrhundert
· Zwischen Engel und Tier - ein Topos der Anthropologie im 17. und 18. Jahrhundert
· ‚Religion, eine Angelegenheit des ganzen Menschen'? Zum Verhältnis von Theologie und Religion, Anthropologie und Säkularisierung
· Grundlagen anthropologischer Konzeptionen im NT
· Nachreformatorische anthropologische Konzepte
· Mission
· Anthropologie, Politik und Soziales

Referate (30 Min.) in folgenden Sektionen werden hiermit erbeten

· 1. Theologisch-anthropologische Theoriebildungen, Frömmigkeitspraxis und die
(Wieder- )Geburt zur "neuen Kreatur" - Leben in der Spannung von Diesseits und Jenseits
· 2. Konzepte, Prozesse, Strategien und Formen der Vergemeinschaftung im Pietismus - Konventikel, Gemein(d)e, Ehe, Familie, Freundschaft
· 3. Gläubiger Christ, nützlicher Bürger, gehorsamer Untertan, gebildeter Mensch - Facetten des Menschenbildes im Pietismus
· 4. Pragmatische und ästhetische Anthropologie - sozialer Habitus, Kunsttheorie und
-praxis
· 5. Pietistisch-anthropologische Konzepte in Medizin, Pharmakologie und Psychologie - der an Leib und Seele gesunde Mensch
· 6. Mission im Pietismus zwischen Reich-Gottesarbeit, Ethnographie und Ethnomedizin

Impulsreferate (10-15 Min.) in folgenden Workshops werden hiermit erbeten

· Erschließung und Edition pietistischer Quellen
· Krankenberichte als Quellen anthropologischen Wissens
· Nationale und internationale Korrespondenznetze

Programm

Kontakt

PD Dr. Christian Soboth

Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung (IZP)

0345 - 55230-71/72/75
0345 - 5527238
jummrich@pietismus.uni-halle.de

www.pietismus.uni-halle.de