Bauern als Händler. Ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten im Zuge der Marktintegration (15.-19. Jahrhundert)

Bauern als Händler. Ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten im Zuge der Marktintegration (15.-19. Jahrhundert)

Veranstalter
Arbeitskreis Agrargeschichte
Veranstaltungsort
Max-Planck-Institut für Geschichte
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.06.2006 -
Deadline
30.09.2005
Von
Grüne, Niels

Bis heute unterliegen der Rede über Bauern in der Regel nicht offengelegte Annahmen und Vorstellungen, die in den vergangenen 250 Jahren in öffentlichen Debatten auf den Begriff gebracht und mehr oder weniger von Vereinen, Parteien und Agrarwissenschaftlern tradiert wurden. Seit den Anfängen der Volksaufklärung in den 1720er Jahren rückte der Bauernstand bzw. der gemeine Landmann zu einer öffentlich umworbenen Gruppe auf, deren gesellschaftliche Nützlichkeit insbesondere im Vergleich zum Adel eine wachsende Wertschätzung erfuhr (H. Böning, W. Conze, H. Wunder). Innerhalb kameralistischer und policeywissenschaftlicher Diskurse spielte die ökonomische Beurteilung der bäuerlichen Leistungskraft eine zunehmend wichtigere Rolle, während der Rechtsstatus von Bauern, der in den feudalen Agrarverfassungen ausschlaggebend gewesen war, nunmehr lediglich als ein Unterfall ökonomischer Planungen angesehen wurde. Im Frühliberalismus, in der Landwirtschaftslehre und Nationalökonomie des 19. Jh.s rückte die ökonomische Bewertung in den Vordergrund, indem die bäuerliche Landwirtschaft nach ihrer Boden-, Arbeits- und Kapitalproduktivität beurteilt wurde. Dem gewinnorientierten einzelnen Landwirt galt die ganze agrarwissenschaftliche Aufmerksamkeit, während Klein- und Parzellenbauern - wenn überhaupt - nur unter dem Aspekt ihrer Subsistenzerhaltung Beachtung erfuhren (soziale Frage, Bildung von Genossenschaften). Das Gegenbild zu dieser ökonomischen, teilweise auch sozialpolitischen Betrachtungsweise wurde von den 1820er Jahren an in der Volkskunde, Romantik und konservativen Rechts- und Staatslehre entworfen. In diesem Kontext galt der Bauernstand als Garant einer zu restaurierenden christlichen Ständegesellschaft mit monarchischer Spitze. Diese seit dem späten 18. Jh. miteinander konkurrierenden Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassungen mit ihren entsprechenden Vorstellungen von dem Bauern bzw. dem Bauernstand bestimmen teilweise bis heute den Diskurs über Bauern.

Von diesen traditionsreichen Bauernbildern als naiver Landmann, freier Landwirt, Standesvertreter und Garant alteuropäischer Grundwerte vermochte sich die deutsche Agrargeschichte nur langsam zu lösen. Die längst überfällige Debatte über die Kriterien zur Identifizierung historischer Individuen als Bauern ist zwar von R. Beck und W. Troßbach in den 1990er Jahren eröffnet worden, aber systematisch wurde sie nicht weiter vorangetrieben. Dabei ist dieses Desiderat bereits 1975 von R. Wenskus in einem forschungskritischen Essay näher erläutert worden. In diesem Essay weist er zum einen nach, daß begriffsgeschichtliche Untersuchungen nicht nur bei einer diachronen, sondern auch bei einer synchronen Analyse eher heterogene rechtliche, soziale und ökonomische Bestimmungen bäuerlicher Existenz zu Tage gefördert haben. Zum anderen problematisiert er die in der empirischen historischen Forschung ad hoc kreierten Termini wie „Adelsbauern“, „Bauernkaufleute“, „Bauernhandwerker“, „Arbeiterbauern“ etc. Denn abgesehen von den ihnen unterliegenden terminologischen Paradoxien erwiesen sie sich lediglich als mehr oder weniger geeignete Umschreibungen für raum- und zeitspezifische Sonderfälle, über deren Verallgemeiner- und insbesondere Vergleichbarkeit aber zumeist keine Rechenschaft abgelegt werde.

Mit der Tagung zum Thema Bauern als Händler wollen wir einen Beitrag zu diesem völlig offenen Forschungsfeld einer avancierten Sozialgeschichte der Bauern leisten, indem wir aus pragmatischen Gründen den Blick auf eine spezielle bäuerliche Gruppe richten, die mehr oder weniger stark im Agrarhandel tätig war. An ausgewählten Fallbeipielen sollen zum einen die jeweiligen Existenzbedingungen, Handlungsspielräume, Interessen und Absichten von Bauernhändlern ausgelotet, zum anderen ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung in den Blick genommen werden. Denn es stellt sich beispielsweise mit Blick auf die Forschungen von H. Kellenbenz über Handel treibende Bauern im Ostseeraum die Frage, ob sie sich nicht um so eher als Händler betätigten je weniger grundbesitzender Adel und Stadtobrigkeiten ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen vermochten. Das wirft selbstverständlich auch Fragen nach der Politik von Stadt- und Territorialherren auf.

1. In Phasen erhöhter Machtanballung bei Grundherren, Städtebünden und Territorialherren ist eine erhebliche Einschränkung des wirtschaftlichen Handlungsspielraums von Bauern zu beobachten (Spätmittelalter, 17. Jh.).
2. Von dieser Konstellation ist ein anderer Aspekt zu unterscheiden, wonach sich Bauern wegen unzureichender agrarischer Einkommensquellen (schlechte Böden) mehr oder weniger zum Engagement im Handel gezwungen sahen, um ihre Pachten und Steuern zahlen zu können.
3. Eine dritte Konstellation motivierte Bauern zum Handeltreiben, wenn die regionale Wirtschaftsstruktur sektoral wenig differenziert war, wie das beispielsweise in der linksrheinischen Pfalz, in Rheinhessen, am nördlichen Oberrhein, in Baden und in Oberhessen während des 18. bis zur Mitte des 19. Jh.s. der Fall war. Inwiefern diese Handel treibenden Bauern auf Dauer die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor Ort mit prägten, ist eine völlig offene Frage, für die aber manche neue Fallstudie Antworten bereithält.
4. Schließlich ist auf eine vierte Konstellation aufmerksam zu machen, in der Handel treibende Bauern in agrarischen Wachstumsregionen unterschiedliche Funktionen übernahmen, indem sie beispielsweise ihren agrarischen Betrieb durch ein Nebengewerbe erweiterten (Ziegelei, Gerberei, Mühlen, Fuhrunternehmung, Branntweinbrennerei etc.).

Wir möchten alle InteressentInnen zu Themenvorschlägen ermuntern, die sowohl die angesprochenen vier Konstellationen Handel treibender Bauern mit strukturgeschichtlichen Ansätzen und Fragestellungen beleuchten als auch an Fallbeispielen die Handlungsbedingungen und Optionen von einzelnen Bauernfamilien vorstellen. Die Tagung zielt nicht zuletzt auf die Frage ab, inwiefern es sich bei den vorzustellenden Vertretern um Bauern handelt bzw. welche Spielarten bäuerlicher Existenz unter bestimmten Konstellationen festgestellt werden können. Inwiefern vor dem Hintergrund der Beiträge und der erhofften Diskussion ein Beitrag zu einer Typologie an Bäuerlichkeit entworfen werden kann - analog zur Bürgertumsforschung, die sich verstärkt mit Bürgerlichkeit statt mit dem Bürgertum befaßt - , wird sich zeigen. Es sind insbesondere Beiträge zu verschiedenen Epochen erwünscht (Spätmittelalter bis 19. Jh.).
Bei der geplanten Tagung dürften folgende Gesichtspunkte im Mittelpunkt des Interesses stehen und sollten auch in den Vorträgen berücksichtigt werden, wobei grundsätzlich zwischen Rahmenbedingungen und Handlungsfeldern unterschieden werden sollte:

A.) Rahmenbedingungen

- innerhalb der Agrarverfassung sind der Rechtsstatus von Bauern, ihr Bodenrecht sowie die Zusammensetzung und Höhe ihrer Abgaben von Interesse.
- Inwiefern betrieb die Obrigkeit eine aktive, die Landbevölkerung betreffende Wirtschaftspolitik?
- Welchen Anteil hatten die Abgaben an dem erwirtschafteten Roheinkommen der Bauern?
- Welche Wirtschaftsstruktur lag der Region zugrunde (landwirtschaftliche und gewerbliche Schwerpunkte, Marktverhältnisse) ?
- Welchen Verlauf nahm die Bevölkerungsentwicklung und wie setzte sich die Bevölkerung zusammen?
- Welche Phasen an Agrarkonjunkturen und Agrarkrisen sind beobachtbar?

B.) Lokale Handlungsfelder

- Inwiefern reagierten Bauern auf veränderte Vermarktungschancen? Lassen sich Produktionsumstellungen feststellen, etwa auf marktgängigere Produkte?
- Gibt es überhaupt Kapitalbildung bei den Bauern und in welche Richtung?
- Welche Rolle spielten Familie und Verwandtschaft im Wirtschaftsverhalten marktorientierter Bauern?
- Wie funktionierte der Informationsaustausch unter den Bauern?
- In welchem Ausmaß und wie wurden lokale und überregionale Märkten in Anspruch genommen?
- Welche Ökotypen sind erkennbar? Dieser Aspekt betrifft Größe und Zusammensetzung der Haushalte und die Zusammensetzung der Arbeitskräfte.
- Welche wirtschaftliche Funktion hatten Nebengewerbe, wie Branntweinbrennerei, Essigsiederei, Mühlen, Ziegelei, Gerberei für den Gesamtbetrieb?
- In welcher Form und in welchem Ausmaß trieben Bauern Handel? Welche Produkte bevorzugten sie hierbei und aus welchen Gründen?

Literatur:

R. Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993.
H. Böning, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780 (Einleitung), in: Ders./R. Siegert (Hrsg.), Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. 1, Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780, Frankfurt/Main 1990, S. XX-IL.
W. Conze, Artikel: Bauer, Bauernstand, Bauerntum, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 407-439.
Ch. Dipper, Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: W. Schieder/ V. Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 4, Soziale Gruppen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 9-33.
K. E. Frandsen, Oksen paa vandring. Produktion og eksport af stude fra Danmark i midten af 1600-tallet, Kopenhagen 1994.
W. Gijsbers, Kapitale Ossen. De internationale handel in slachtvee in Noordwest-Europa (1300-1750), Hilversum 1999.
F. W. Henning, Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters (9.-15. Jahrhundert), Stuttgart 1994.
H. Kellenbenz, Bäuerliche Unternehmertätigkeit im Bereich der Nord- und Ostsee vom Hochmittelalter bis zum Ausgang der neueren Zeit, in: VSWG 49 (1962), S. 1-40.
F. Konersmann, Existenzbedingungen und Strategien protokapitalistischer Agrarproduzenten. Bauernkaufleute in der Pfalz und in Rheinhessen (1770-1860), in: ÖZG 13 (2002), S. 62-86.
Ders.,
M. Kopsidis, Der westfälische Agrarmarkt im Integrationsprozeß 1780-1880. Phasen und Einflußfaktoren der Marktentwicklung in historischen Transformationsprozessen, in: JbWG (1998/2), S. 169-198.
K.-J. Lorenzen-Schmidt, Bauern handeln über See. Die Westküste Nordelbiens als Beispielsgebiet (15.-18. Jahrhundert), in: H. Gerstenberger/ U. Welke (Hrsg.), Zur See? Maritime Gewerbe an den Küsten von Nord- und Ostsee, Münster 1999, S. 13-30.
Ders., Jütische Pferde für Europa. Ein holsteinischer Zwischenhändler 1830-1840, in: ZAA 40 (1992), S. 186-205.
B. Poulsen, Skibsfart og kornhandel omkring de Slesvigske kyster ved det 16. aarhundredes begyndelse, in: Historie (1995), S. 38-58.
Ders., Bonden over for det europæiske marked. Et slesvigsk oprør, in: A. Bogh et al. (Ed.), Til kamp for friheden. Sociale oprør in nordisk middelalder, Aalborg 1988, S. 199-214.
S. Rouette, Der traditionale Bauer. Zur Entstehung einer Sozialfigur im Blick westfälisch-preußischer Behörden im 19. Jahrhundert, in: R. Dörner/ N. Franz/ Ch. Mayr (Hrsg.), Lokale Gesellschaften im historischen Vergleich. Europäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert, Trier 2001, S. 109-138.
W. Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 187-211.
R. Wenskus, „Bauer“ – Begriff und historische Wirklichkeit, in: Ders./Herbert Jankuhn/Klaus Grinda (Hrsg.), Wort und Begriff ‚Bauer‘, Göttingen 1975, S. 11-28.
H. Wunder, Artikel: Bauern, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 1028-1043.

Programm

Kontakt

Frank Konersmann

Universität Bielefeld/Fakultät für Geschichtswissenschaft

0521-1063210

fkonersm@geschichte.uni-bielefeld.de

http://www.agrargeschichte.de
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