Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa / Performing and Negotiating. Practices of Estates’ Institutions in Early Modern Europe

Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa / Performing and Negotiating. Practices of Estates’ Institutions in Early Modern Europe

Veranstalter
SFB 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution", Teilprojekt C1 "Zur symbolischen Konstituierung von Stand und Rang in der Frühen Neuzeit", Westfälische Wilhelms-Universität Münster, in Zusammenarbeit mit dem Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS), Wassenaar
Veranstaltungsort
Ort
Wassenaar (NL)
Land
Netherlands
Vom - Bis
21.03.2007 - 23.03.2007
Deadline
15.11.2006
Von
PD Dr. Michael Sikora / Dr. Thomas Weller / Tim Neu M.A.

Zelebrieren und Verhandeln.
Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa

Kaum ein Gegenstand historischer Forschung erfreut sich eines so dauerhaften Interesses wie die ständischen Institutionen der Vormoderne. Das liegt nicht allein an ihrer unbestreitbar zentralen Bedeutung für das politisch-soziale Gefüge der frühneuzeitlichen Gemeinwesen in ganz Europa. Befeuert wurde die Auseinandersetzung mit dem Ständewesen im Grunde seit Beginn seiner Historisierung Anfang des 19. Jahrhunderts durch leidenschaftliche und kontroverse Bewertungen. Lange Zeit überwog die Ansicht, es habe sich bei den ständischen Vertretungen um den Ausdruck traditionell legitimierter Partikularinteressen gehandelt, mithin um nicht mehr als lästige Hemmschuhe für die Entwicklung des modernen Machtstaates. Andere Standpunkte arbeiteten demgegenüber gerade die Bedeutung der Stände für die Herausbildung und Stabilisierung staatlicher Vergemeinschaftung heraus. Diese Ambivalenz zwischen Tradition und Moderne machte das Ständewesen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem charakteristischen Gegenstand gerade der Frühneuzeitforschung. Besonders verlockend schien es, den Ständen aufgrund partieller Ähnlichkeiten mit den modernen Parlamenten traditionsstiftende und zukunftsweisende Leistungen zuzuschreiben.

Ständegeschichte ist in diesem Sinne als Verfassungsgeschichte betrieben worden, freilich über eine Epoche ohne gesatzte Verfassungen. Daher haben sich auch die Ansätze zur Neubewertung der Stände auf jene Aspekte konzentriert, die am ehesten geeignet waren, verfassungsmäßige Strukturen im modernen Sinn erkennbar und rekonstruierbar zu machen. Das gilt zum einen für den institutionellen Ausbau des Ständewesens: die Ausbildung der Kuriensysteme, aber auch ständischer Ämter und Verwaltungsorgane. Und das gilt zum anderen für die Ergebnisse ständischer Mitwirkung, nämlich in erster Linie die dauerhaften normativen Arrangements, die die Verhältnisse und Befugnisse zwischen Landesherren und Ständen definierten, Herrschaftsverträge oder „Fundamentalgesetze“ im weitesten Sinne. In zweiter Linie wurden aber auch die alltäglichen Beschlußfassungen insbesondere im Hinblick auf die Steuerbewilligung und –erhebung untersucht. Zweifellos konnten auf diesem Wege fundamentale Einsichten gewonnen werden. Maßstab für Fragestellung und Auswahl der relevanten Aspekte blieb aber in jedem Fall staatliche Verfaßtheit im modernen Sinn.

Gerade aus der Sicht der jüngeren Frühneuzeitforschung stellt sich allerdings die Frage, inwieweit auf diesem Weg nicht auch spezifisch vormoderne Elemente des Ständewesens aus dem Blick geraten sind. Die Geringschätzung der Machtstaatshistorie für alles, was nicht der Steigerung von Herrschaftseffizienz diente, hat sich als Schatten auch auf die Rehabilitierung der Stände gelegt. Was der verfassungsgeschichtlichen Perspektive aller Richtungen daher bislang als akzidentielles und zu vernachlässigendes Beiwerk galt, ist in den Debatten der letzten Jahre jedoch zunehmend als bedeutungsvoll und relevant erkannt worden: nämlich die zeremonielle Durchformung. Die ersten Impulse zu einer Neubewertung barocker Förmlichkeiten und Inszenierungen gingen von der Hofforschung aus, die einerseits dahinter eine ratio eigener Art enthüllte, wenn auch durchaus noch im Sinn rational funktionierender Herrschaftsstrategien, andererseits aber auch darin eine Ausdrucksform sui generis für die Wertvorstellungen der Adelsgesellschaft zu erkennen vermochte.

In dem Maße, in dem auch Soziologen und Ethnologen die Bedeutungsträchtigkeit symbolischer Handlungen selbst in der Gegenwart wahrzunehmen begannen, entwickelte sich die Untersuchung symbolischer Kommunikation zu einem weitgefaßten Forschungsparadigma, das über bloß zweckrationale Interpretationen hinausgeht. Inszenierungen im politischen und sozialen Raum wird eine Semantik gesellschaftlicher Werte und Relationen unterstellt, die in diesem Handeln performativ visualisiert, kommuniziert, realisiert und dadurch in der Regel stabilisiert, mitunter aber auch in Frage gestellt werden. Das läßt sich nicht nur auf die Hofgesellschaft anwenden, sondern beispielsweise auch auf den diplomatischen Verkehr oder die Rangierungen und Inszenierungen städtischer Gesellschaften, und nicht zuletzt auf die Formen politischer Partizipation. An dieser Stelle will die geplante Tagung erste Ansätze auf eine breitere Grundlage stellen.

Die Thematisierung des zeichenhaften Charakters ständischen Handelns bedeutet in diesem Sinne zunächst nur eine Erweiterung der traditionellen Herangehensweise. Ständische Versammlungen sollen in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden, was eben auch die zeremonielle Dimension einschließt. Dadurch verschiebt sich allerdings die Perspektive. Ständische Versammlungen erscheinen dann nicht mehr bloß als Beschlußorgane, die an ihren Kompetenzen und Ergebnissen zu messen wären, sondern als bedeutungsträchtige Handlungszusammenhänge; nicht allein als Struktur, sondern als strukturiertes Handeln, das nicht nur Beschlüsse produziert, sondern Sinn und Legitimation. Womöglich wäre das auch eine Erklärung für den Fortbestand ständischer Praktiken dort, wo politische Partizipation im eigentlichen Sinne kaum noch realisiert werden konnte. Insofern wäre zu diskutieren, ob die zeichenhafte Funktion solcher Versammlungen allein schon ihre Notwendigkeit begründen konnte.

Eine solche Herangehensweise müßte deshalb auch erwägen, die Dichotomie zwischen scheinbar bloß zeremoniellen und scheinbar bloß instrumentellen Akten zu überwinden. Die Annahme wäre zu prüfen, ob nicht potentiell jedem Handeln im Rahmen ständischer Versammlungen sowohl eine instrumentelle als auch eine symbolisch-expressive Dimension innewohnte, deren Wahrnehmung dann nur noch eine Frage der Perspektive wäre. Im Einzelnen wird sich der Ablauf ständischer Versammlungen in mehr oder weniger typische, unterscheidbare Akte gliedern lassen, die je für sich einer eigenen Ordnung gehorchen. Das gilt für die in engerem Sinn zeremoniellen Inszenierungen, wie die Markierungen von Anfang und Ende, die Verkündung von Proposition und Abschied, ebenso wie darüber hinaus für Platzierungen, Verhandlungen, Umfragen, Beschlußfassungen. Möglicherweise werden sich die Gewichte von symbolischer und instrumenteller Funktion unterschiedlich verteilt darstellen, ebenso der Grad an Komplexität und Verbindlichkeit der einzelnen Abläufe. Es wird auch zu bedenken sein, inwiefern bestimmte Akte darauf angelegt waren, alternative, weniger formalisierte Praktiken zu etablieren, wie dies etwa für das Ausschußwesen zu gelten scheint.

Der Fragestellung gemäß sollen sich die Beiträge auf die Frühe Neuzeit konzentrieren. Sowohl die Probleme der Genese ständischer Institutionen im Spätmittelalter als auch die Frage der Kontinuität zu den parlamentarischen Institutionen des 19. Jahrhunderts sollen demgegenüber in den Hintergrund treten. Es ist in jedem Fall erwünscht, Vergleichsmöglichkeiten auf zwei Ebenen zu eröffnen, nämlich durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Territorien des Römisch-deutschen Reiches und durch die Einbeziehung ausgewählter Beispiele aus anderen Teilen Europas.

Vorschläge für Beiträge (Abstracts von maximal 2 Seiten Umfang) werden bis zum 15.11.2006 an die untenstehende Kontaktadresse erbeten.

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Performing and Negotiating.
Practices of Estates’ Institutions in Early Modern Europe

There is hardly any subject of historical research receiving as much permanent interest as the Estates’ institutions of pre-modern times. This is not only because they are undoubtedly of central significance to the sociopolitical structures all over Early Modern Europe. From the very beginning of their historicization, at the start of the 19th century, the debate on the Estates was basically stimulated by passionate and controversial opinions. For a long time, the dominating view was that institutional representation of the Estates was the expression of traditionally legitimated particular interest blocking the progress towards the modern power state. Other views, on the contrary, just emphasized the Estates' importance for the building and stabilization of the body politic. After the Second World War, this ambivalence about traditionalism and modernism made the Estates a characteristic subject of Early Modern History. Because of partial similarities to modern parliament it seemed to be especially inviting to attribute achievements of shaping tradition and future orientation to the Estates.

In this sense, the history of the Estates was written as constitutional history, of course, of a pre-constitutional period. This is why the attempts to re-evaluate the Estates concentrated on certain aspects which were best adapted for perceiving and reconstructing constitutional structures in a modern sense. This applies to the formation of the institutions of the Estates: the chamber system, but also offices and administrative bodies, on the one hand. On the other hand, it applies to the results produced by the Estates' participation, in the first instance, the permanent normative arrangements defining relationships and rights between the prince and the Estates, covenants or "fundamental laws" in a broad sense. In the second instance, also everyday decisions, especially with regard to taxation, were examined. Undoubtedly, a deep insight was provided this way. In any case, the topics of research were chosen according to modern concepts of constitutional structures.

Especially from the point of view of recent Early Modern research, the question arises, however, to what extent specifically pre-modern aspects of the Estates have been lost sight of. As long as historical research focused on the formation of modern state power, anything not enhancing the efficiency of rule was disregarded, even by researchers aiming at the rehabilitation of the Estates. Recent discussions, however, have increasingly recognized the significance and relevance of what was considered accidental and negligible from the perspective of constitutional history, i.e. the ceremonial shaping. The drive to reconsider baroque formality and performance was initiated by court research which revealed an underlying rationality of its own, on the one hand, though still in a sense of rational strategies of rule, but which found them also, on the other hand, to be a form of expression sui generis of the concept of values of the corporate society.

To the extent to which sociologists and ethnologists, among others, began to perceive the meaningfulness of symbolic actions, even at the present time, the examination of symbolic communication became a broad paradigm of research beyond mere instrumental-technical interpretation. Symbolic acts, within the political and social sphere, are believed to include semantics of social values and relationships which are performatively visualized, communicated, realized and thus stabilized, sometimes, however, called in question. This applies not only to court society but also, for instance, to diplomatic communication as well as social representation in urban societies, and, not in the last instance, to the forms of political participation. In this respect, the planned meeting wants to put initial approaches on a more solid basis.

In this sense, the occupation with the symbolic character of the Estates’ practices means only, at first, broadening the traditional approach. Assemblies of the Estates are to be perceived as a whole, including the performative dimension. From this point of view, however, they appear in a new light. The assemblies, then, do no longer appear as mere decision-making bodies to be measured by their competences and results, but rather as an embodiment of meaningful action, not just as a structure, but as structured acting which does not only produce decisions, but rather meaning and legitimation. Perhaps this would explain the continuity of the Estates’ assemblies at times when political participation in the proper sense could no longer be realized. In so far, it should be discussed whether this symbolic function alone could establish the assemblies’ necessity.

With this approach, therefore, consideration should also be given to overcoming the dichotomy of seemingly merely performative and seemingly merely instrumental actions. The assumption should be examined if not, potentially, each action within the framework of the Estates’ assemblies included an instrumental-technical as well as a symbolic-expressive dimension the perception of which would, then, be only a question of perspective. In particular, the procedure of assemblies of the Estates will be divisible into more or less typical single acts, each of their own order. This applies to performances in a narrow sense, as the marking of beginning and ending, the proclamation of proposition and decision, as well as, in a broader sense, the rankings, negotiations, inquiries and decisions. Symbolic-expressive and instrumental-technical function will prove different in importance as well as in the degree of complexity and obligatory character of single acts. Consideration should also be given to the question to what extent certain actions aimed at establishing alternative and less formalized practices, as seems to apply to the system of committees.

According to the topic in question, contributions should concentrate on the Early Modern period. Problems of the emergence of the Estates’ institutions in the Late Middle Ages as well as the question of continuity with regard to 19th century parliamentarian institutions should be kept in the background. In any case, it is desirable to open up two levels of comparison by reviewing different territories of the Holy Roman Empire and by including special examples from other parts of Europe.

Proposals including proposed title and abstract (recommended length 1-2 pages) are expected by 15 November 2006.

Programm

Kontakt

PD Dr. Michael Sikora
Dr. Thomas Weller
Tim Neu M.A.

SFB 496, Teilprojekt C1
Salzstraße 41, 48143 Münster

Tel: 0251 83-27932

E-Mail:
thomas.weller@uni-muenster.de
tim.neu@uni-muenster.de

http://www.uni-muenster.de/SFB496/Projekte/c1.html
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