Wenn die Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt wird, dann richtet sie sich gegenwärtig zumeist an die Expertise der Biologie: Anthropologie wird in aktuellen Diskussionen daher gemeinhin mit ,physischer Anthropologie‘ gleichgesetzt. Im Mittelpunkt steht das Naturwesen Mensch, das über mehr oder weniger spezifische ge-netische Anlagen verfügt und neurophysiologisch moderierte Interventionen in seiner Umwelt vornimmt. Jede Kritik an einem rein biologischen Ansatz in der Anthropologie muss gleichwohl anerkennen, dass der Mensch als leiblicher Organismus ein physi-sches Wesen ist, das in direkter Verwandtschaft zu anderen Tieren steht und nicht einseitig metaphysisch überboten werden kann.
Für die philosophische Anthropologie stellt sich somit die Aufgabe, die wissenschaft-liche Interpretation des Menschen mit seinem vor- und ausserwissenschaftlichen Selbstverständnis zu konfrontieren und in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch vielversprechend, den Streit zwischen einer physischen und einer metaphysischen Bestimmung des Menschen auf dem Boden der Philosophie selbst auszutragen. Hierfür bietet sich die Konstella-tion zweier Denker an, die das Denkprojekt einer modernen philosophischen Anthropologie initiiert und entscheidend gefördert haben: Max Scheler (1874-1928) und Helmuth Plessner (1892-1985). In dezidierter Auseinandersetzung mit den Wissen-schaften, vor allem der Biologie, aber auch den Kultur- und Sozialwissenschaften, versuchten sie in einer neuartigen Reflexionsfigur eine Kennzeichnung der „Sonderstellung“ des Menschen in der Natur, die sowohl der modernen Wissenschaftserfahrung wie der Unergründlichkeit des Menschen, seiner Freiheitserfahrung, standhält. Die „Weltoffenheit“ des menschlichen Organismus, seine „exzentrische Positionalität“ sind Schlüsselformeln dieses Denkprojekts. Max Scheler und Helmuth Plessner stehen für den Anfang dieses Theorie- und Forschungsprogramms und sind mit ihren Schriften ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos’ (1927/28) und ‚Die Stufen des Organischen und der Mensch’ (1928) richtungsweisend für diese philosophische Anthropologie geblieben.
Daß der Mensch ein Naturwesen ist, das aus seiner Natur verstanden werden muß, steht sowohl für Scheler als auch für Plessner außer Frage. Allerdings widersprechen sie der fragwürdigen Gleichsetzung von Natur mit einer Physiologie, die nur die Kausalketten von körperlichen Zuständen rekonstruiert. Indem sie das Lebendige als etwas psychophysisch neutral Gegebenes bestimmen, gelingt es ihnen, das cartesianische Paradigma der modernen Naturwissenschaft zu hintergehen. Von dieser Charakterisierung des Lebens ausgehend versuchen sie dann zu zeigen, was das Lebewesen Mensch von allen anderen animalischen Organismen unterscheidet. Bei ihren Antworten auf diese Frage finden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Hat die abendländische philosophische Tradition das spezifisch Menschliche lange in der Fähigkeit des Selbstbewußtseins gesehen, so korrigieren bzw. präzisieren Scheler und Plessner diese Definition in entscheidender Hinsicht: Die menschliche Kompetenz, sich zu sich selbst zu verhalten, gründet für sie nicht in der Leistung eines einsamen, abstrakten Cogito oder eines bloßen Sprechers, sondern hat die lebendige Form zur Voraussetzung. Menschliches ,Selbstbewußtsein‘ und menschliche Intersubjektivität entstehen im Zusammenspiel von Leibkörpern, die wechselseitig voneinander Kenntnis nehmen können, weil sie ihr Ausdrucksverhalten verstehen. Den Umbruch dieses lebendigen Ausdrucksverhältnisses zu Selbstbewusstsein und Intersubjektivität bezeichnen beide mit dem klassischen Begriff des „Geistes“. Darin liegt die spezifische Sozialität der menschlichen Lebendigkeit (die indirekte Kommunikation der einzelnen „Hirne“). Philosophische Anthropologie bezieht sich also bei Scheler und Plessner zugleich auf Biologie und Soziologie (beide wirkten auch als Soziologen), und zwar unabhängig von der unterschiedlichen metaphysischen Bestimmung des „Geistes“ bei beiden Autoren. Für Scheler ist der Geist ein der Natur opponierendes Prinzip, das dem „Drang“ der Natur entgegengestellt wird und so wird am Ende die Sonderstellung des Menschen quasi nachträglich metaphysisch fundiert. Bei Plessner hingegen steht der Begriff Geist für die Unergründlichkeit der menschlichen Natur; jede positive Metaphysik lehnt Plessner als fragwürdigen Versuch die menschliche Natur festzustellen ab.
Die Tagung verfolgt das systematische Anliegen, durch die Konstellation der anthropologischen Konzeptionen Schelers und Plessners das am Ende des 20. Jahrhunderts neu erwachte Interesse an der Philosophischen Anthropologie zu bündeln. Sie leistet zugleich einen Beitrag zu der Einordnung der sogenannten (linguistic, cultural, iconic usw.) ,turns‘ in der jüngeren Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften, weil in der philosophischen Anthropologie alle neuen ,Paradigmenwechsel‘ (Wendung zum Leben, zum Körper, zum Raum, zu den Gefühlen, zu den Sinnen, zur Materialität) einen Resonanzboden und zugleich einen Stand der Reflexion finden, an den sich angesichts neuer Herausforderungen philosophisch und kultur- und sozialwissenschaftlich anknüpfen lässt.
Die Tagung, die (erstmals gemeinsam) von Max-Scheler-Gesellschaft und Helmuth-Plessner-Gesellschaft organisiert wird, widmet sich der „Konstellation der philosophischen Anthropologie zwischen Max Scheler und Helmuth Plessner“. Dabei werden drei Schwerpunkte verfolgt.
Erstens soll – im Sinne der „Konstellationsforschung“ – die geistige Konstellation rekonstruiert werden, in der die philosophische Anthropologie Schelers und Plessners in den Zwanziger Jahren auftauchte. Dabei interessiert auch zunächst die konkrete akademische Konstellation an der neuen Universität Köln, an der der Ordinarius Scheler und der Privatdozent Plessner nebeneinander wirkten. Die Herausbildung dieser Denkrichtung war vor Ort von Spannungen und Rivalitäten zwischen den Protagonisten durchzogen, eine Dramatik, die die Wirkungsgeschichte der Philosophischen Anthropologie verzögert, jedenfalls wie ein Schatten begleitet hat. Durch dieses ungeklärte Verhältnis wurde die philosophische Wahrnehmung (zunächst eher) von Plessner, dann aber umgekehrt auch (vor allem später) die von Scheler beeinträchtigt. Darüber hinaus interessiert aber auch das philosophisch-intellektuelle Umfeld vorausgesetzter (Neukantianismus, Phänomenologie) wie auch zeitgleicher, konkurrierender Denkrichtungen (Lebensphilosophie, naturalistisch-biologische Ansätze, Existenzphilosophie, Neue Ontologie, Philosophische Hermeneutik, Kritische Theorie der Gesellschaft in Frankfurt, Wissenssoziologie Mannheims), in dem sich diese Denkrichtung formierte. Hierzu gehört schließlich die zeitgenössische Resonanz auf das Projekt, vor allem auch die zeitgenössische Kritik, die von verschiedenen Richtungen erste systematische Einwände gegen die philosophische Anthropologie vortrug (Husserl, Heidegger, Cassirer, Misch, Horkheimer). In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, ob es eine nicht-triviale „Identität“ der philosophischen Anthropologie als Denkansatz im 20. Jahrhundert überhaupt gibt (einschließlich der offenen Frage, ob und inwiefern bei Gehlen oder anderen Autoren von einer Fortsetzung dieses Denkprojektes gesprochen werden kann).
Zweitens geht es um die philosophisch-anthropologischen Theorien selber, und hier um die Konstellation zwischen den begrifflichen Fixpunkten und argumentativen Linienführungen Schelers und Plessners. Dieser Vergleich, der Schelers und Plessners Theoreme auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin beobachten und bewerten soll, kann bewusst breit angelegt werden – unter der Voraussetzung, dass Scheler bereits in frühen Texten (Zur Idee des Menschen, Über Scham und Schamgefühl) philosophisch-anthropologische Denkmotive anschlug und seine späte explizite philosophische Anthropologie in dieser Hinsicht nicht als Bruch mit früheren Hauptwerken (Sympathiegefühle, Formalismus), sondern eher als deren erneute Grundlegung verstanden hat; auch Plessner hat seine früheren Schriften (Die Einheit der Sinne, Die Grenzen der Gemeinschaft) von der explizit philosophisch-anthropologischen Position aus später reformuliert. Dann lassen sich Parallelen und Differenzen nicht nur im Feld einer Philosophie des Lebendigen und der Anthropologie (Die Stellung des Menschen im Kosmos / Die Stufen des Organischen) verfolgen, sondern von hier aus auch im Hinblick auf die philosophische Grundlegung (Neukantianismus, Phänomenologie), auf die Philosophie der Gefühle (Über Scham und Schamgefühle / Lachen und Weinen) auf die Intersubjektivitätstheorie (Wesen und Formen der Sympathie / Die Deutung des mimischen Ausdrucks), auf die Sozialphilosophie (Formalismus / Die Grenzen der Gemeinschaft), auf die Phänomenologie non-kognitiver Akte (emotionales Apriori / ästhesiologisches Apriori), auf die Wissens- bzw. Kulturphilosophie (Pluralität der Werte und der drei Wissensformen bei Scheler / Pluralität der Sinngebungsformen bei Plessner), auf die Wissenssoziologie (Die Wissensformen und die Gesellschaft / Macht und menschliche Natur), auf die Theorie der Geschichte und der Moderne (Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs / Macht und menschliche Natur). Interessant ist auch der Vergleich beider Deutschlandstudien (Die Ursachen des Deutschenhasses / Die verspätete Nation).
Diese kritische Rekonstruktion des argumentativen Potentials beider Autoren der philosophischen Anthropologie ist Voraussetzung für den dritten Schwerpunkt, von dem aus sie zugleich ihren aktuellen Sinn erhält: der Bewährungsprobe an gegenwärtigen Herausforderungen und Phänomenen für den Begriff des „Menschen“. Die Frage lautet, wie sich verschiedene neue Phänomene der menschlichen Lebenswelt – z.B. die Biofakte, die maschinelle Intelligenz, die Medien-Vermitteltheit der menschlichen Kultur, das anthropologische Faktum der existierenden Weltgesellschaft bei gleichzeitiger Differenzbildung, die Wiederkehr des Heilswissens bei gleichzeitiger Beschleunigung der Wissenschaft – im Licht der philosophisch-anthropologischen Theorie-„Konstellation“ von Scheler und Plessner aus heute beschreiben und übersetzen lassen.