Das diesjährige Rahmenthema lautet:
Mobilität und Transfer - Zu Bedingungen und Erklärungen von Dynamik in der Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik
In der heutigen Zeit ist Mobilität ein Grundelement der Multioptionsgesellschaft („Soll ich’s wirklich machen oder lass ich’s lieber sein?“) und damit auch Lust und Laster in einem. Der individuellen Mobilität sind heute durch das Fliegen zum Taxipreis letztlich kaum noch Grenzen gesetzt. Ähnlich verhält es sich mit der virtuellen Mobilität. Speziell durch die Möglichkeiten des Internets hat sich eine neue Form der informellen, in gewisser Weise sogar passiven Mobilität herausgebildet, die zwar auf Benutzerseite gewisse Grundvoraussetzungen verlangt, jedoch letztlich in der Vision des globalen Dorfes mündet und damit auch gänzlich neue Wege des Wissenstransfers und der Information eröffnet.
Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaftsgeschichte das Thema der Mobilität früherer Gesellschaften wieder entdeckt. Sei es die Mobilität von Studenten im Spätmittelalter, von Forschern im 18. und 19. Jahrhundert, in der Epidemieforschung oder auch in der Ding- bzw. Exponatgeschichte. Dabei hat die Forschung eine Reihe von Fragen aufgeworfen: Wer ist mobil? Aus welchen Gründen? Zu welchem Zweck?
Untersuchungen zur Mobilität fragen ferner nach ihren Voraussetzungen und Bedingungen. Eine Analyse der Mobilität setzt sich daher in erster Linie aus dem technisch-strukturellen Rahmen zusammen, in dem sie erfolgt, mithin der Wege und Mittel derer sie sich bedient. Der Bogen kann hierbei gespannt werden von den frühen Seewegen über die Flugversuche Leonardo da Vincis sowie die Ballonfahrt bis hin zu Eisenbahn, Flugzeug, Automobil und Raumfahrt. Spannend ist dabei, dass der primäre Zweck von Transportmitteln, eine Person so schnell und sicher zum Ziel zu bringen, nicht selten durch andere Kriterien ersetzt wird. Das Motorrad unterscheidet sich vom Fahrrad nicht lediglich durch den technischen Fortschritt, sondern auch durch den Status, den er dem Fahrer vermittelt. Dabei spielen Ideale wie Freiheit, Unabhängigkeit und Coolness eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das gewählte Transportmittel gibt somit nicht nur Zeugnis vom Streben nach Freiheit, sondern kann auch Ausdruck von Zeitgeist sowie kultureller Identität sein und bestimmt maßgeblich das Selbstbild des Reisenden. So erklärt sich zum Beispiel, dass ein technisch überholtes Produkt dennoch Kultstatus erlangen kann, woran uns im heutigen Straßenbild noch Ente, Käfer und Trabi erinnern.
Doch auch in Zeiten, wo manche technische Bedingungen fehlen, kann die Mobilität nicht unterschätzt werden und erfordert eine genauere Analyse. Der Aufschwung der Naturwissenschaften ab dem 17. Jahrhundert ist eng mit der Bereitschaft zur Mobilität der Gelehrten verbunden, um sich auszubilden, eine Stelle an einer fremden Institution wahrzunehmen und Beobachtung in wissenschaftlichen Expeditionen auszuführen. Wo Menschen verschiedener Nationen und Horizonte sich treffen, findet zwangsläufig auch ein Kultur- und Wissenstransfer statt. Dieser erfolgt nicht immer reibungslos, kann jedoch sehr produktiv sein, wovon die kosmopolitische Gelehrtenschar um den preußischen König Friedrich II. und seine neu gegründete Akademie in Berlin oder die um Niels Bohr versammelten internationalen Forscher zeugen. Dadurch entwickeln sich gemeinsame Ziele, Traditionen und Normen, sowie das Gefühl derselben Gemeinschaft anzugehören, der Gelehrtenrepublik oder scientific community. Netzwerke spannen sich scheinbar über geographische, politische und kulturelle Grenzen hinweg. Die Orte des Austausches vermehren sich und der in den gelehrten Korrespondenzen der Renaissance angefangene wissenschaftliche Diskurs wird in Akademien, Gelehrtengesellschaften, Zeitschriften, Forschungszentren, Laboren, auf Fachkongressen und virtuellen Foren weitergeführt.
Trotz des Ideals einer neutralen und unabhängigen wissenschaftlichen Gemeinschaft sind jedoch Mobilität und Wissenstransfer in den Naturwissenschaften nicht frei von externen Faktoren. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt eindrucksvoll, wie politische Diktaturen, wirtschaftliche Krisen oder institutionelle Strukturen zur Mobilität und Migration zwingen und dabei den Wissensaustausch hindern oder fördern können. Soziale und kulturelle Faktoren bilden ihrerseits die Grundlage, auf die ein Bildungs- und Wissenstransfer erst aufbauen kann. Der Gelehrte des 16. Jahrhunderts kommuniziert nicht wie derjenige des 21. Ein Forscher argumentiert anders in seiner Muttersprache als in einer fremden Sprache. Ein Physiker stellt seine Ergebnisse den Fachkollegen anders als den Laien vor.
Entsprechend des Begriffs der Inkommensurabilität von Thomas Samuel Kuhn muss auch der Fall berücksichtigt werden, in denen ein Wissenstransfer schlicht unmöglich ist. Ursächlich dafür können sowohl epistemische Grundverschiedenheiten als auch Generationskonflikte zwischen Forschern und Gelehrten oder ideologische Klüfte sein, die aus religiösen, ethischen, dogmatischen oder nationalistischen Motiven nicht überwunden werden. Solche Betrachtungen werfen einmal mehr die essentielle Frage nach den Bedingungen von Mobilität und Transfer auf. Zu fragen ist ferner, inwieweit Forschungen und Fragestellungen von der Mobilität der Akteure beeinflusst werden und wie sich ein solcher Perspektivwechsel im Ergebnis auswirkt.