Organisation : Falk Bretschneider, Christophe Duhamelle, Patrice Veit, Michael Werner
Mit Unterstützung des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA)
Die „Lebenswelt“ ist in Mode bei deutschen Historikern. Zumindest erfreut sich der Begriff bei ihnen seit einiger Zeit höchster Beliebtheit. Gesprochen wird von „städtischen“ oder „dörflichen Lebenswelten“ oder von der „Lebenswelt der frühneuzeitlichen Armee“. Fast hat es den Anschein als entwickele sich „Lebenswelt“ zu dem, was „Mentalität“ lange Zeit für die französische Geschichtswissenschaft gewesen ist und was heute vielfach einem Verweis auf die „anthropologische“ Dimension von Realität entspricht: ein dehnbarer und polyvalent einsetzbarer Begriff, der scheinbar zu vielem passt.
Das muss jedoch nicht heißen, dass die Verwendung des Begriffs unreflektiert und als bloße Übernahme eines modischen Schlagworts geschieht, das synonym gesetzt werden könnte mit anderen Begriffen wie „Alltag“, „Volkskultur“, „Erfahrung“, „Bedeutung“ oder eben „Mentalität“. Zum ersten Mal wissenschaftlich verwendet wurde der Begriff „Lebenswelt“ in der Phänomenologie Edmund Husserls. An dessen Arbeiten anschließend, machte ihn Alfred Schütz zu einem zentralen Begriff einer Wissenssoziologie, die sich mit der Frage beschäftigt, was Menschen in ihrem alltäglichen, nicht- oder vortheoretischen Leben „wissen“. Noch stärker sozial aufgeladen haben den Begriff, auf Schütz aufbauend, Peter Berger und Thomas Luckmann. Sie sprachen nicht mehr von „Lebenswelt“, sondern von „Alltags- und Jedermannswissen in der Alltagswelt“ und lenkten den Blick damit explizit weg von theoretischem und intellektuellem Wissen und allein nur noch auf jenes Wissens hin, welches Verhalten im Alltag reguliert.
Diese wissenssoziologischen Hintergründe des Begriffs „Lebenswelt“ stehen jedoch nur selten im Zentrum seiner Verwendungsweisen durch Historiker. Vielmehr wird der Begriff von ihnen meist recht unspezifisch zur Beschreibung einer Gesamtheit aus Lebenseinstellungen, Erfahrungen, Gewohnheiten, Erwartungen, Traditions- und Bildungswissen, Normen, Werten, Selbst- und Fremdwahrnehmungen benutzt. „Lebenswelt“ wird so zu einem konsensfähigen Etikett für historiographische Bemühungen, die sich methodisch auf eine Untersuchung sozialer Handlungslogiken ausrichten, dabei aber durchaus unterschiedlichen Traditionen entstammen.
Der im Rahmen des kollektiven Seminars „Les mots de l’histoire“ veranstaltete Workshop möchte deshalb ein gemeinsames Nachdenken über den Begriff „Lebenswelt“ ermöglichen und damit an theoretische Debatten anschließen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten um Alltagsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Historische Anthropologie, Mikrogeschichte, Neue Kulturgeschichte oder Ethnologie geführt wurden.