Die Frage nach dem theoretischen Status von (Geistes-)Wissenschaft hat im Zuge neuer Entwicklungen wissenschaftlicher Exzellenz deutlich an Aktualität gewonnen und das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dabei wird sichtbar, dass die Geschichte der Geisteswissenschaften geradezu paradigmatisch von der Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang geprägt ist. Entscheidend ist hier, dass beide Bewegungen ihrerseits theoriebedingt sind. Auch das Ende der Theorie wird von der Theorie eingeholt, da das Ende der Theorie ja selbst theoretischen Prämissen folgt. Konzeptionell lässt sich formulieren, dass sowohl Konjunktur als auch Abgesang, aber auch Theorieindifferenz und selbst noch der Widerstand gegen die Theorie (P. de Man) theoretische Positionen markieren.
Auf intensive Theoriedebatten folgt ein Widerstand gegen die Theorie, der wiederum intensiv theoretisch reflektiert wird. Theorie konstituiert sich solchermaßen per definitionem als Einheit und als Differenz der Unterscheidung Theorie/Ende der Theorie − und die Geisteswissenschaften waren und sind der privilegierte Reflexionsraum, der diese Differenz von Einheit und Differenz aushalten und avanciert pflegen kann. Theorien, die genau dies beobachten, die genau diese Differenz fokussieren und somit beobachten, wie Theorien funktionieren, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, lassen sich als Theorietheorie (J. Clam) bezeichnen. Theorietheorie betreiben, heißt also über das Theoretische von Theorie zu schreiben, heißt, darüber zu schreiben, wie man selbst über Theorien schreibt, die über Theorien schreiben.
Einerseits sind die Geisteswissenschaften der bevorzugte Ort von Theorietheorie, andererseits aber werden im Zuge der kultur- und medienwissenschaftlichen Erweiterung und Transgression der Geisteswissenschaften theorietheoretische Überlegungen in den Hintergrund gerückt. In aktuellen kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten steht nicht mehr die Reflexion mithilfe von Theorie und über Theorie im Mittelpunkt, sondern konkrete Praktiken der Konstruktion von Wissen und der kulturelle Einsatz verschiedenster Medienkonkretisationen. Schrift-, Bild-, Visualisierungs- und Körperstrategien sowie ihre technisch-technologischen Dispositionen und Manifestationen werden ebenso fokussiert wie neuerdings affektive und emotionale Formate und Formationen von Wahrnehmung, Wissen und Macht. Dabei finden sich nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen und mittlerweile auch naturwissenschaftlichen Disziplinen (wie Biopoetik, Evolutionsgeschichte oder Neuroscience der Ästhetik und der Kultur) im Einsatz.
Solche innovativen, kreativen und anschlussfähigen Perspektiven werden für Theorie und Theorietheorie dort interessant, wo sie die theoretischen Prämissen ihres Argumentierens nicht reflektieren und ihre theoretische Syntax im Dunkeln belassen. Eine Theorietheorie muss genau hier einsetzen und die verschiedenen uneingestandenen epistemologischen, wissenstheoretischen, methodisch-methodologischen und historischen Parameter kultur- und medienwissenschaftlicher Forschung reflexiv einholen. So ließe sich diskutieren, ob und wie(so) den Geisteswissenschaften der Geist ausgetrieben werden soll (F. Kittler) und welche wissenschaftstheoretischen und -politischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Solchermaßen könnte Theorietheorie dazu dienen, en passant eingesetzte Begriffe und Konzepte, die aufgrund ihres reflexiven Defizits und ihrer expliziten Fokussierung auf konkrete kulturelle und mediale Praktiken zu apodiktischen Konstruktionen zu verkrusten drohen (z. B. Körper), auf ihre nicht negierbaren konzeptionellen und theoretischen Implikationen zurückführen.
Eine so gestaltete Theorietheorie ist kein verschiedene Disziplinen und verschiedene theoretische Schulen verbindender oder gar vereinheitlichender Master- und Metadiskurs, sondern ganz im Gegenteil das Instrument der Beobachtung und mithin ein Medium, um die Differenzen der Disziplinen und Theorien schärfer fokussieren zu können. Theorietheorie besitzt nirgends eine Selbstidentität, sondern etabliert sich in der Differenz der sie jeweils anders konstituierenden Disziplinen, Paradigmen und Theorien und ist solchermaßen paradigmatisch inter- und transdisziplinär. Und Theorietheorie muss dabei auch für ihre eigenen uneingestandenen Formbildungseffekte sensibel sein.
Beobachtet man wie die Disziplinen und Theorien ihren Objektbereich konstituieren, indem man mithilfe von Theorien beobachtet, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, kommen die verschiedensten Unterscheidungskonstellationen in den Blick. Geistes-, Medien-, und Kulturwissenschaften, Zeichen-, Medien-, Kultur- und Systemtheorie(n), Kultur- und Medienanthropologie, Phänomenologie, Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktion (Poststrukturalismus), Konstruktivismus, Gender Theory, Postcolonial Theory, usw. konturieren sich wechselseitig in der differenten und divergenten Konstitution vergleichbarer Objektbereiche. Befragt man diese Objektkonstitutionen auf ihre theoretische Syntax, werden die Differenzen als spezifische Figurationen sichtbar. Beobachtet man die Geisteswissenschaften im Hinblick auf vergleichbare Objektbereiche als Philologie, als Kultur- oder als Medienwissenschaft, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede als nebeneinander, ineinander, übereinander verschlungene Konstellationen, als Schwellen, Stufen, Klippen, als Schnittstellen, Relais, Widersprüche, Antagonismen, Transformationen, Transgressionen, Diskontinuitäten, Verfremdungen, Anleihen, Kopien u. ä. m. beobachten. Die Tagung möchte eine interdisziplinäre Plattform dafür liefern, über solche komplexen Konstellationen produktiv und kontrovers diskutieren zu können.
Erinnert man die Geisteswissenschaften an ihr Paradigma der Theorietheorie, werden der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungspraxis jegliche Selbstverständlichkeiten genommen. Holt man die Kultur- und Medienwissenschaften aus ihrem (selbst)reflexiven blinden Fleck ans Licht der reflexiven Theorietheorie, werden ihre versteckten und uneingestandenen Implikationen sichtbar.