Theorietheorie: Die Geisteswissenschaften als Ort avancierter Theoriebildung – Theorie als Ort avancierter Geisteswissenschaft

Theorietheorie: Die Geisteswissenschaften als Ort avancierter Theoriebildung – Theorie als Ort avancierter Geisteswissenschaft

Veranstalter
Dr. Mario Grizelj (LMU München), Prof. Dr. Jochen Hörisch (Universität Mannheim), Prof. Dr. Oliver Jahraus (LMU München), PD Dr. Christian Kohlross (Hebrew University of Jerusalem), Prof. Dr. Christoph Reinfandt (Universität Tübingen)
Veranstaltungsort
Inter University Centre (IUC)
Ort
Dubrovnik, Kroatien
Land
Croatia
Vom - Bis
26.03.2009 - 29.03.2009
Von
Mario Grizelj

Die Frage nach dem theoretischen Status von (Geistes-)Wissenschaft hat im Zuge neuer Entwicklungen wissenschaftlicher Exzellenz deutlich an Aktualität gewonnen und das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dabei wird sichtbar, dass die Geschichte der Geisteswissenschaften geradezu paradigmatisch von der Oszillationsbewegung zwischen Theoriekonjunktur und Theorieabgesang geprägt ist. Entscheidend ist hier, dass beide Bewegungen ihrerseits theoriebedingt sind. Auch das Ende der Theorie wird von der Theorie eingeholt, da das Ende der Theorie ja selbst theoretischen Prämissen folgt. Konzeptionell lässt sich formulieren, dass sowohl Konjunktur als auch Abgesang, aber auch Theorieindifferenz und selbst noch der Widerstand gegen die Theorie (P. de Man) theoretische Positionen markieren.

Auf intensive Theoriedebatten folgt ein Widerstand gegen die Theorie, der wiederum intensiv theoretisch reflektiert wird. Theorie konstituiert sich solchermaßen per definitionem als Einheit und als Differenz der Unterscheidung Theorie/Ende der Theorie − und die Geisteswissenschaften waren und sind der privilegierte Reflexionsraum, der diese Differenz von Einheit und Differenz aushalten und avanciert pflegen kann. Theorien, die genau dies beobachten, die genau diese Differenz fokussieren und somit beobachten, wie Theorien funktionieren, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, lassen sich als Theorietheorie (J. Clam) bezeichnen. Theorietheorie betreiben, heißt also über das Theoretische von Theorie zu schreiben, heißt, darüber zu schreiben, wie man selbst über Theorien schreibt, die über Theorien schreiben.

Einerseits sind die Geisteswissenschaften der bevorzugte Ort von Theorietheorie, andererseits aber werden im Zuge der kultur- und medienwissenschaftlichen Erweiterung und Transgression der Geisteswissenschaften theorietheoretische Überlegungen in den Hintergrund gerückt. In aktuellen kultur- und medienwissenschaftlichen Arbeiten steht nicht mehr die Reflexion mithilfe von Theorie und über Theorie im Mittelpunkt, sondern konkrete Praktiken der Konstruktion von Wissen und der kulturelle Einsatz verschiedenster Medienkonkretisationen. Schrift-, Bild-, Visualisierungs- und Körperstrategien sowie ihre technisch-technologischen Dispositionen und Manifestationen werden ebenso fokussiert wie neuerdings affektive und emotionale Formate und Formationen von Wahrnehmung, Wissen und Macht. Dabei finden sich nahezu alle geistes- und sozialwissenschaftlichen und mittlerweile auch naturwissenschaftlichen Disziplinen (wie Biopoetik, Evolutionsgeschichte oder Neuroscience der Ästhetik und der Kultur) im Einsatz.

Solche innovativen, kreativen und anschlussfähigen Perspektiven werden für Theorie und Theorietheorie dort interessant, wo sie die theoretischen Prämissen ihres Argumentierens nicht reflektieren und ihre theoretische Syntax im Dunkeln belassen. Eine Theorietheorie muss genau hier einsetzen und die verschiedenen uneingestandenen epistemologischen, wissenstheoretischen, methodisch-methodologischen und historischen Parameter kultur- und medienwissenschaftlicher Forschung reflexiv einholen. So ließe sich diskutieren, ob und wie(so) den Geisteswissenschaften der Geist ausgetrieben werden soll (F. Kittler) und welche wissenschaftstheoretischen und -politischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Solchermaßen könnte Theorietheorie dazu dienen, en passant eingesetzte Begriffe und Konzepte, die aufgrund ihres reflexiven Defizits und ihrer expliziten Fokussierung auf konkrete kulturelle und mediale Praktiken zu apodiktischen Konstruktionen zu verkrusten drohen (z. B. Körper), auf ihre nicht negierbaren konzeptionellen und theoretischen Implikationen zurückführen.

Eine so gestaltete Theorietheorie ist kein verschiedene Disziplinen und verschiedene theoretische Schulen verbindender oder gar vereinheitlichender Master- und Metadiskurs, sondern ganz im Gegenteil das Instrument der Beobachtung und mithin ein Medium, um die Differenzen der Disziplinen und Theorien schärfer fokussieren zu können. Theorietheorie besitzt nirgends eine Selbstidentität, sondern etabliert sich in der Differenz der sie jeweils anders konstituierenden Disziplinen, Paradigmen und Theorien und ist solchermaßen paradigmatisch inter- und transdisziplinär. Und Theorietheorie muss dabei auch für ihre eigenen uneingestandenen Formbildungseffekte sensibel sein.

Beobachtet man wie die Disziplinen und Theorien ihren Objektbereich konstituieren, indem man mithilfe von Theorien beobachtet, die beschreiben wollen, wie Theorien funktionieren, kommen die verschiedensten Unterscheidungskonstellationen in den Blick. Geistes-, Medien-, und Kulturwissenschaften, Zeichen-, Medien-, Kultur- und Systemtheorie(n), Kultur- und Medienanthropologie, Phänomenologie, Hermeneutik, Strukturalismus, Dekonstruktion (Poststrukturalismus), Konstruktivismus, Gender Theory, Postcolonial Theory, usw. konturieren sich wechselseitig in der differenten und divergenten Konstitution vergleichbarer Objektbereiche. Befragt man diese Objektkonstitutionen auf ihre theoretische Syntax, werden die Differenzen als spezifische Figurationen sichtbar. Beobachtet man die Geisteswissenschaften im Hinblick auf vergleichbare Objektbereiche als Philologie, als Kultur- oder als Medienwissenschaft, lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede als nebeneinander, ineinander, übereinander verschlungene Konstellationen, als Schwellen, Stufen, Klippen, als Schnittstellen, Relais, Widersprüche, Antagonismen, Transformationen, Transgressionen, Diskontinuitäten, Verfremdungen, Anleihen, Kopien u. ä. m. beobachten. Die Tagung möchte eine interdisziplinäre Plattform dafür liefern, über solche komplexen Konstellationen produktiv und kontrovers diskutieren zu können.

Erinnert man die Geisteswissenschaften an ihr Paradigma der Theorietheorie, werden der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungspraxis jegliche Selbstverständlichkeiten genommen. Holt man die Kultur- und Medienwissenschaften aus ihrem (selbst)reflexiven blinden Fleck ans Licht der reflexiven Theorietheorie, werden ihre versteckten und uneingestandenen Implikationen sichtbar.

Programm

Donnerstag 26. März 2009

9.00 ERÖFFNUNG
Oliver Jahraus

WOZU THEORIETHEORIE? I

9.15 – 9.45 Oliver JAHRAUS (München)
„Was heißt und zu welchem Ende studiert man TheorieTheorie?“
9.45 – 10.15 Hans Ulrich GUMBRECHT (Stanford)
„What Did – and What Should – we Mean by ‘Theory’?”
10.15 – 10.45 Diskussion

10.45 – 11.15 Kaffeepause

11.15 – 11.45 Simone WINKO / Tom KINDT (Göttingen)
„Wissenschaftstheorie – Metatheorie – TheorieTheorie“
11.45 – 12.15 Christoph REINFANDT (Tübingen)
„Objektivität, Kontingenz und Theorie in historischer Perspektive“
12.15 – 12.45 Beat WYSS (Karlsruhe)
Das Paradox vom ’blinden Fleck’“
12.45 – 13.30 Diskussion

13.30 – 15.30 Mittagspause

DEKONSTRUKTION ALS PARADIGMA

15.30 – 16.00 Uwe WIRTH (Gießen)
„Gepfropfte Theorie: eine ’greffologische’ Kritik des Hybriditätskonzepts als Beschreibung von intermedialen und interkulturellen Beziehungen“
16.00 – 16.30 Bettine MENKE (Erfurt)
„Lesen Lesen“
16.30 – 17.00 Diskussion

20.00 Gemeinsames Abendessen

Freitag 27. März 2009

SYSTEMTHEORIE ALS PARADIGMA

9.00 – 9.30 Remigius BUNIA (Berlin)
„Epistemische Fundamente der Geisteswissenschaften. Differenztheorie und die Formalisierung nicht formalen Denkens“
9.30 – 10.00 Niels WERBER (Dortmund)
„Ameisengesellschaft: Zur Genealogie der Systemtheorie“
10.00 – 10.30 Diskussion

10.30 – 11.00 Kaffeepause

11.00 – 11.30 Mario GRIZELJ (München)
„(Fehl)Lektüren der Kybernetik“
11.30 – 12.00 Elena ESPOSITO (Modena und Reggio Emilia)
„Die Logik der Autologie in der Systemtheorie“
12.00 – 12.30 Diskussion

12.30 – 13.30 Gemeinsamer Mittagsimbiss

FUNDAMENTALONTOLOGIE ALS PARADIGMA

13.30 – 14.00 Thomas KHURANA (Potsdam)
„»Ein Seiendes, dem es um sein Sein selbst geht«:Vulgär- und Fundamentalontologie nach Heidegger, Brandom und Luhmann“
14.00 – 14.30 Rodolphe GASCHÉ (Buffalo/NY)
„Nur-hinsehen oder hütendes Schauen: Zu Heideggers ’lebensweltlicher’ Begründung der Theorie“
14.30 – 15.00 Friedrich KITTLER (Berlin)
„Heideggers Seinsgeschichte“
15.00 – 15.45 Diskussion

Samstag 28. März 2009

KRITIK ALS PARADIGMA

9.00 – 9.30 Aleida ASSMANN (Konstanz)
„Theorien als implizite Wertsysteme“
9.30 – 10.00 Georg STANITZEK (Siegen)
„Über den Gebrauchswert von Ideologiekritik“
10.00 – 10.30 Jan ASSMANN (Konstanz)
„Transkulturelle Theorien - am Beispiel von Jaspers’ Achsenzeit-Konzept“
10.30 – 11.15 Diskussion

11.15 – 11.45 Kaffeepause

THEORIETHEORIE UND KULTUR(WISSENSCHAFT)
EMOTIONAL CULTURE, COGNITIVE CULTURE

11.45 – 12.15 Bernd SCHEFFER (München)
„Wissenschaft und Emotionen“
12.15 – 12.45 Dirk BAECKER (Friedrichshafen)
„Kulturkultur“
12.45 – 13.15 Diskussion

13.15 – 14.15 Gemeinsamer Mittagsimbiss

PERFORMATIVE CULTURE, ICONIC CULTURE, MATERIAL CULTURE

14.15 – 14.45 Anna BABKA (Wien)
„Judith Butlers und Homi Bhabhas widerständige Performativität. Eine Erkundung in Theorie“
14.45 – 15.15 Sybille KRÄMER (Berlin)
„Windungen und Wendungen geisteswissenschaftlicher Debatten: Ein Kommentar zu den Grenzen des ’performative turn’ und ’iconic turn’“
15.15 – 15.45 Natalie BINCZEK (Siegen)
„Medienmaterialität als Theorieproblem“
15.45 – 16.30 Diskussion

20.00 Gemeinsames Abendessen

Sonntag 29. März 2009

THEORIETHEORIE UND LITERATUR(WISSENSCHAFT)

9.00 – 9.30 Jochen HÖRISCH (Mannheim)
„Die Geister der Geisteswissenschaften – Wieviel Theorie braucht und verträgt die Literatur?“
9.30 – 10.00 Klaus-Michael BOGDAL (Bielefeld)
„Anleitung zum Erlernen des Ungenauen“
10.00 – 10.30 Diskussion

10.30 - 11.00 Kaffeepause

11.00 – 11.30 Vladimir BITI (Wien)
„Theorie und Weltbürgerlichkeit“
11.30 – 12.00 Claus-Michael ORT (Kiel)
„Das ’Wissen’ der Literatur und die Grenzen ihrer Selbst-Beobachtung“
12.00 – 12.30 Diskussion

12.30 – 14.30 Mittagspause

WOZU THEORIETHEORIE? II

14.30 – 15.00 Christian KOHLROSS (Jerusalem)
„Theorie und Poesie“
15.00 – 15.30 Karl Ludwig PFEIFFER (Bremen)
„TheorieTheorie und die Paradoxie der Tatsächlichkeit“
15.30 – 16.00 Diskussion

16.00 - 16.30 Kaffeepause

16.30 – 17.00 Christoph BODE (München)
„TheorieTheorie als Praxis. Überlegungen zu einer Figur der Unhintergehbarkeit“
17.00 – 17.30 Peter FUCHS (Neubrandenburg)
„Die theoretische Beobachtung von Theorie – Anmerkungen zu einem Unausdrückbarkeitsproblem“
17.30 – 18.00 Diskussion

Kontakt

Mario Grizelj

LMU München - Institut f. Dt. Philologie,

089 / 2180-3920
089 / 2180-3871
mario.grizelj@germanistik.uni-muenchen.de

http://www.uni-tuebingen.de/angl/theorietheorie/index.htm