Wir sind nie aktiv gewesen. Interpassivität in Theorie und Praxis

Wir sind nie aktiv gewesen. Interpassivität in Theorie und Praxis

Veranstalter
Leipziger Forschungsgruppe Soziales e. V. / Robert Feustel M.A.; Nico Koppo M.A.; Hagen Schökzel M.A.
Veranstaltungsort
naTo, Karl-Liebknecht-Str. 46, 04275 Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2010 - 20.02.2010
Deadline
01.12.2009
Von
Nico Koppo

Üblicherweise wird dem Lachen aus dem Off, das in verschiedenen Fernsehformaten seit einigen Jahren zum Einsatz kommt, die Rolle zugeschrieben, den Zuschauer zum Lachen zu animieren. Robert Pfaller (2000, 2002) und Slavoj Žižek (2000) haben bereits vor einigen Jahren eine andere – eher psychoanalytisch gefärbte – Interpretation des so genannten Dosengelächters vorgeschlagen. Kern des Arguments ist, dass dieses anonyme Lachen quasi „aus der Dose“, also an unserer Stelle lacht. Diese Überlegung ließe sich mühelos auf andere Beispiele übertragen: Welche Funktion übernimmt bspw. ein Denkmal? Besteht seine Aufgabe tatsächlich darin, die Passanten zur aktiven Erinnerung an historische Ereignisse aufzurufen bzw. deren gesellschaftliche Bedeutung zu reaktivieren? Oder handelt es sich eher um eine Installation, die – ganz ähnlich den Gebetsmühlen – an unserer Stelle im Modus der Erinnerung operiert? Allgemeiner formuliert: Ist der zeitgenössische Gemeinplatz einer überall geforderten Interaktivität nicht an vielen Stellen (z.B. im Gedenken) besser als Interpassivtät, als komplexes Projektionsverhalten auf technische Geräte oder andere Medien zu verstehen?

Verschiedene intuitive Beispiele, wie etwa Debatten um die vermeintliche Interaktivität im Web 2.0 oder um Symbol- vs. Realpolitik in der repräsentativen Demokratie, lassen vermuten, dass das Kunstwort Interpassivität seinen Entstehungskontext der Psychologie überschreiten kann und sich an vielen anderen Stellen als operativer Begriff einsetzen lässt. Liegt die Stärke dieser „kleinen Theorie“ (Pias 2000) darin, etablierte Zuschreibungen von Aktion und Interaktion, von Aktivität und Passivität zu unterlaufen und deren mitunter problematische Gegenseite(n) sichtbar werden zu lassen? Oder taugt dieser Terminus bei entsprechender Ausarbeitung dazu, die Dichotomie zwischen aktiv und passiv zu untergraben und allgemeinere Setzungen, die jede Handlung entweder der einen oder der anderen Seite zuweisen, empfindlich zu irritieren? Žižek formuliert in diesem Zusammenhang zwei kritische Gesten, die sich auf zwei gegensätzliche Ausprägungen von Interpassivität beziehen: Im Fall des Dosengelächters müssen wir erkennen, dass nicht wir es sind, die Lachen, sondern dass es (bspw. das technische Gerät) unser Lachen übernimmt. Der umgekehrte Weg spielt eher auf eine untergründige Religiösität an, auf einen interpassiv ausgelagerten Glauben – woran auch immer –, der trotz oder gerade dank dieser Auslagerung weiterhin wirksam bleibt.

Ziel der Tagung ist es, das analytische Potenzial des Begriffs Interpassivität zu schärfen oder ggf. in Frage zu stellen. Die Übersetzung in sozialwissenschaftliche Theorie und Praxis steht dabei ebenso zur Debatte wie die Verwendung von Interpassivität als Analysewerkzeug. Verschiedene kulturelle, soziale und politische Praktiken, die gemeinhin dem Modus der Interaktion zugeschrieben werden, sollen in diesem Kontext in Frage gestellt und geprüft werden.

Mindestens drei thematische Zugriffe sind denkbar:

1. Theorie
Im ersten Teil steht die analytische Schärfe und die theoretische Konturierung des Begriffs Interpassivität zur Debatte. Haben wir es mit einem (kultur-)historisch relativ konstanten Phänomen zu tun (Klageweiber z.B. gibt es schon länger) oder ist Interpassivität ein Modus spätkapitalistischer Gesellschaften? Wie verhält sich deren psychoanalytische Grundierung zu poststrukturalistischen Theorieentwürfen? Und wo liegen die Grenzen und Unschärfen des Konzepts?

2. Anschlüsse
Im zweiten Teil gilt es, theoretische Anschlussstellen zu markieren sowie ihre Belastbarkeit auszuloten. Denkbar wären beispielsweise Bezüge zur Kulturtheorie der frühen Frankfurter Schule, zu Subjektivierungstheorien oder zu systemtheoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik.

3. Anwendung
Schließlich soll die Operationalisierbarkeit im Mittelpunkt stehen. Welche spezifischen Formen interpassiver Bezugnahme lassen sich in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur finden? Gegenstandsbereiche, in denen die Fruchtbarkeit des Konzepts demonstriert und diskutiert werden könnte, wären beispielsweise: Medien- und Kulturtheorie, Konsumsoziologie, historische Kulturwissenschaft, Demokratietheorie oder Bildungssoziologie.

Die Dauer der Vorträge soll 20 Minuten nicht überschreiten. Für die anschließende Diskussion sind etwa 25 Minuten vorgesehen. Bei Fragen oder für Anregungen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

Abstracts, die den Umfang von einer Seite nicht überschreiten sollten und sich auf die genannten oder verwandte Aspekte beziehen, schicken Sie bitte bis zum 01. Dezember 2009 an die genannten Kontaktadressen.

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Canned laughter - the reaction to a comic scene included in TV show soundtracks - is normally understood as that which encourages spectators to laugh themselves. Analysing this notion in terms of psychoanalysis, Robert Pfaller (2000, 2002) and Slavoj Zizek (2000) have offered an alternative interpretation, arguing that the anonymous laughter is something that laughs for you rather than with you. This idea of delegation can similarly be applied in other contexts, one example being the memorial. Is the actual purpose of a memorial to make passers-by stop and actively ponder the historical event and political implications it allegedly encrypts? Or isn’t it precisely a kind of installation that operates – analogous to the prayer wheel – for us in the mode of remembrance? To put it in a more general way: Shouldn’t today’s widely acknowledged paradigm of interactivity in many ways be understood in terms of interpassitivity whereby your most personal feelings and natural reactions are experienced indirectly through a surrogate?

Considering debates about the interactivity of Web 2.0 or the antagonism between symbolic politics and Realpolitik in a representative democracy, interpassitivity seems to be able to transcend its psychoanalytical roots and operate in different fields. Does the strength of this “small theory” (Pias 2000) lie within its ability to subvert established connotations of action and interaction, of activity and passivity? Could the concept of interpassitivity allow for a more general perspective that not only undermines these dichotomies but goes beyond them? Accordingly, the aim of this conference is to elucidate the analytical potential of interpassitivity.

Suggested themes include but are not limited to:

Theory
Firstly, the analytical possibilities and theoretical clarification of the term interpassitivity will be addressed. Is interpassitivity a phenomenon that occurs throughout history or s it rather symptomatic of late capitalist society? How does the psychoanalytical foundation of interpassitivity relate to theories of poststructuralism? Where are the limits and disparities of the concept?

Affiliation
Secondly, theoretical affiliations are to be determined and assessed. For example the relationship between interpassitivity and the cultural theories of the early Frankfurt School, theories of subjectivation or system theory.

Application
Lastly, the possible applications of the notion of interpassitivity will be considered. Which forms of interpassitivity can be recognised in such realms as society, science and culture? Potential areas of investigation include: cultural theory, media studies, sociology of consumerism/education, theories of democracy.

Papers should be no longer than 20 minutes with 25 minutes for discussion. Abstracts of up to 300 words should be submitted electronically to: Robert Feustel r.feustel@uni-leipzig.de

The event is hosted by the ‘Leipziger Forschungsgruppe Soziales e. V.’ This non-profit organisation is a postgraduate society which aims to encourage research and promote the social sciences through an annual conference. Previous themes have included Foucault and Resistance in 2007, After Shrinkage: Twenty Years of Debate on Shrinking Cities – Theories, Results, Paradigms in 2008, and Between Resistance and Management. On the Political Philosophy of Deleuze and Guattari in 2009.

Programm

Kontakt

Robert Feustel: r.feustel@uni-leipzig.de;
Nico Koppo: koppo@uni-leipzig.de oder
Hagen Schölzel: schoelzel@uni-leipzig.de

www.forschungsgruppe-soziales.de