Es ist heute technisch möglich, alle in öffentlichen Bibliotheken aufbewahrten, handschriftlichen und gedruckten Materialien zu digitalisieren und über das Internet weltweit zur Verfügung zu stellen. Zugleich nimmt die elektronische Vernetzung der Bibliotheken zu, von der Ebene der Kataloge bis hin zur Ebene der Datenbestände. Bibliotheken virtualisieren sich zunehmend und wollen im Internet neu erstehen als Knoten in einem globalen Informationsnetz, das jedem Benutzer sieben Tage in der Woche und 24 Stunden am Tag Auskunft gibt.
Schon zu Beginn der 1980er Jahre begannen führende Bibliothekare, den einsetzenden Medienwandel in ihre Überlegungen einzubeziehen, denn angesichts des immer größeren Ausstoßes an gedruckten Verlagspublikationen würde sich der Speicherplatz in den Magazinen absehbar erschöpfen. Eine Ersetzung des raumgreifenden Mediums Buch durch das raumsparende digitale Speichermedium schien möglich. Und, statt in vollgestopften Bibliotheken mit unzureichenden Zettelkatalogen den Nutzer in die Irre zu führen, sollte der digitale Neuanfang auch ein Neuanfang im Verständnis von Bibliotheken sein, von Bibliotheken, die es dem Nutzer leicht machen würden, an alle gesuchten Informationen zu kommen. Die Bibliotheken als „Speicherorte“ für sehr materielle Schreibmedien, die sich zuweilen monumental auswuchsen und in den kulturellen und politischen Zentren durch ihre schiere Größe und Sichtbarkeit ein Zeichen für die Tradition waren, sollten zu „Informationszentren“ werden.
Diese Entwicklung dauert auch heute noch an und bestimmt bibliothekarisches Denken und Handeln. Das interdisziplinär angelegte Arbeitsgespräch, das Verleger, Bibliothekare, Wissenschaftler und Journalisten am historischen Ort der im 17. Jahrhundert gegründeten, heute zur Universität Erfurt gehörenden Forschungsbibliothek Gotha zusammenführt, will eine Bestandsaufnahme dieses Denkens und Handelns wagen. Nicht indem es die Schlagworte affirmativ wiederholt, sondern indem es die Implikationen des leitenden Paradigmas befragt, um letztlich bibliothekarische Denk- und Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen. Folgenden Fragenkomplexen soll nachgegangen werden:
1. Durch die elektronische Vernetzung teilen sich Bibliotheken ihre Bestände immer mehr mit anderen Bibliotheken, Informationseinrichtungen und Datenbankanbietern, während sich der genaue Speicherort sowohl den Benutzern als auch Bibliothekaren entzieht. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die einzelne Bibliothek, auf das föderal aufgebaute deutsche Bibliothekswesen? Welche Aufgaben und welchen Wert werden Bibliotheken als Orte künftig haben? Werden sie ein austauschbarer und tendenziell überflüssiger Speicher oder ein musealer Raum? Können Sie als Ort den wissenschaftlichen Diskurs überhaupt noch inspirieren?
2. Jede historisch gewachsene Bibliothek zeichnet sich durch eine spezifische, unverwechselbare Tektonik aus. Die Digitalisierung betrifft (bislang) in der Regel hauptsächlich jene Werke, die nicht mehr dem Urheberrecht unterliegen und den historischen Kern der Bibliothek ausmachen. Werden deshalb gerade die zahlreichen historischen Sammlungen ihre bisherigen spezifischen Stärken verlieren, wenn letztlich alle handschriftlichen und gedruckten historischen Bestände digitalisiert sein werden? Wird es zu einem Sterben der kleinen wissenschaftlichen Bibliotheken, zumindest aber zu einem enormen Bedeutungsverlust dieser für das mitteleuropäische kulturelle Selbstverständnis wichtigen Sammlungen kommen? Was passiert mit denjenigen Beständen ohne großen intrinsischen Wert, die in vielen Bibliotheken parallel vorhanden sind?
3. Die Digitalisierung rückt aus Kostengründen das urheberrechtsfreie Buch in den Vordergrund. Welche Folgen wird dies für die moderne wissenschaftliche Literatur, ihre Produktion, Distribution und Nutzung haben? Wird diese noch, da nicht so komfortabel am Bildschirm benutzbar wie die ältere Literatur, überhaupt noch wahrgenommen? Oder führt die Digitalisierung am Ende zu einem „Wissenssprung nach hinten“? Wird es noch gesellschaftlich akzeptiertes Wissen außerhalb des Internets geben?
4. Bei Alten Drucken und Handschriften spielt ihre Dreidimensionalität eine gewichtige Rolle, die Surrogate nur unvollkommen abbilden können. Zur Textüberlieferung, die durch die digitale Präsentation primär tradiert werden soll, tritt beim Alten Buch die Exemplarebene (Provenienz, Marginalien usw.) hinzu. Dieser spezifische Quellenwert wird durch die Digitalisierung nicht abgedeckt, da dort in der Regel nur ein einziges Exemplar zugänglich gemacht werden soll. Wie beeinflusst und lenkt der technische Fortschritt damit gerade die historisch arbeitenden Kulturwissenschaften?