Strukturgeschichte oder Entwicklungslogik? Spinoza und das Denken von Geschichte

Strukturgeschichte oder Entwicklungslogik? Spinoza und das Denken von Geschichte

Veranstalter
Spinoza Gesellschaft, Seminar für Philosophie der MLU Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der MLU Halle-Wittenberg
Veranstaltungsort
MLU Halle-Wittenberg, Melanchthonianum, Universitätsplatz 8/9 06099 Halle (Saale) und IZEA, Franckeplatz 1, HS 54, 06110 Halle (Saale)
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2010 - 19.09.2010
Von
Frank Grunert

Der scheinbar so aktuelle Streit über die geschichtsphilosophische Deutung der Gegenwart, der sich am Scheitern des Versuchs, den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus zu verwirklichen, an den langfristigen ökologischen Problemen oder an der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus entzünden mag, verweist im Kern auch auf altbekannte methodologische Probleme, die immer dann auftreten, wenn es darum geht, die eigene Gegenwart im Gang der Geschichte zu verstehen. In diesem Zusammenhang stehen zwei unterschiedliche Wahrnehmungsweisen im Vordergrund: die Analyse von Strukturen der eigenen Gegenwart oder die Konstruktion einer Art Logik im Gang der Dinge. Dabei wird Gegenwart entweder als Resultat historischer Prozesse der Vergangenheit begriffen, oder als eine kontingente Struktur, die als Position innerhalb einer zeitlichen Reihung keine irgendwie kausale Verbindung zu vorangehenden oder nachfolgenden Positionen aufweist. Von Seiten der Philosophie bieten dazu die Geschichtsphilosophie, aber auch die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Analysen der Geschichtswissenschaft methodologische Reflexionen, die freilich in den öffentlichen Debatten meistens unberücksichtigt bleiben.

Vor diesem allgemeinen Problemhintergrund versucht die Tagung einen der radikalsten Ansätze der beginnenden Aufklärung, nämlich denjenigen Spinozas, für das Denken der Geschichte und die Analyse der eigenen Gegenwart fruchtbar zu machen – freilich nicht allein in direkter Anknüpfung an die von Spinoza entwickelten Konzepte, sondern auch in Diskussion späterer einflussreicher Ansätze, die spinozistische Impulse aufgegriffen und weiterverarbeitet haben. Die Theorie Spinozas ist in diesem Zusammenhang deshalb besonders interessant, weil in ihr die Erklärbarkeit von allem – und geschichtliche Prozesse sind dabei eingeschlossen – postuliert und für die Gestalt solcher Erklärungen genaue Theorieangebote gemacht werden. Sein Erkenntnisanspruch erstreckt sich daher auch auf die Geschichte, und zwar in einer immer noch provozierenden Weise. Denn wenn man die heutigen Debatten betrachtet, fragt sich, inwieweit es beim Geschichtsdenken um Erkennen oder um Sinnstiftung, um stabiles Wissen oder bloße Erzählung geht – und wie die ursprünglich aufklärerischen Motive und Ambitionen sich auch in heutigen Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringen lassen. Spinoza hat mit seiner Machttheorie, seiner Affektenlehre, mit seiner Theorie der Genese und Funktion von Normativität, mit seiner Theorie der Politik und des Staates, aber auch mit erkenntnistheoretischen Lehren, insbesondere mit seiner Attributenlehre in der Ethik Theoriemodelle entwickelt und diese im Theologisch-Politischen-Traktat bei der Analyse einzelner historischer Prozesse exemplarisch durchgespielt. Von ihnen sind entscheidende Anregungen für die späteren Versuche ausgegangen, historische Prozesse zu analysieren und dabei am Wahrheits- und Erkenntnisanspruch festzuhalten. Exemplarisch seien der Marxismus und Postmarxismus in Auseinandersetzung mit Althusser genannt, die an Nietzsche anknüpfenden Versuche genealogischer Kritik und Machtanalytik, aber auch die Systemtheorie Luhmanns. Bis hin zu den von Spinoza ausgearbeiteten Theorieteilen lässt sich dabei ein methodisches Grundproblem zurückverfolgen, das alle diese Ansätze kennzeichnet: es handelt sich um die Frage, inwieweit Ansätze der Strukturanalyse und Ansätze der Konstruktion einer Entwicklungslogik historischer Prozesse unbedingt alternativ gedacht werden müssen, oder ob sie nicht vielmehr miteinander verknüpft werden können. Dieses Problem stellt die Kernfrage der Tagung dar, in ihrem Licht sollen die Theorie bzw. die Theorieansätze von Spinoza und die genannten Konzepte der Gegenwart aufeinander bezogen und diskutiert werden.

Programm

Freitag, 17.09.2010
Melanchthonianum HS XXII

14:00 – 14:30 Uhr
Grußwort des geschäftsführenden Direktors des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Daniel Fulda (Halle)

Grußwort des geschäftsführenden Direktors des Seminars für Philosophie der MLU Halle-Wittenberg, Johannes Hübner (Halle)

Robert Schnepf (Halle): Strukturgeschichte oder Entwicklungslogik – Zur Einführung

Moderation: Johannes Hübner (Halle)

14:30 – 15:45 Uhr
Sina Rauschenbach (Konstanz)
Modell Israel: Spinoza und die jüdische Geschichte im TTP

15:45 – 16:15 Uhr Kaffeepause

16:15 – 17:30 Uhr
Manfred Walther (Hannover)
Spinozas conatus-Lehre als Grundlage einer Entwicklungslogik?

17:30 – 18:45 Uhr
Michael Rosenthal (Washington)
Spinoza on the Idea of Progress

19:30 Uhr
Empfang im "Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung"

20:15 Uhr
Ausstellungseröffnung im Bibliothekssaal des IZEA:
Spinoza im Kontext

Wiep van Bunge (Rotterdam)
Spinoza in den Niederlanden

Cis van Heertum (Amsterdam)
Einführung in die Ausstellung

Samstag, 18.09.2010
Melanchthonianum HS XXII

Moderation: Daniel Fulda (Halle)

09:00 – 10:15 Uhr
Gideon Stiening (München)
Spinoza und das Geschichtsdenken der Aufklärung

10:15 – 11:30 Uhr
Thomas Kisser (München)
Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit im deutschen Idealismus

11:30 – 12:00 Uhr Kaffeepause

12:00 – 13:15 Uhr
Andreas Urs Sommer (Freiburg i. Br.)
Spinoza, Nietzsche und die Geschichte

13:15 – 14:30 Uhr Mittagspause

14:30 – 18:30 Uhr Sektionen

Sektion 1: Spinozas Geschichtsdenken: Grundlagen, Einzelanalysen, Kontext
Moderation: Gábor Boros (Budapest)

14:30 – 15:20 Uhr
Alois Soller (München)
Natur- und Menschheitsgeschichte bei Spinoza (Arbeitstitel)

15:30 – 16:20 Uhr
Martin Lenz (Berlin)
Wessen Geschichte? Freiheit und historische Perspektive bei Spinoza

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Christian Schmidt (Leipzig)
Die geschichtliche Möglichkeit der Autonomie

17:40 – 18:30 Uhr
Martin Rodden (Dublin)
Self-Acceleration of Knowledge and the Scientific Character
of History in Spinoza

Sektion 2: Spinozas politische Philosophie
Moderation: Thomas Kisser (München)

14:30 – 15:20 Uhr
Oliver Bach (München)
„… Eine Beute des Zufalls“. Politisches Handeln und Widerstandsrecht zwischen Gewissheit und Kontingenz bei Spinoza

15:30 – 16:20 Uhr
Gösta Gantner (Heidelberg)
Alternativen zur Sozialphysik. Das Kontingenzproblem in
Spinozas politischer Philosophie

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Luis Placencia (Halle)
Struktur und Funktion des Arguments über die Wunder und Vorsehung Gottes in Spinozas theologisch-politischem Traktat

17:40 – 18:30 Uhr ------

Sektion 3: Positionen des 20. Jahrhunderts (Systemtheorie/Postmoderne)
Moderation: Anne Sauvargnagues (Lyon)

14:30 – 15:20 Uhr
Manfred Lauermann (Hannover)
Spinozas Systemtheorie – eine Beobachtung 3. Ordnung nach Luhmann?

15:30 – 16:20 Uhr
Thomas Land (Halle)
Die Revolution als Herstellung der eigenen Bedingungen? Historische Kontinuität vs. dezisionistischer Akt

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Axel Rüdiger (Halle)
„Ist es möglich, Spinoza nicht zu lieben?“ Slavoj Žižeks Kritik am Spinozismus

17:40 – 18:30 Uhr ------

Sektion 4: Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie (Kant/Hegel/Marx)
Moderation: Hans Friedrich Fulda

14:30 – 15:20 Uhr
Andree Hahmann
Pflichtgemäß aber töricht! Kant über Spinozas Leugnung der Vorsehung

15:30 – 16:20 Uhr
Borbala Blandl (Budapest)
Der Fatalismus der Zweckmäßigkeit als Idealismus. Kants Kritik an Spinoza in der KdU

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Felicitas Englisch (München)
Geschichte als Arbeit des Geistes – zu Spinoza und Hegel

17:40 – 18:30 Uhr
Dacian Bugnar (Leverkusen)
Totalität. Versuch über ein spinozistisches Theorem im Marxismus

Sektion 5: Spinozas Geschichtsdenken in der Aufklärung und im 19. Jahrhundert
Moderation: Ursula Renz (Klagenfurt)

14:30 – 15:20 Uhr
Ingo Uhlig (Halle)
Zur Kritik der Willkür bei Spinoza und Friedrich Schiller

15:30 – 16:20 Uhr
Hannah Grosse Wiesmann (Hannover)
Spinoza, Nietzsche und die Konzeption der Geschichte als ewige Wiederkunft des Gleichen

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Piet Steenbakkers (Utrecht)
Spinoza und Nietzsche (Arbeitstitel)

17:40 – 18:30 Uhr
Claus-Artur Scheier (Braunschweig)
Spinozistischer Anti-Spinozismus im 19. Jahrhundert: Friedrich
Nietzsche und Henry Adams

Sektion 6: Spinozas Geschichtsdenken im jüdischen Kontext
Moderation: Willi Goetschel (Toronto)

14:30 – 15:20 Uhr
Willi Goetschel (Toronto)
Antiteleologie und Messianisches Denken: Geschichtstheoretische Implikationen bei Spinoza

15:30 – 16:20 Uhr
Tracie Matysik (Dallas)
Writing the History of Spinozism. Perpectives from the Nineteenth Century.

16:20 – 16:40 Uhr Kaffeepause

16:40 – 17:30 Uhr
Niels Roemer (Dallas)
Heinrich Graetz, Spinoza und die jüdische Moderne

17:40 – 18:30 Uhr
Dietrich Schotte (Marburg)
Was tun mit dem Messias. Zum Umgang mit der Heilsgeschichte in Spinozas TTP und Hobbes Leviathan

20:00 Uhr
Melanchthonianum Mitgliederversammlung der Spinoza Gesellschaft

Sonntag, 19.09.2010
Melanchthonianum HS XXII

Moderation: Michael Hampe (Zürich)

09:00 – 10:15 Uhr
Robert Schnepf (Halle)
Althusser – Marx – Spinoza

10:15 – 11:30 Uhr
Alice Pechriggl (Klagenfurt)
Zum Begriff des "instituierenden Imaginären" im Kontext des "Gesellschaftlich-Geschichtlichen" bei Castoriadis

11:30 – 12:00 Uhr Kaffeepause

12:00 – 12:15 Uhr
Martin Saar (Frankfurt a. M.)
Spinoza, Foucault und die Perspektive der Genealogie heute

12:15 – 13:30 Uhr
Rainer Walz (Bochum)
Evolution und Geschichte in der Systemtheorie und in Spinozas Philosophie

13:30 Uhr Schlusswort

Kontakt

Frank Grunert

Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung.
Franckeplatz 1, Hs. 54, 06110 Halle (Saale)
0345-5521773
0345-5527252
frank.grunert@izea.uni-halle.de

http://www.spinoza-gesellschaft.de/tagungen.html
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