Hilfe zur Selbsthilfe. Globalisierende Diskurse, Praktiken und Akteure – 1600 bis zur Gegenwart

Hilfe zur Selbsthilfe. Globalisierende Diskurse, Praktiken und Akteure – 1600 bis zur Gegenwart

Organizer
International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC), Justus-Liebig-Universität Gießen; Stefan Becker, Hubertus Büschel, Wim Peeters
Venue
Senatssaal, Hauptgebäude der Universität Gießen, Ludwigstr. 23, 35390 Gießen
Location
Gießen
Country
Germany
From - Until
02.03.2011 - 04.03.2011
By
Becker, Stefan

Kaum ein anderes sozialtechnologisches Konzept ist gegenwärtig so wirkungsmächtig wie das der Hilfe zur Selbsthilfe. Diese Form von Hilfe gilt als zukunftsweisend und als wirksames Instrument für Nachhaltigkeit, ob in Lebensratgebern entfaltet, in der städtischen Sozial- und Entwicklungsarbeit oder in ländlichen Genossenschaften angewandt. Zudem gilt das Konzept als Garant für die Selbständigkeit und die Anliegen der ‚Armen’ und ‚Ausgegrenzten’, bisweilen sogar als Hüter der Menschenrechte. Gleichermaßen scheint diese Art der Hilfe das Engagement der als hilfsbedürftig eingeschätzten Menschen zu befördern und ‚nachhaltige’ Wege von ‚Entwicklungen’ zu sichern. So wird Hilfe zur Selbsthilfe von britischen Sozialarbeitern ebenso propagiert wie von Entwicklungsexperten in Afrika, von Vertretern lokaler Gruppen in Asien und Befreiungstheologen in Lateinamerika. Die Arbeits- und Sozialkulturen der Moderne sind ohne Hilfe zur Selbsthilfe und die hiermit verbundenen Strategien von Selbstfindung sowie Selbstverwirklichung nicht denkbar.

Hilfe zur Selbsthilfe, so ist seit den 1930er Jahren immer wieder von Pädagogen und Sozialpsychologen zu lesen, vermöge außerdem Machtasymmetrien zu vermeiden, wie sie in anderen Formen von Hilfe auftreten würden. Gegenwärtig wird das Konzept verstärkt auf den einzelnen Menschen angewandt und die Selbsthilfe als ‚natürliches menschliches’ Verhalten stilisiert. Paradoxerweise sind die Subjekte der Selbsthilfepraktiken zugleich immer mehr auf die Autorisierung durch Expertenwissen angewiesen – Indiz dafür ist der Boom an Selbsthilferatgebern. Das implizite Gebot, sein Leben ändern zu müssen, ist auch als eine Einschränkung der individuellen Freiheit und dementsprechend als ein probates biopolitisches Mittel der Gouvernementalität zu deuten.

Im Workshop sollen vermeintlich ‚machtfreie’ Diskurse und Praktiken der Hilfe zur Selbsthilfe und deren Akteure einer kritischen kulturwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Diachron ausgerichtete Beiträge, welche die Entstehungs- und Wandlungsgeschichte der Hilfe zur Selbsthilfe ausloten, sollen Konjunkturen und Brechungen erforschen – und zwar in so unterschiedlichen Bereichen wie Entwicklungszusammenarbeit, Sozialarbeit oder psychologischer Beratung. Synchrone Analysen hingegen können Strategien und Programme in Diskursen und Praktiken erörtern, aber auch Vielschichtigkeiten und Widersprüchlichkeiten, wie zum Beispiel in "emotionalen Regimen". Zentral ist hierbei die Debatte um das Verhältnis von Aktiven und Aktivierten – denn wer andere zur Selbsthilfe anleitet, so das Argument, hilft gerade auch sich selbst; zum einen in der Erhöhung des eigenen Seelenheils im Sinne einer psychologischen Entlastung, zum anderen in der Aufwertung der eigenen Reputation in hierarchisierten Machtstrukturen. Ferner ist von Interesse, wie Hilfe zur Selbsthilfe medial inszeniert und von den jeweils beteiligten Akteuren – auch geschlechts- und gruppenspezifisch – wahrgenommen, erfahren, mitgetragen, gestaltet oder konterkariert wurde. Diskutiert werden soll, ob, wie und inwiefern sich auf den ersten Blick dezidiert ‚menschenfreundliche’, auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung angelegte soziale Kulturen wie die der Hilfe zur Selbsthilfe bei näherer Betrachtung als äußerst widersprüchliche Machtstrukturen erweisen, die jenseits humanitären Engagements soziale Differenzen markieren, Exklusionen vollziehen sowie ‚sanfte’, implizite oder auch brachiale Gewalt ausüben können.

Programm

Mittwoch, 2. März 2011

14.00 – 14.30 Begrüßung

Workshop-Phase I
Moderation: Janne Mende (Gießen)

14.30 – 15.30
Falko Schmieder (Berlin): "Hilfe zur Selbsthilfe" - Elemente des historischen Problem- und Begriffszusammenhangs

15.30 – 16.30
Gisela Mettele (Jena): Organisation und Logistik globaler Kommunikation im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel des Pietismus/der Herrnhuter Brüdergemeine

17.00 – 18.00
Marcus Twellmann (Konstanz): "Bildung des Volkes zur Industrie" und "Erziehung der Neger zur Arbeit". Zur Vorgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit

18.00 – 19.00
Hubertus Büschel (Gießen): Aporien der Gewalt? "Hilfe zur Selbsthilfe" in Afrika südlich der Sahara

Donnerstag, 3. März 2011

Workshop-Phase II
Moderation: Katharina Kreuder-Sonnen (Gießen)

09.30 – 10.30
Michael Knipper (Gießen): "Hilfe zur Selbsthilfe" in der medizinischen Entwicklungszusammenarbeit: Das Engagement des Deutschen Entwicklungsdienstes in Ecuador (1974-1981) und der GTZ in Peru (1986-1996)

10.30 – 11.30
Stefan Becker (Gießen): Architektonische Invasionen der "Hilfe". Zu Kulturtechniken der Raumaneignung und der Disziplinierung

12.00 – 13.00
Sonja Windmüller (Hamburg): Ent-Sorgen als Aufgabe und Programm. Zur (Selbst-)Regulierung der Abfall-Kultur

Workshop-Phase III
Moderation: Robert Stock (Gießen)

14.30 – 15.30
Boris Traue (London/Berlin): Therapeutische Systeme 1775-1975

15.30 – 16.30
Andreas Hirseland (Nürnberg): Aktivierung als Hilfe zur Selbsthilfe? Individualisierung und Wohlfahrtsstaat

17.00 – 18.00
Birgit Schwelling (Konstanz): "Hilfe zur Selbsthilfe" als Handlungsmaxime und Distinktionsformel. Der Verband der Heimkehrer und die ehemaligen Kriegsgefangenen in der frühen Bundesrepublik

18.00 – 19.00
Andreas Willisch (Bollewick): Selbsthilfe in prekären Lebenslagen. Zwischen Hartz IV und Kleingarten

Freitag, 4. März 2011

Workshop-Phase IV
Moderation: Ksenia Robbe (Gießen)

09.30 – 10.30
Aida Bosch (Erlangen): Fate and Agency. Biografische Handlungsmuster und ihre soziale Performanz

10.30 – 11.30
Michael Niehaus / Wim Peeters (Dortmund): Ent-Raten. Zu den Paradoxien von Anti-Ratgebern

12.00 – 13.00
Pierre Mattern (Luxemburg): Hilfe zur Selbsthilfe in Brechts Lehrstücken

13.00 – 14.00 Abschlussdiskussion

Contact (announcement)

Stefan Becker

International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC)
Alter Steinbacher Weg 38
35394 Gießen

stefan.becker@gcsc.uni-giessen.de

http://gcsc.uni-giessen.de/wps/pgn/home/GCSC_eng/conferences/