Praktiken, Akteure und Räume der Einsperrung. Zirkulationen und Transfers

Praktiken, Akteure und Räume der Einsperrung. Zirkulationen und Transfers

Veranstalter
Centre Marc Bloch Berlin; Forschungscluster ANR TerrFerme; Sektion für Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Centre de recherches interdisciplinaires sur l’Allemagne (UMR 8131 EHESS-CNRS) Paris
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2011 - 03.12.2011
Deadline
15.05.2011
Website
Von
Falk Bretschneider

Praktiken, Akteure und Räume der Einsperrung:
Zirkulationen und Transfers

Internationale Tagung
des Centre Marc Bloch Berlin, des Forschungsclusters ANR TerrFerme, der Sektion für Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Centre de recherches interdisciplinaires sur l’Allemagne (UMR 8131 EHESS-CNRS) Paris

Berlin, 1.-3. Dezember 2011

Wissenschaftliche Organisation:
Falk Bretschneider, EHESS/CRIA
Mathilde Darley, CNRS/Centre Marc Bloch, Programm TerrFerme
Camille Lancelevée, EHESS/IRIS, Centre Marc Bloch
Bénédicte Michalon, CNRS/ADES, Programm TerrFerme
Thomas Scheffer, Humboldt-Universität/Institut für Sozialwissenschaften

Die Orte der Einsperrung – Gefängnisse, Hospitäler, Klöster, Abschiebezentren, geschlossene Einrichtungen für Minderjährige, Kasernen usw. – sind in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer stetig wachsenden Anzahl von geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Studien gewesen. Angeregt von den intellektuellen Vorhaben einer Untersuchung von „Totalen Institutionen“ (E. Goffman) bzw. von „Disziplinarinstitutionen“ (M. Foucault), ist ein Teil der Forschungsarbeiten durch einen ethnologischen Ansatz zu einem präziseren soziologischen Verständnis dieser Orte gekommen. Ein weiterer Forschungsstrang mit zahlreichen Arbeiten hat sich mit dem historischen Herkommen dieser Institutionen beschäftigt und insbesondere die möglichen Kontinuitäten zwischen heutigen Formen des Freiheitsentzugs und ihren Vorgängern in der Geschichte herausgearbeitet. Im Ergebnis wurde eine Reihe von „Modellen“ aufgestellt, mit denen sich unterschiedliche Formen einer Regierung von Menschen durch Einsperrung denken lassen. Daneben wurden zahlreiche Überlagerungen zwischen diesen Institutionen herausgearbeitet (z. B. hinsichtlich der internierten Gruppen oder der Praktiken und Logiken der Einsperrung).

Auch unsere Tagung verfolgt das Anliegen, die Analyse von Orten der Einsperrung aus einer isolierten Betrachtungsweise zu lösen. Insbesondere zielt sie darauf ab, verschiedene Institutionen – insbesondere den Freiheitsstrafvollzug, die Inhaftierung von Ausländern (Abschiebungshaft) oder die Anstaltspsychiatrie – gemeinsam in den Blick zu nehmen. Denn: Alle diese Institutionen haben Entwicklungen durchlaufen, die – ohne ihre je spezifischen Zweckbestimmungen außer Acht zu lassen – eine gemeinsame analytische Betrachtung rechtfertigen. Anliegen der Tagung ist es deshalb, vergleichend nach den Praktiken, Akteuren und Räumen der Einsperrung zu fragen und insbesondere die möglichen Transfers und Zirkulationen zwischen verschiedenen Anstaltstypen zu untersuchen. Beleuchtet werden sollen die Wirkungen dieser Zirkulationen auf die Institutionen, aber auch auf ihre Akteure (eingesperrte, einsperrende und externe Akteure), auf ihre Organisations- und Raumstrukturen sowie auf ihre Bild in der Öffentlichkeit. Diese Fragen lassen sich zu vier großen Untersuchungsfeldern zusammenfassen:

1. Zirkulationen und Transfers von Akteuren und Kategorien

Am Ursprung jeder geschlossenen Einrichtung findet sich zunächst eine die Einsperrung legitimierende Kategorisierung (Labelling) bestimmter Personen oder Gruppen als „deviant“. Zu hinterfragen sind deshalb die Kategorien, die von verschiedenen Typen von Institutionen mobilisiert werden: Welche sind das und inwiefern überschneiden bzw. beeinflussen sie sich (und zwar nicht nur in den Praktiken der professionellen Akteure, sondern auch in den möglichen Aneignungen durch die Eingesperrten)?

Die Frage nach den Zirkulationen von Kategorien führt zu den konkreten Formen eines Wechsels zwischen verschiedenen Orten des Einsperrung. Von Historikern wurden die Übergänge im Innern der „kombinierten Institutionen“ der Frühen Neuzeit, aber auch zwischen den verschiedenen Typen geschlossener Anstalten (Gefängnis, Arbeitshaus, Irrenanstalt usw.) im 19. Jahrhundert mehrfach untersucht. Aktuelle Analysen hingegen haben sich nur selten mit solchen Formen des Wechsels beschäftigt (wozu beitragen dürfte, dass sie zwar existieren, im Allgemeinen aber nicht hinterfragt werden, weil die betroffenen Institutionen in der Regel als autonom begriffen werden bzw. sich selbst als autonom begreifen).

In sowohl diachroner als auch synchroner Perspektive stellt sich deshalb die Frage nach der Gestalt solcher Zirkulationen von Personen (Internierte, externe Akteure, Angehörige des Personals), die von einer zur anderen Institution wechseln. Welche Wirkungen haben sie darauf, wie die Insassen einer konkreten Institution „kategorisiert“ und wie die Orte der Einsperrung insgesamt von dort lebenden Akteuren betrieben werden?

2. Produktion und Reproduktion einer inneren Ordnung

Folgt man E. Goffmans Typologie von „Totalen Institutionen“, dann zeichnen sich diese durch eine Reihe von charakteristischen Merkmalen und Praktiken aus: eine (scheinbare strikte) Abschließung zur Außenwelt, ein Leben in ständiger Gemeinschaft, dessen Modalitäten ausdrücklich und minutiös geregelt sind, die Negierung der persönlichen Identität der Insassen zugunsten einer ausschließlich von der Institution definierten Rolle. Wie verhalten sich diese allgemeinen Charakteristika aber, wenn man sie aus der Nähe betrachtet? Zu fragen wäre deshalb nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den verschiedenen hier untersuchten geschlossenen Anstalten, etwa hinsichtlich der Hausordnungen, der rituellen Aufnahme- und Entlassungsprozeduren, der Organisation des Anstaltsalltags (Arbeit, Freizeit, religiöse Praxis usw.) oder der Überwachung, der Disziplinarbestrafung, aber auch der materiellen Bedingungen der Einsperrung sowohl für die Eingesperrten (Ernährung, Zugang zu medizinischer Versorgung, Familienkontakte etc.) als auch für die Einsperrenden (Praktiken des Zwangs, der Fürsorge usw.).

Zu fragen wäre ebenfalls danach, wie die Situation des Eingesperrt-Seins entlang der verschiedenen Einsperrungsorte und von den verschiedenen Akteursgruppen (Eingesperrte und Einsperrende) jeweils er- und gelebt wird. Gibt es eine über die Gesamtheit aller Institutionen hinweg geteilte Einsperrungserfahrung? Welche spezifischen Praktiken (des Widerstands, der Anpassung oder der Umgehung für die Eingesperrten / der Legitimierung von Gewalt für die Einsperrenden) entfalten sich innerhalb der Einsperrungsorte und wie entwickeln sich diese in Anhängigkeit von den politischen, ökonomischen, sozialen und räumlichen Veränderungen, denen sie unterworfen sind?

3. Raumpraktiken: Transformationen von Machträumen

Geschichtswissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass sich der Raum der Einsperrung seit Jahrhunderten an einem Schema orientiert: dem des Klosters. Der Kreuzgang hat einen wirkmächtigen Archetypus der Einsperrung geliefert, was sich auch an den konkreten räumlichen Nutzungsformen zeigt. Sinnfällig dafür stehen etwa die zahlreichen Beispiele einer Umwandlung von Klöstern in Hospitäler, Zuchthäuser oder Gefängnisse im nachreformatorischen Deutschland oder im nachrevolutionären Frankreich. Zu fragen wäre deshalb nicht nur nach den für geschlossene Institutionen prägenden Raummodellen, sondern auch nach den Transformationen, die sich hier über den Weg unterschiedlicher Nutzungen vollzogen haben. In dieser Perspektive sind besonders die Wirkungen interessant, die Transfers von Raumpraktiken von einer Institution zur anderen zeitigen, z. B. die Folgen des Fortschritts in den Sicherheitstechnologien der Gefängnisse für die räumliche Organisation anderer Einrichtungen, die Wirkung kolonialer Lagererfahrungen auf die in der Metropole feststellbaren Raumnutzungen oder der Fortbestand des Modells „Asyl“ in psychiatrischen Formen der Einsperrung.

In den Blick nehmen wollen wir daneben auch die (offiziellen und inoffiziellen) räumlichen bzw. raumschaffenden Praktiken der Akteure und ihren Beitrag für die Produktion jener spezifischen Machtstrukturen, die an Orten der Einsperrung wirksam sind. Darüber hinaus wäre danach zu fragen, inwieweit der Raum selbst Gegenstand von Aneignungen durch die Eingesperrten und die Einsperrenden ist bzw. welche Rolle er in Strategien der Infragestellung der herrschenden Ordnung und der von der Institution vorgegebenen Rollen spielt.

4. Öffnungen / Abschließungen der Orte der „Einsperrung“

Die Untersuchung von Einsperrungsorten bietet schließlich auch eine Gelegenheit, die Beziehungen zwischen Innen und Außen zu thematisieren. Die Geschichte der Einsperrung zeigt zum einen eine zunehmende Abschließung, die von den frühneuzeitlichen Institutionen mit ihren porösen Grenzen bis zu den Anstalten des 19. Jahrhunderts mit ihren auf den ersten Blick hermetisch abgeriegelten Toren und Mauern verläuft. Und auch in der Beschreibung der aktuellen Entwicklung von Orten des Freiheitsentzugs wird im Allgemeinen auf eine gesteigerte Abgeschlossenheit hingewiesen. Ist diese vermeintliche Abschließung aber tatsächlich auch in den Praktiken der Einsperrung zu beobachten – und wenn ja, auf welchen Ebenen?

Zum anderen lässt sich eine Tendenz zur (auferlegten oder gewollten) Öffnung dieser Institutionen zur Außenwelt hin beobachten. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Zahl von Vereinen oder Einzelpersonen beständig zugenommen, die von außen kommend in der Einsperrung agieren (religiöse oder philanthropische Vereinigungen, Ärzte, Inspektoren, Abgeordnete, später Sozialarbeiter, Psychologen und andere Akteure aus dem Bereich der sozialen Intervention). In der jüngeren Vergangenheit dazugekommen ist die Einführung von Strukturen zur Kontrolle dieser Orte, etwa die Contrôle Général des Lieux de Privation de Liberté in Frankreich oder das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter auf europäischer Ebene. Inwiefern verändert ein solches Eindringen externer Akteure (die eventuell auch „Kontrolleure“ sind) die Strukturen und Praktiken der Institutionen?

Beiträge, die im Rahmen dieses Call for Papers eingesandt werden, sollten sich also in einer historischen oder Gegenwartsperspektive für die Praktiken, Akteure und Räume der Einsperrung sowie für die Wirkungen ihrer eventuellen Transfers und Zirkulationen interessieren. Bevorzugt berücksichtigt werden Vorschläge, die mit einem empirischen Ansatz und einer praxeologisch orientierten Perspektive arbeiten. Den hier zunächst privilegierten Institutionen (Gefängnis, Abschiebungshaft, Psychiatrie) können anderen Typen von Einsperrungsorten gegenüber gestellt werden (Untersuchungshaft, geschlossene Einrichtungen für Jugendliche und Kinder, „labour camps“, aber auch Lager, Hospitäler bzw. Krankenhäuser, Kasernen usw.), wenn dies im Sinne der übergreifenden Fragestellungen der Tagung ist.

Organisiert wird die Tagung vom Centre franco-allemand de recherche en sciences sociales Berlin (Centre Marc Bloch), dem Institut ADES (über das Forschungsprogramm TerrFerme), der Sektion für Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und dem Centre de recherches interdisciplinaires sur l’Allemagne Paris. Wir erhoffen uns sowohl eine Vertiefung des interdisziplinären Dialogs als auch die Förderung einer international vergleichenden Perspektive. Ausdrücklich erwünscht sind deshalb Beiträge, die sich in verschiedene nationale Kontexte (auf europäischer Ebene oder darüber hinaus) einschreiben. Aus übersetzungspraktischen Gründen beschränken sich die Tagungssprachen allerdings auf Französisch, Deutsch und Englisch.

Vorschläge bitten wir in der Form eines Abstracts von maximal 300 Wörtern bis zum 15. Mai 2011 an die Adresse enfermement@googlemail.com zu schicken. Bitte geben Sie dabei an, ob Sie eventuell über eigene Finanzierungsmöglichkeiten verfügen. Reise- oder Übernachtungskosten können von den Tagungsveranstaltern ganz oder anteilig nur bei denjenigen Teilnehmer/inne/n zurückerstattet werden, deren Heimatinstitutionen sie nicht übernehmen können.

Programm

Kontakt

Falk Bretschneider

EHESS/CRIA, 96 boulevard Raspail, 75006 Paris

enfermement@googlemail.com