Der Wahnsinn der Kultur: Transkulturelle Techniken und mediale Ereignisse des Wahnsinns zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert

Der Wahnsinn der Kultur: Transkulturelle Techniken und mediale Ereignisse des Wahnsinns zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert

Organizer
DFG-Graduiertenkolleg ‚Transnationale Medienereignisse von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart‘
Venue
Justus-Liebig-Universität Gießen
Location
Gießen
Country
Germany
From - Until
04.11.2011 - 05.11.2011
Deadline
31.07.2011
By
GK Medienereignisse

Wer oder was auf welche Weise an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit als wahnsinnig erscheint oder begriffen wird, ist nicht zuletzt abhängig von den jeweiligen Kultur- und Medientechniken der Her- und Darstellung dieses Wahnsinns. Seine spezifischen Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten sind so zeitlich und örtlich variabel wie die Techniken, die ihn verzeichnen und notieren, ihn abbilden, anschreiben, aussagen, berechnen, ein- und umschließen. Bis zum 19. Jahrhundert lässt sich die Geschichte eines ‚europäischen‘ Wahnsinns damit vor allem (und vielleicht nur) als die Geschichte seiner gemalten und gedruckten Bilder und Schriften sowie seiner ein- und aussperrenden Architekturen erzählen. Diese epistemische Formation des Wahnsinns gerät in Bewegung, wenn technische Apparate, operationale Graphien und experimentelle Systeme um 1900 in der psychiatrischen Praxis die Materialität, Medialität und Operationalität von Schreib- und Bildakten hervortreten lassen. Neue Mediensysteme entwerfen neue Formen des Wahnsinns und schließen ihn an ebenso neue Diskurse, Institutionen, Praktiken und Architekturen an. Zur gleichen Zeit wird das Wissen vom Menschen und seinem Wahnsinn in kolonialen Situationen zur internationalen und transkulturellen Angelegenheit.

Die Techniken des Wahnsinns
Die erste Sektion des Workshops setzt bei den ‚europäischen‘ Techniken des Wahnsinns im ausgehenden 19. Jahrhundert ein: Die Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten, in denen der Wahnsinn erscheint und ausgesagt wird, werden von Technologien informiert und unterlaufen, die fortan ein neues Wissen vom Wahn produzieren: Technische Medien koppeln Körper an Apparate und schreiben als Schnittstellen zwischen Psyche und Physis oder eben Psychophysik den Wahnsinn in Laboratorien und Experimentalsystemen auf. Operationale Graphien (Diagramme, Zählkarten, Statistiken) zeichnen neuartige Geisteskrankheiten als Verlauf an und differenzieren sie als zugleich isolierte Objekte und dynamische Prozesse aus. Bildgebende Verfahren beschreiben Konjunktionen von Schrift und Bild, die Graphiken als wissenschaftliche Befunde lesbar werden lassen. Psychiater werden zu Forschern und Experimentatoren ausgebildet, Patienten zu Fällen gelistet und die Geschichten solcher Fälle aufgeschrieben. Kliniken werden durch neue Bürokratietechniken, Verwaltungsstrukturen und Architekturen zu Durchgangsstationen, während ‚Irrenstatistiken‘ die Bereiche der Diagnostik und Prävention aus der Klinik auf die Gesellschaft und schließlich auf Begriffe der Kultur sowie der unterschiedlichen Kulturen des Wahnsinns ausweiten. Was passiert, wenn der Wahn nicht länger als das Andere der Vernunft angeschrieben wird, aber als das Andere einer von psychophysischen Apparaten, Experimentalsystemen und statistischen Modellen ermessenen und berechneten individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Normalität?

Die Kultur des Wahnsinns
Der zweite Teil des Workshops richtet den Blick von den epistemischen Verfasstheiten und Umbrüchen in der Zeit auf die Differenzen der verschiedenen Orte und Situationen des Wahnsinns: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden in kolonialen Zusammenhängen zunehmend asiatische, afrikanische und amerikanische Körper von psychiatrischen und psychiatrisierenden Notationssystemen, Architekturen und Schreibakten erfasst, während sich in Europa Diskurse der Kultur und von den Kulturen mit solchen der Psychiatrie überkreuzen. Es beginnt ein Nachdenken über und Aufschreiben dessen, was man als Kulturalisierung des Wahnsinns bezeichnen könnte und sich schließlich hin zu einer Diagnostik der Kultur mit den Mitteln der Psychiatrie und aus der Perspektive des Wahnsinns entwickelt. Betrachtet man die Techniken des Wahnsinns derart als Kulturtechniken im doppelten Sinn (Techniken, die an unterschiedlichen Orten auf verschiedene Art und Weise das rahmen, was im mitteleuropäischen Kontext um 1900 als klinisch-psychiatrisches Phänomen bestimmt wird, sowie Techniken, die Differenzen zwischen unterschiedenen Kulturen allererst herstellen, verzeichnen und festschreiben, Vorstellungen und Begriffe der Kultur formieren und informieren), so tritt dem historischen Bruch ein räumlicher hinzu, der die Beobachtungsperspektive verdoppelt: Was hat ein javanischer Amokläufer mit dem gelisteten niederländischen Kolonialanstaltsinsassen mit dem in Zählkarten verzeichneten Kraepelinschen dementia praecox Patienten zu tun oder nicht zu tun – insbesondere, wenn sie im Jahr 1904 alle im gleichen Körper stattfinden? Welche Rolle spielt ein solcher Körper innerhalb von Experimental- und Notationssystemen, die um 1900 ein neues, trans- und internationales, kulturelles und vergleichendes (ethno-)psychiatrisches Wissen vom Menschen produzieren? Und was bedeutet es, wenn solche Psychiatrietechniken als Kolonialtechniken hervortreten und gleichzeitig in europäischen Kolonien und in Europa Patienten aufschreiben, Körper zurichten und Bevölkerung herstellen? Diesen und solchen Fragen nach der Differenz, Situiertheit und Kolonialisierung des Wahnsinns wendet sich der Workshop in einer zweiten Sektion zur Kultur des Wahnsinns zu.

Der Workshop zielt darauf ab, die unterschiedlichen Kompetenzen und gemeinsamen Interessen verschiedener Fachbereiche zusammenzubringen. Er wendet sich daher ebenso explizit an RegionalwissenschaftlerInnen wie an Kultur- und MedienwissenschaftlerInnen, Kolonial-, Psychiatrie- und WissenschaftshistorikerInnen. Zur Unterstützung der Workshop- als Werkstattatmosphäre ist angedacht, einem je 20-minütigen Vortrag eine 25-minütige Diskussion folgen zu lassen. Nach jedem der beiden Panels wird ein Gastwissenschaftler das Vorgetragene zusammenfassen, kommentieren und zu einer einstündigen, gemeinsamen Abschlussdiskussion überleiten.

Reise- und Übernachtungskosten für alle Vortragenden werden von den Veranstaltern übernommen.

Bewerbungen in Form eines 1-seitigen Exposés bitte bis zum 31.07. an: marian.kaiser@germanistik.uni-giessen.de

Programm

Contact (announcement)

Marian Kaiser

GK Transnationale Medienereignisse
Otto-Behaghel-Str. 10 C1, 35394 Gießen

marian.kaiser@germanistik.uni-giessen.de

http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/dfgk/tme/Aktuelles/ws-wahnsinn-der-kultur