Religiöse Vielfalt auf dem Land. Das östliche Europa im 19. Jahrhundert
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Durch das Prisma der Vielfalt werden in der Forschung zumeist nur städtische Lebenswelten und Grenzräume wahrgenommen. Doch sind in ganz Europa auch ländliche Regionen in vielfältiger Weise durch jahrhundertelanges multikonfessionelles und mehrsprachiges Zusammenleben geprägt. So zeichnet sich das östliche Europa durch viele konkurrierende Auslegungen, Traditionen und Konfessionen der großen monotheistischen Religionen auf dem Land aus. Der geplante Workshop möchte daher religiöse Vielfalt im Zusammenleben auf dem Dorf in seinen unterschiedlichen Formen und Entwicklungen im 19. Jahrhundert in den Blick nehmen.
Der dörfliche Kontext ist durch die eingeschränkte Zahl der potentiellen Sozialpartner sowie durch die Unausweichlichkeit von Kommunikation und Interaktion charakterisiert. Vis-à-vis Beziehungen des Sich-Kennens und Sich-Kontrollierens prägen dabei den sozialen Raum von Verwandtschaft und Nachbarschaft. Ausgehend von diesen spezifischen sozialen Kontexten im Dorf sollen zwei sich überlappende Fragenkomplexe den Workshop strukturieren: (1) Welche Formen der Interaktion, Abgrenzung und Kommunikation bestanden zwischen den unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften? (2) Wie und in welchen Entwicklungslinien wurden Kollektive entlang sich teilweise wandelnder konfessioneller Grenzen auf dem Dorf konstruiert? Entlang solcher Fragen sollen Phänomene wie beispielsweise sog. Haarschurpatenschaften im 19. Jahrhundert in der Herzegowina betrachtet werden, bei denen auch Muslime in Anwesenheit orthodoxer Priester Paten serbisch-orthodoxer Kinder werden konnten. Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass in anderen Dörfern religiöse Verbote bestehen konnten, die Häuser Andersgläubiger auch nur zu betreten.
(1) Besonders in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Religionen werden die Vorstellungen und Praktiken der eigenen Konfession reflektiert und diskursiv ermittelt. Dies führt in den religiös konnotierten Handlungen und Kommunikationen des Alltags einerseits zu Abgrenzungen der Glaubensgemeinschaften und ihrer Praktiken voneinander, andererseits aber auch zu Anpassungen und Übernahmen von Vorstellungen und Praktiken zwischen den Konfessionen. Welche spezifischen Ausprägungen religiösen Lebens lassen sich dabei in multireligiösen dörflichen Kontexten beobachten? Welche Umstände beeinflussten, ob sich die Praktiken der Glaubensgemeinschaften überschnitten, anglichen oder gar amalgamisierten, oder ob versucht wurde, sie stärker voneinander abzugrenzen? Waren die Entscheidungen zwischen Anpassung und Abgrenzung situativ bedingt? Welche Rolle spielten in derartigen Prozessen die Laien, welche der niedere und höhere Klerus, Ulema oder die Rabbiner, und welche Auseinandersetzungen gab es innerhalb der Glaubensgemeinschaften darüber?
(2) Das 19. Jahrhundert wird in Europa und besonders im mittleren und östlichen Teil gemeinhin als Phase der Nationsbildung verstanden. Das bedeutet, dass die Bezugsgrößen kollektiver Zugehörigkeit, wie beispielsweise soziale Stellung oder Religionszugehörigkeit, sich in ihrer Hierarchisierung verschoben und Vorstellungen einer gemeinsamen Abstammung, Sprache und Kultur zu einem Konzept „Nation“ rationalisiert wurden und mehr Gewicht erhielten. Glaube bekam in diesem Wandlungsprozess als Merkmal kollektiver Zugehörigkeit besonders in multireligiösen Räumen neue Bedeutung. Welche Rolle spielte Religion für die Kollektivbildung in dörflichen Kontexten, in denen Angehörige mehrerer Konfessionen eng benachbart lebten, oft sogar miteinander verwandt waren? Häufig war eine religiöse Gruppe, die in einem Staat eine Minderheit war, in einem bestimmten Dorf in der Mehrzahl. Wie beeinflusste dies lokal die Kollektivbildungen beider Gruppen und welche Wirkung hatte dabei das Verhältnis zwischen Konfessionsgruppe und staatlicher Herrschaft? Insgesamt ist dem zweiten Themenkomplex die Frage übergeordnet, welchen Bedeutungswandel Konfession im ländlichen östlichen Europa im Hinblick auf ihr Potential für Polarisierung und Vergesellschaftung durchlief.
Der Workshop findet am 22. und 23. Juni 2012 im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ am Institut für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt. Die Vorträge auf Deutsch oder Englisch sollen eine Länge von 30 Minuten nicht überschreiten. Interessenten schicken bitte ein Abstract ihres Vortrages sowie einen kurzen Lebenslauf bis zum 31. Januar 2012 an Heiko Schmidt und Heiner Grunert (igk@lrz.uni-muenchen.de).
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Religious plurality in the village. Eastern Europe in the 19th century
When dealing with social plurality, historical scholarship tends to concentrate on urban environments and borderlands. It thus overlooks the fact that all over Europe, there are also rural regions characterized by centuries of multireligious and multilingual coexistence. This is especially true for large parts of the Eastern European countryside, where Christianity, Judaism and Islam are present with a wide range of interpretations, traditions and denominations. The workshop will focus on the role of religious plurality for intergroup relations in the village of the 19th century.
In rural contexts, social partners are available in limited numbers, while communication and interaction are inevitable. Face-to-face relations of mutual acquaintance and control shape the social space of kinship and neighborship. Based on these specific social contexts in the village, two overlapping arrays of questions structure the workshop: 1) Which forms of interaction, distinction and communication existed between the different religious denominations? 2) How did religiously defined collectives maintain their borders, and how did they adjust to the general challenges and changes of the 19th century? Along these questions, we may analyze phenomena like godparenthood in Herzegovina in the 19th century, where Muslims could become godparents of Serbian-orthodox children in the presence of Orthodox priests. This seems even more astonishing when we take into account that in other villages religious restraints forbade to enter the homes of people of other religions.
(1) When being surrounded by people of another faith, groups tend to reflect upon their own confession more intensively. In such a situation they may either intensify religious traits which stress the border between themselves and the outsiders – or adapt to conceptions and practices of the neighboring denominations. Which specific forms of religious life can be observed in multireligious rural contexts? Which circumstances boosted inter-confessional adaption and overlapping, and which conditions rather lead to the opposite process of self-assertion and isolation? Were these circumstances long-term or short-term phenomena? What role did the laity, the higher and lower clergy, the ulema and rabbis play in these processes? What kind of conflicts aroused within the denominations about the position towards adherents of other faiths?
(2) In Europe, the 19th century is generally understood as a period of nation-building. This holds true especially for its middle and eastern parts. Nation-building means that hitherto basic criteria of collective affiliation such as social status and religious adherence became less stable and that ideas of common descent, language and culture fusioned into a concept of “nation”, which gained more importance. In this process of change belief obtained new meaning, especially in multireligious areas. What was this new place of religion in rural contexts, where members of different faiths lived closely together, sometimes even being related to each other by birth or marriage? Frequently religious groups, while representing minorities on the state level, formed majorities on the local level. How did this constellation affect the shaping of collectives? Which role did the relationship between the religious community and the state play in these cases? The main question of the second part of the workshop is how religious affiliation in the rural areas of Eastern Europe changed its meaning for the formation of collective identities.
Applicants are kindly asked to send an abstract of their presentation and curriculum vitae until 31 January 2012 to igk@lrz.uni-muenchen.de. Presentations in English or German should not exceed a length of 30 minutes.