Der Brief als Genre. Definitionen und Gattungsgrenzen (4.-11. Jahrhundert)

Der Brief als Genre. Definitionen und Gattungsgrenzen (4.-11. Jahrhundert)

Veranstalter
DFG-ANR-Projekt "Epistola: Der Brief auf der Iberischen Halbinsel und im lateinischen Westen. Tradition und Wandel einer literarischen Gattung (4. bis 11. Jahrhundert)"; Thomas Deswarte (Angers); Klaus Herbers (Erlangen); Bruno Dumézil (Paris); Jacques Elfassi (Metz); Nathanaël Nimmegeers (Madrid); Cornelia Scherer (Erlangen); Hélène Sirantoine (Poitiers)
Veranstaltungsort
Ort
Poitiers
Land
France
Vom - Bis
05.06.2013 - 08.06.2013
Deadline
31.10.2012
Website
Von
Cornelia Scherer

„Oh weh, ihr eigenes Gesetz kennen die Christen nicht mehr und sie kehren sich ab von ihrer eigenen Sprache, so dass bald in keiner christlichen Gemeinschaft mehr auch nur ein einziger unter Tausenden gefunden werden kann, der seinem Bruder in vernünftiger Form einen Brief schreiben könnte. Hingegen finden sich Massen ohne Zahl, die gelehrt den Pomp der Chaldäischen Literatur erklären können...“ So äußerte sich Paulus Alvarus in seinem Indiculus luminosus Mitte des 9. Jahrhunderts in Anbetracht des Verhaltens seiner christlichen Glaubensbrüder in al-Andalus. Ihm zufolge hing die Abkehr von der lateinischen Sprache mit dem Unvermögen Briefe zu schreiben zusammen, genauso wie die Hinwendung zum Arabischen mit dem Interesse für Poesie. Für Paulus Alvarus ist also der Brief für die lateinische und die Poesie für die arabische Kultur charakteristisch.

Eine solche Einschätzung im lateinischen Okzident läßt sich nur durch den außergewöhnlichen Erfolg der Gattung Brief erklären, der mit der Christianisierung einher ging: Dem theologischen Brief der apostolischen Zeit folgte eine heterogene Briefpraxis, die persönliche Botschaften, theologische Traktate, Synodalschreiben sowie päpstliche Briefe, die bald als Dekretalen überliefert wurden, umfasste. Diese Vielfalt der Briefkultur ist ein Erbe der Antike: Die epistola, der „Dialog der Abwesenden“, konnte schon in dieser Zeit die Form eines persönlichen Briefes, eines Widmungsbriefes, eines philosophischen oder wissenschaftlichen Brieftraktates oder einer Rede in Briefform annehmen. Daher sollte die epistola nicht allein als Kommunikationsmedium, sondern als kulturelles Phänomen verstanden werden: Die Briefform ist immer auch eine literarische Gattungswahl. Es gilt die Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Form zu untersuchen, da eine Trennung von Aussageabsicht und der Art, wie die Aussage gemacht wird, nicht möglich ist. Folglich wird bei der ersten Tagung des Epistola-Projekts der Schwerpunkt auf linguistischen und stilistischen Aspekten liegen, um dann auf einer zweiten Tagung 2014 in Erlangen überlieferungsgeschichtliche Fragen und auf der Abschlusstagung in Madrid 2015 den Brief in seinem sozialen Umfeld in den Blick zu nehmen.

Formal betrachtet ist der Brief zunächst Ausdruck des Individuums in einer Zeit, in der die Anonymität des Autors in anderen Bereichen wie der Historiographie und der Hagiographie sehr häufig ist. Zwischen dem Ende der Antike und der papstgeschichtlichen Wende des 11. Jahrhunderts (in deren Zuge der Brief innerhalb der Kirche als bevorzugtes Mittel der Verbreitung von Reformgedanken neue Aufgaben erhielt), zählt der Brief zu den wenigen Schriftzeugnissen, in denen sich Gefühlsäußerungen finden lassen, bis hin zur Imitation mündlicher Kommunikation. Trotzdem kann man einen Brief nicht einfach als „Personenersatz“ oder imago animi ansehen, in dem sich unverstellt die Subjektivität des Autors und die Objektivität der Gegenstände wiederfinden lassen. Briefe wurden oft diktiert und manchmal sogar von einer anderen Person als dem Autor verfasst, so dass dessen Gedanken nicht zwingend widergegeben wurden. Um diese Phänomene soll es in der ersten Sektion („Der Brief als Ausdruck von Individualität?“) gehen.

Auch wenn der Brief theoretisch nur an einen einzigen Adressaten gerichtet war, ist er nicht immer im Verborgenen geblieben: Die meisten mittelalterliche Briefe sind auf uns gekommen, weil sie gerade nicht privater Natur waren. Die Verfasser können sowohl mit der Ambiguität von Privatheit und Öffentlichkeit spielen als auch mit der Vielzahl möglicher Adressaten, beginnend mit dem Empfänger der Botschaft über das Verlesen bis hin zur Überlieferung für die Nachwelt. Auf diese Weise verdeckt die scheinbare Unmittelbarkeit des Ausdrucks oft unterhintergehbare literarisch-argumentative Strategien – so schon bei den berühmten Briefen Senecas an Lucillius, die im Stil einer Unterhaltung geschrieben sind, die jedoch nur als Deckmantel philosophischer Ausführungen dient. Diese Strategien sind umso variantenreicher, da das Genre Brief sich durch seine große Bandbreite auszeichnet, denn die aus der Antike überlieferten Regeln (das Formular) waren wenig verpflichtend, bis im 12. Jahrhundert im Rahmen der artes dictaminis Normen für den Brief an sich aufgestellt wurden. Die Gattung Brief besitzt daher eine ihr eigene stilistische Kraft, deren Ziel es ist, dem Empfänger eine Information oder einen Auftrag zu vermitteln, ihn zu überzeugen oder einfach nur mit ihm in Kontakt zu bleiben. Deshalb bedienen sich die Schreiber sehr unterschiedlicher Sprachniveaus, der Art des Austauschs, dem Empfänger und den besprochenen Themen entsprechend – manchmal sogar innerhalb desselben Schreibens. In der zweiten Sektion der Tagung („Die literarischen Strategien der epistola“) sollen vor allem die Modalitäten der Vergegenwärtigung des Briefpartners in absentia untersucht werden, genauso wie stilistische und lexikographische Besonderheiten des Briefs, insbesondere sein performativer Wortschatz.

Aufgrund des großen Erfolges der Briefgattung ‚kontaminierte‘ sie auch andere Arten von Dokumenten, was sich in besonderem Maße bei Traktaten oder Urkunden in Briefform zeigt. Zudem gelangten Briefe in viele literarische Werke: teilweise als Widmungsbriefe, die dem Haupttext vorangestellt sind, teilweise in diesen integriert oder einfach angehängt. In der dritte Sektion („Konturen und Durchlässigkeit des Briefgenres“) sollen Aufnahmekriterien für solche Schreiben im Fokus stehen, aber auch Grenzformen der Briefgattung.

Für die Vorträge ist eine Redezeit von 30 Minuten vorgesehen. Vorschläge für einen Beitrag, die den Umfang von 600 Wörtern nicht überschreiten sollen, können bis zum 31. Oktober 2012 an Hélène Sirantoine (hsirantoine@yahoo.fr) gesandt werden. Die Vortragssprachen sind deutsch, französisch und spanisch.

Programm

Sektion 1: Der Brief als Ausdruck von Individualität?
Wer schreibt Briefe?; Echtheit von Briefdokumenten; Spontaneität und Sprachniveau; Brief und Gefühl; Der Brief als „Ersatz einer Person“?

Sektion 2: Die literarischen Strategien der epistola
Regeln für die Abfassung von Briefen; Anlässe einen Brief zu schreiben: Kontakte halten, informieren, delegieren, unterrichten etc.

Sektion 3: Konturen und Durchlässigkeit des Briefgenres
Der Brief in Abgrenzung zur Urkunde und zur Historiographie; Reskripte und Dekretalen; Brieftraktate und Widmungsbriefe

Kontakt

Cornelia Scherer

Lehrstuhl für Mittelalterliche Gesichte; Kochstr.4/BK9; 91054 Erlangen

09131/8525893

cornelia.scherer@gesch.phil.uni-erlangen.de


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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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