Anm. d. Red.: Die Anmeldefrist wurde bis 2. November verlängert.
- In memoriam Nikolaus Lehner -
Unter den Millionen von Displaced Persons, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufhielten, waren in großer Zahl Juden aus Osteuropa. Die nationalsozialistischen Besatzer hatten sie am Ende des Krieges ins Reich verschleppt, wo sie unter verheerenden Bedingungen Zwangsarbeit für die deutsche Kriegswirtschaft leisten mussten. Andere hatten nach dem Krieg ihre Staaten verlassen, da jüdisches Leben dort nahezu vollständig vernichtet war und der Antisemitismus weiterhin grassierte. Viele warteten nach der Befreiung oft jahrelang, bis sie Deutschland endlich hinter sich lassen und sich in Übersee, Palästina oder anderswo eine Existenz aufbauen konnten. Untergebracht in ehemaligen Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern oder anderen zu DP-Camps umfunktionierten Bauten warteten die Überlebenden der Shoah auf ihre Ausreise. Viele Deutsche brachten angesichts ihrer eigenen Sorgen allerdings kaum Interesse für die Bedürfnisse und Nöte der überlebenden Juden auf, im Gegenteil: Sie betrachteten sich selbst als Opfer des Dritten Reiches, des Krieges oder der Kriegsgegner, und nicht selten wurden Juden erneut diskriminiert.
Im Mittelpunkt des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte 2012 steht unter gesellschafts- und kulturgeschichtlicher Perspektive die Frage nach der sozialen Realität der Überlebenden der Shoah mitten im Land der Täter. Besonderes Augenmerk ist auf die ehemaligen jüdischen Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau gerichtet, die zu Tausenden aus Osteuropa verschleppt worden waren um in den Außenlagern Zwangsarbeit zu leisten; viele kamen zudem im Zuge der Todesmärsche nach Dachau. Aber auch um die Erfahrungen ehemaliger Insassen anderer Lager geht es und zudem um überlebende Juden, die in DP-Einrichtungen in Stadt und Landkreis untergebracht wurden. In welcher Situation befanden sie sich und wie sah ihr Alltag aus? Was lässt sich über ihre Isolation und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen sagen? Welchen Konflikten waren sie ausgesetzt? Wie gestalteten sich angesichts der sozialen und politischen Rahmenbedingungen die Anfänge jüdischen kulturellen Lebens in Bayern? Zu diesen Fragen liegen neue Forschungen vor, die vorgestellt und diskutiert werden. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf das Nachkriegsjahrzehnt, reicht aber auch bis in die Gegenwart, denn viele damals begonnene Diskussionen beschäftigen uns noch heute.
Unter den überlebenden Juden im Konzentrationslager Dachau bildeten die Ungarn die größte Gruppe. Zu ihnen gehörte der aus Siebenbürgen stammende Nikolaus Lehner, dessen Familie in Auschwitz ermordet worden war, nur ein Bruder hatte überlebt. Wie alle anderen befreiten Häftlinge von Dachau wollte Nikolaus Lehner Deutschland so rasch wie möglich verlassen. Aber die Formalitäten seiner geplanten Ausreise in die USA zogen sich in die Länge. Er heiratete und gründete nach der Währungsreform einen Handwerksbetrieb. Noch immer wollte er fort, aber dann blieb er mit seiner Familie doch in Dachau. Zu einer Zeit, als dies noch keineswegs selbstverständlich war, setzte Nikolaus Lehner sich für die Erziehung junger Leute zu Toleranz und Verantwortung und für die Jugendbegegnung in Dachau ein, die er im Wege des Schüleraustauschs mit Jerusalem initiierte, gemeinsam mit Johann Waltenberger, dem Direktor des örtlichen Josef-Effner-Gymnasiums. Dass nach der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, die in West-Deutschland 1979 das öffentliche Gespräch über die Verbrechen an den europäischen Juden einleitete, die breite Auseinandersetzung mit der NS Vergangenheit auch in Dachau begann, ist wesentlich auf Nikolaus Lehner zurückzuführen. Er wurde als Aufklärer und Mahner aktiv und engagierte sich zusammen mit Waltenberger – gegen vielerlei Widerstände – für den Bau des Jugendgästehauses in Dachau. Als Zeitzeuge beeindruckte Lehner Hunderte junge Leute aus aller Welt, die seit den achtziger Jahren jeden Sommer zum Jugendbegegnungszeltlager in die Stadt kamen. Die öffentliche Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus war Nikolaus Lehners großes Thema, bis er mit 81 Jahren 2005 verstarb. Ihm ist dieses Dachauer Symposium für Zeitgeschichte gewidmet.
Das Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte hat sich als Forum des wissenschaftlichen Austauschs über die Geschichte des Nationalsozialismus etabliert - in der internationalen Zeitgeschichtsforschung ebenso wie in der interessierten Öffentlichkeit. Die Stadt Dachau erwarb sich durch ihre vielfältige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dritten Reiches in Deutschland und darüber hinaus den Ruf eines Lern- und Erinnerungsortes; das Symposium, das sie seit 2000 in Zusammenarbeit mit dem Max Mannheimer Studienzentrum / Internationalen Jugendgästehaus jährlich veranstaltet, trug das Seine dazu bei. Ziel der Reihe ist es, aktuelle Forschungen zur Geschichte und Nachgeschichte der NS-Zeit vorzustellen, zu diskutieren und darüber nachzudenken, wie und warum der Nationalsozialismus unsere Gegenwart nach wie vor berührt. Sowohl um Gegenwartsbezüge geht es als auch um die Einbindung aktueller "erinnerungskultureller" Entwicklungen. Nicht ausschließlich Spezialisten sollen sich zusammenfinden, sondern das Symposium möchte einer breiten interessierten Öffentlichkeit ein Forum zur Information und Diskussion bieten.