Das diesjährige Kolloquium zur Polizeigeschichte wird sich auf zwei Themenfelder konzentrieren. Auf dem Kolloquium sollen laufende Arbeiten zu jedem der beiden Themen vorgestellt und diskutiert werden. Daneben wird, wie bisher, Raum sein für die Vorstellung von Arbeiten zur Geschichte der Polizei und des Polizierens, die sich keinem dieser beiden Themen zuordnen lassen.
1. „Risiko“: ein Kriterium polizeilichen Handelns?
In der Frühen Neuzeit stand „Policey“ für den obrigkeitlichen Anspruch, Wohlfahrt und "Glückseligkeit" der Untertanen zu besorgen. Deren produktive Regsamkeit wie reproduktive Energie sollte gehegt und gepflegt werden. Diese gleichermaßen fürsorgliche wie reglementierende Regierung ist zu unterscheiden von der rigorosen Durchsetzung souveräner Herrschaft, die deren Bestand gegen Feinde zu sichern sucht. Michel Foucault hat in diesem Sinne neben den Souverän die Figur des "Familienvaters" gestellt (Foucault 1978/2003). Während die Akteure der souveränen Gewalt stets auf der Hut sein müssen – gegen das Risiko eines Umsturzes von innen oder eines Angriffes von außen – scheint der "Familienvater" allein um das Wohlergehen der ihm Anvertrauten bemüht. Andererseits: Zielt nicht gerade seine stete Zuwendung und Sorge ebenfalls auf die vorbeugende Abwehr möglicher Risiken?
Im Rahmen des Kollquiums interessiert, welche Risiken auf welche Weise in konkreten Situationen und Konjunkturen polizeilich wahrgenommen,definiert und bearbeitet wurden. Wer oder was konstituiert(e) aus polizeilicher Sicht ein Risiko? Welche Praktiken wurden eingesetzt, um vorbeugend Schaden abzuwehren oder diesen im Nachhinein zu begrenzen? Welche Wahrnehmungsmuster und Wahrnehmungspraktiken galten dem Erkennen von "gefährlichen" Personen, Situationen oder Dingen? Wie verschob sich die Aufmerksamkeit von den Vagierenden, die angeblich von außen eindrangen, auf die "Gauner" in der eigenen Gesellschaft (vgl. F-C. B. Avé-Lallemant, in den 1850ern)? Wie wurden biologisierende Konzepte, zumal von den "Berufsverbrechern" (R. Heindl; dazu P. Wagner), praktisch umgesetzt, zumaL körperbezogene Identifizierungspraktiken und -medien?
Das verweist auf weitere Kontexte, die auch aufgegriffen werden könnten: 'Stadt', vor allem 'Großstadt' wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert als ein diffuses Risiko thematisiert, das gemeinschaftsförmige Formen sozialer Organisation bedroht. Wie lässt sich z.B. die Entstehung der Kriminalpolizei in diesem Zusammenhang verorten? Dabei ist 'Risiko' nicht unbedingt 'per se' vorhanden, sondern in besonderem Maße auch ein (polizeilicher) Zuschreibungsmechanismus. Das wird vor allem auch an Jugendlichen als polizeilichem Problem deutlich, deren Verhalten in wechselnden Konstellationen einmal als Risiko für diese selbst, aber auch als Risiko für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen gedeutet wurde (und immer noch wird). Wie und in welchem Umfang dieser gesellschaftliche Bedarf an einer Risikominimierung in unterschiedlichen Kontexten in (polizeiliche) Versuche der Verhaltenssteuerung umgesetzt wurde (und weiterhin wird) gehört auch zu den Fragen, die behandelt werden könnten.
Aber nicht nur "Störer" oder "Kriminelle" standen für die vielerlei Risiken, die zu beachten und auszuschalten waren. Seuchen, wie europaweit die Cholera in den 1830er Jahren (Olaf Briese, 2003) oder in Hamburg 1892 (Richard Evans, 1990/ 1996) erforderten rasches und umfassendes Handeln. Das galt gleichermaßen bei Epidemien, zum Beispiel der Spanischen Grippe 1918/19. Wie wurde die Seuchenprävention betrieben – wie zum Beispiel die Cholera-Kordons in den 1830er Jahren organisiert? Inwieweit informierten die (z.T. militärischen) Praktiken gesundheitspolizeilicher Prophylaxe die rassistischen Ausgrenzungspolitiken in den 1920er und vor allem 1930er Jahren? - Aber auch Großunfälle und Umweltverschmutzungen wurden bereits im 19. Jahrhundert als Risiken gedeutet und sind auch aktuell noch ein Kriterium für polizeiliche Interventionen - bis hin zur Deutung des heutigen Umweltstrafrechts als Risikostrafrecht.
2. Biographische Ansätze
In Abkehrung vom Konzept der Biographie "großer" Persönlichkeiten haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten neue Muster biographischer Recherche und Rekonstruktion entwickelt. Überwiegend konzentrierte sich das Interesse auf die Menschen jenseits der „politischen Kommandohöhen“, auf die „Vielen“ und ihre Alltagswirklichkeiten und Alltagspraktiken. Ihre Selbstzeugnisse rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit – welche Konzepte des Selbst, welche Vorstellungen politischer Ordnung und gesellschaftlicher Zukunft lassen sich erkennen? Welchen Veränderungen waren die einzelnen im Lebenslauf unterworfen, mit welchen generationellen Schichtungen, Dynamiken und Brüchen hatten sie es zu tun?
Im Diskurs über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die auch eine Geschichte von Gewalt ist, hat sich neben der Aufmerksamkeit für die Opfer eine Forschung der Täter und ihrer Helfer etabliert. Hier sind mehrfach biographische bzw. kollektivbiographische Zugänge genutzt worden. Zu nennen sind etwa Ulrich Herberts mehrschichtige Biografie von Werner Best von 1996 oder Michael Wildts „Generation des Unbedingten“ (2002), eine gruppen- bzw. generationenbezogene, zugleich biografische Erkundung des Reichssicherheitshauptamtes im Nationalsozialismus. Einzubeziehen sind die Mitläufer und Mitmacher, die ausführten, was ihnen ihre Vorgesetzten (oder ihr „Deutschtum“) befahlen - die dabei mitunter Handlungschancen nutzten (und von Vorgaben abwichen oder sie auch übererfüllten). Kurz: Differenzierte Darstellungen des Mittuns sind dringlich, seiner Bedingungen und Möglichkeiten ebenso wie der konkreten Praktiken.
Für die Geschichte der Polizei ist ein biographischer Ansatz zumal deshalb besonders relevant, weil hier Menschen staatliche Macht ausüben und an ihr partizipieren. Auszuloten wären beispielsweise die Veränderung von Lebensweisen bei Eintritt in eine Polizeiorganisation, die damit verknüpften mentalen und kulturellen (Ver-)Formungen und ideologischen Prägungen, vor allem die Handlungsoptionen im Umgang mit Macht und (Staats-)Gewalt, aber auch die individuellen wie gruppenspezifischen Auseinandersetzungen mit Hierarchien - also das Biographische auch in den institutionellen Kontexten zu denken (Michael Wildt), in denen sich das Biographische entfaltet bzw. Merkmale der jeweiligen Organisationskulturen einzubeziehen (Melanie Becker).
Insgesamt bieten sich zahlreiche Möglichkeiten biographischer und autobiographischer Annäherung an die Akteure in der Polizei wie in anderen Sicherheitsinstitutionen. Zu nutzen sind schriftliche, mündliche und visuelle Materialien. Neben Verwaltungs- und Gerichtsakten gehören dazu insbesondere Egodokumente, vor allem Tage- und Aufschreibebücher, Handkalender, Briefe oder Photoalben. Also: Welche Arbeiten sind geplant oder im Gange, die entweder (auto-)biographische Dimensionen oder solche der Beschäftigung mit (Un-)Sicherheit, des Polizierens oder des Poliziertwerdens erschließen? Welche theoretischen und methodischen Überlegungen könnten für Forschungen nutzbar gemacht werden?
Vorschläge für einen Beitrag sollten eine bis zwei Seiten umfassen.