Perfektion und Perfektibilität

Perfektion und Perfektibilität

Veranstalter
Zentralinstitut »Anthropologie der Religion(en)«, Erlangen
Veranstaltungsort
Ort
Erlangen
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2014 - 01.10.2014
Deadline
31.05.2014
Von
Lars Allolio-Näcke

4. Internationale Tagung des Zentralinstituts »Anthropologie der Religion(en)« vom 29. September bis 1. Oktober 2014 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Call for Paper

Auch wenn das Konzept Perfektibilität erst im 17. und 18. Jahrhundert debattiert wird, so bestimmt die Idee der Vervollkommnung, des Besseren, des Perfekten spätestens seit der Perserzeit das menschliche Denken. Man denke hier an Platons Ideen von Staat und Seele oder an die prophetische Rede, die in der Offenbarung des Johannes in das ›Himmlische Jerusalem‹ mündet. Die bis dahin dominierende Rede von Heils- und Zukunftserwartung in der Welt richtet sich weg von der Geschichte hin zur ›Transzendenz‹. Und diese Vorstellung beeinflusst das Christentum wie den Islam. Zwar war der vernunftbegabte und nach Glück strebende Mensch bereits Aristoteles Thema und bestimmt von dorther die Blütezeit islamischer Philosophie vom 9.-12. Jahrhunderts, allerdings trat er nicht als seine Zukunft und seine Vervollkommnung in der Hand Habender in Erscheinung. Diese Rolle übernimmt erst der Mensch der Aufklärung.

Perfektibilität ist das Thema der Aufklärung und wird die Vorläufer des 17. Jahrhunderts (Galilei, Descartes, Pascal) aufnehmend im 18. Jahrhundert, auf den Menschen zielend, in die wissenschaftliche Debatte der Philosophie und Pädagogik eingeführt. Dreh- und Angelpunkt ist dabei Jean Jacques Rousseau, auf den sich die Nachfolger (Lessing, Mendelsohn, Lichtenberg, Baumgarten, Herder, Fichte) beziehen. Rousseau versteht Perfektibilität als Potenzial, zu dem nur der Mensch fähig ist. Er allein ist zum Fortschritt und zur Vervollkommnung seiner selbst fähig. Moral, Wissenschaft und Kunst sind die Felder, an denen die Vervollkommnung des Menschen diskutiert wird.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird der bis dato individual gedachte Begriff auf überindividuelle Phänomene übertragen: Religion (Christentum), Kultur, Wissenschaft, Institutionen, wie Kirche und Staat. Mit dieser Wendung verliert der Begriff seine Utopie und wird von der Vervollkommnungsfähigkeit hin zu einer im geschichtlichen Prozess faktisch nachweisbaren Vervollkommnung umdefiniert. Insbesondere Schelling kritisiert, dass aus der Idee des Fortschritts noch keine unendliche Perfektibilität der Menschengattung folge. Wie recht er hatte, zeigt das 19. Jahrhundert eindrücklich am Kolonialismus und der damit einhergehenden Hierarchisierung der Rassen sowie schließlich die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts.
Eine historische und systematische Aufarbeitung der Diskurse und Praktiken der Perfektionierung ist ein wissenschaftliches Desiderat. Erkennbar ist, dass diese über die Jahrhunderte hinweg einerseits deutlich verschiedene Schwerpunkte (z. B. ethisch, ästhetisch, politisch etc.) und andererseits nachvollziehbare Kontinuitäten (z. B. Kompensation, Vervollständigung, Transzendenz) haben. Der Diskurs brach mit dem 2. Weltkrieg ab und wird heute auf pragmatischer Ebene oder in ethischen Debatten geführt. Eine Verbindung beider, wie dies für das 18. Jahrhundert typisch ist, wird nicht hergestellt; zu nah noch sind die Schrecken des nationalsozialistischen Perfektionierungswahns.

Den Fragen und Problemen der Perfektion und Perfektibilität will die Tagung in drei Perspektiven nachgehen: historisch, theoretisch und Praxis reflektierend. Zum Tragen kommen diese drei Ebenen in drei Schwerpunkten: (Perspektive I) Kontrafaktische Welt- und Lebensentwürfe von der Perserzeit bis ins Mittelalter sollen hier Thema ein sein. Aber auch der Mensch in seiner Stellung zu sich selbst, seinem Vermögen und Unvermögen sowie sein Verhältnis zur Transzendenz (JHWH, Gott, Allah) sollen Thema sein. (Perspektive II) Die Aufarbeitung des historischen und theoretischen Diskurses, der Perfektibilität seit dem Übergang von der Vormoderne zur Moderne zum grundlegenden Selbstverhältnis westlicher Gesellschaften erhob, und deren Potenziale für die heutige Zeit gehoben werden sollen. (Perspektive III) Es soll eine Zeitdiagnose gewagt werden, die die Vorstellungen von Perfektibilität und die daraus resultierenden praktischen Implikationen für Gesellschaft, Medizin und Technik reflektiert und deren Chancen wie Risiken untersucht.

Perspektive I: Utopie und Transzendenz
(Jürgen van Oorschot / Frank Adloff)
Die neu entstehenden Großstrukturen der Perserzeit führen neben einem effizienten Hegemonialreich seit Dareios II. zugleich zu einer großen Unübersichtlichkeit für und in den verschiedenen Regionen. Dies spiegelt sich etwa im frühen Judentum der Levante seit Ende des 6. Jh. v. Chr., in dem die bisher als Spielart einer altorientalischen Kulturreligion ansprechbare Religion zunehmend Elemente kontrafaktischer Religiosität entwickelt. Rettungs- und Heilserwartungen etwa, die bislang im Rahmen einer Geschichtstheologie politisch konkret gedacht waren, wandeln sich zu jenseitigen, perfekten Heilsszenarien. Nachverfolgen lässt sich dies etwa an perserzeitlichen Prophetentexten (u. a. Jes 40-66). Dem korrespondiert auf der individuellen Ebene eine zum System perfektionierte Erfahrungsweisheit, denen das Imperfekte menschlicher Existenz und menschlichen Wissen reklamierende Einsprüche in Gestalt des Hiob- und Koheletbuches entgegentreten. Utopie und Transzendenz gehören über die Wirkungsgeschichte dieses Wandelns der altisraelitischen Kulturreligion zum Frühen Judentum seitdem zum festen Bestandteil der jüdisch-christlichen und dann auch islamischen Traditionen.
In den Beiträgen des Panels kann die Bedeutung von Utopie und Transzendenz als Ausdrucksformen von Perfektion und Perfektibilität anhand religiöser Grundlagentexte (Tanach; Altes Testament; Neues Testament; Koran) oder durch einen Blick auf zeitgenössische Debatten über die sog. Achsenzeitkulturen nachgezeichnet werden. Die historischen Fallbeispiele können dabei auch durchsichtig gemacht werden für Grundstrukturen gesellschaftlicher und individueller Perfektionierungsprozesse. Entsprechend sind Beiträge aus den Disziplinen der jüdischen, christlichen oder muslimischen Exegese ebenso erwünscht wie historische oder soziologische Beiträge zur Rolle der Utopie und Transzendenz.

Perspektive II: Gesellschaftlicher Fortschritt und institutionelle Machbarkeit
(Birgit Emich / Christine Lubkoll)
Die Heils- und Zukunftserwartungen, die sich in den perserzeitlichen Büchern des Alten Testaments weg von der Geschichte hin in die Transzendenz verlagern, kehren in der Frühen Neuzeit zurück aus der Transzendenz in die Geschichte. Zunächst noch als Utopien für ferne, nahezu zeitlose Orte konzipiert, werden die Entwürfe für eine bessere Welt zunehmend in der Zeit verortet. Mit dieser Verzeitlichung der Utopie (R. Koselleck) ist nicht nur die Idee des Fortschritts verbunden; gleichzeitig erlangen Vorstellungen der Machbarkeit neue Bedeutung: Die Geschichtlichkeit wird zum Scharnier, das den Raum der Vorstellungen mit der Dimension des Machbaren verbindet.
Die Beiträge des Panels zeichnen nach, wie sich dieser Prozess vollzieht. Während die Ideengeschichte des Perfektibilitäts-Gedankens seit der Frühen Neuzeit gut aufgearbeitet ist, gilt das besondere Interesse namentlich der Frage, welche Rolle staatliche und andere Institutionen als Träger des gesellschaftlichen Fortschritts, aber auch als Gegenstand von Machbarkeits- und Verbesserungsvorstellungen spielen (politische, ökonomische und juristische Institutionen, Bildung, Wissenschaft, aber auch Institutionen wie die Familie oder etwa Vereine etc.).
Beiträge aus verschiedenen Disziplinen sind erwünscht, etwa der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Pädagogik oder auch der Literatur- und Kulturwissenschaften. Der Zeitrahmen ist weit gesteckt und kann von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart reichen.

Perspektive III: Selbsttechniken und technische Perfektionierung
(Stefan Sorgner / Karl-Heinz Leven / Günther Görz)
Die Frage der technischen Perfektionierung hat sich im internationalen philosophischen, technischen und naturwissenschaftlichen Diskurs aufgrund des stattfindenden wissenschaftlichen Fortschritts seit Anfang dieses Jahrtausends ständig intensiviert. Neueste Forschungen legen nahe, dass Techniken, die traditionell zur Behandlung von Krankheiten genutzt wurde, auch zur Steigerung von Fähigkeiten, zum Enhancement, angewendet werden können. Die Bereiche des Cyborg-Enhancements (z. B. deep brain stimulation) und des morphologischen (z. B. plastische Chirurgie), genetischen (z. B. PID) und pharmakologischen (z. B. Ritalin) Enhancements sind diesbezüglich die am meisten diskutierten.

Eine zentrale Fragestellung der Debatten ist die nach dem Kriterium der Perfektionierung, wobei zahlreiche Positionen von einer zeitgemäßen Variante des Renaissance-Ideals bis hin zu einer radikalen Pluralität des Guten vertreten werden. Besondere Aufmerksamkeit kommt hierbei den Eigenschaften der Intelligenz, Konzentrationsfähigkeit, Erinnerungsfähigkeit und Gesundheitsspanne zu. In den letzten Jahren ist außerdem noch die Frage nach der technischen Perfektionierung von Moralität hinzugetreten.
Eine besonders pointierte Position wird diesbezüglich von Vertretern des Transhumanismus vertreten, die technische Verbesserungstechniken zur Förderung der Weiterentwicklung der Menschheit bejahen, wodurch die Frage nach dem Posthumanen relevant wird. Es ist jedoch auch unter Transhumanisten strittig, ob die Entstehung des Posthumanen eher durch das mind-uploading oder durch genetische Veränderungsmaßnahmen gefördert wird. Eine größere allgemein gesellschaftliche Bekanntheit erhielt der Transhumanismus durch den Roman Inferno von Dan Brown, in dem diese intellektuelle Bewegung und einige von ihnen diskutierte Fragestellungen im Mittelpunkt stehen.

Erwünscht sind historische wie theoretische Beiträge und Berichte aus der Forschung, welche helfen, das Verständnis des Menschen und des Menschlichen weiter zu erhellen und zu vertiefen. Aber nicht nur wissenschaftliche Zugänge sind erwünscht, auch die vielfältige religiöse, soziale, künstlerische wie Alltagspraxis kann anregen, über das Thema Religion und Körperlichkeit nachzudenken.

Eingereicht werden können Beiträge und Poster, aber auch Vorschläge zu Arbeits- und Diskussionsgruppen sowie Workshops. Wir bitten in jedem Fall um die Zusendung eines Abstracts im Umfang von maximal einer Seite, welches den Tagungsbeitrag inhaltlich und ggf. organisatorisch beschreibt (Titel, Autorinnen und Autoren, Art des Beitrags, Zuordnung zum jeweiligen Panel, eventuell gewünschter Zeitrahmen, erforderliche Hilfsmittel zur Visualisierung und Realisierung), bis
30. April 2014
an: lan@plattform-anthropologie.de

Eine Rückmeldung zur Annahme und zur Form der Realisierung der eingereichten Beitragsidee erfolgt bis Ende Mai! Die Auswahl der Beiträge liegt in der Verantwortung der Tagungsleitung und beauftragter Gutachterinnen und Gutachter. Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch. Es stehen begrenzt Gelder zur Finanzierung von Reisekosten zur Verfügung.

Programm

Kontakt

Lars Allolio-Näcke

Kochstrasse 6
91054 Erlangen
09131 85 26506
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