Den Krieg denken: Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Den Krieg denken: Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Veranstalter
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Philosophische Fakultät, Fachbereich Geschichtswissenschaft, Seminar für Neuere Geschichte; Organisatoren: Thorsten Busch M.A., Nina Fehrlen-Weiss M.A., Miriam Régerat M.A., Emese Tömösvári M.A.
Veranstaltungsort
Verfügungsgebäude der Universität Tübingen, Wilhelmstraße 19, Raum 001
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.09.2014 - 20.09.2014
Website
Von
Nina Fehrlen-Weiss M.A.

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, schrieb einst der griechische Philosoph Heraklit. Und in der Tat: Seit der Antike ängstigen und faszinieren Kriege die Menschen gleichermaßen. Dabei hat sich unter dem Eindruck der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem das Bild von Menschen- und Materialschlachten ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Bis heute wirkt diese Wahrnehmung etwa in der populärwissenschaftlichen Publizistik nach. Kriege waren und sind demnach Auseinandersetzungen zwischen Körpern und Waffen, zwischen konkurrierenden Taktiken und Strategien. Dabei verweist dieser letzte Punkt auf eine ganz anders geartete Perspektive auf die Waffengänge der Neuzeit. Denn Kriege entstehen zuerst im Kopf. Bevor auch nur ein Soldat ein Gewehr in die Hand nimmt, ist die Auseinandersetzung, in die er zieht, mental und konzeptionell vorbereitet worden. Und auch wenn die eingesetzten Menschen und Techniken letztlich die Entscheidung einer Schlacht oder eines ganzen Konflikts herbeiführen, bleiben die Aktionen und Reaktionen, die Operationen und Friedensschlüsse eine Sache des Kopfes. Hier wird der Krieg gedacht, wahrgenommen und verarbeitet. Diese Einsicht, so fundamental sie auch ist, hat sich erst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt. Und nur langsam strahlt sie von hier auch auf öffentliche und veröffentlichte Diskurse über historische und aktuelle Krisen und Konflikte aus.

Wo immer Soldaten, Heere, Staaten, Bündnisse oder Völker aufeinandertreffen, kommen individuelle und kollektive Wahrnehmungen und Entwürfe ins Spiel. Sie bestimmen die Bewertung und Deutung der militärischen Ereignisse und wirken – etwa durch die Konstruktion von Feindbildern – wiederum handlungsleitend. Nachdem die traditionelle Militärgeschichtsschreibung in der Folge des Zweiten Weltkriegs lange Zeit vielfach Schlachten rekonstruiert, Taktiken durchleuchtet sowie Ausrüstung und Waffentechnik analysiert hat, sind in der jüngeren historischen Forschung zusehends die vielfältigen sozialen und mentalen Implikationen der Konflikte in den Blick geraten. Dabei wird etwa nach den Beziehungen zwischen Heer und Zivilbevölkerung, nach der Rolle von militärischen Auseinandersetzungen bei der Ausbildung kollektiver Identitäten sowie nach der kulturellen Bedingtheit des individuellen Kriegserlebens gefragt. Institutioneller Ausdruck dieses wissenschaftlichen Wandels war der Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, der von 1999 bis 2008 an der Universität Tübingen angesiedelt war.

Doch auch heute noch stimulieren und bereichern die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs erarbeiteten Begriffe, Konzepte und Methoden die Tübinger Forschung. Dies gilt auch und vor allem für die Untersuchung der Kriege des 17. Jahrhunderts, die einem breiten, internationalen und interdisziplinärem Ansatz folgt. Dabei werden nicht nur die historischen Quellen und Forschungen unterschiedlicher europäischer Länder in den Blick genommen, sondern auch die wissenschaftlichen Methoden und Erträge anderer Fächer wie der Literaturwissenschaft, der Kulturwissenschaft und der Soziologie mit einbezogen. Auf diese Weise entstehen vertiefte Einblicke in die bemerkenswerte Vielfalt historischer Konflikte, die damit gleichzeitig auf die Komplexität aktueller militärischer Auseinandersetzungen verweisen.

Der Workshop strebt eine interdisziplinäre und internationale Vernetzung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Dabei geht es einerseits darum, die nach wie vor dominierenden nationalen Sichtweisen auf diese Auseinandersetzungen miteinander in Beziehung zu setzen. Andererseits werden neben den Ergebnissen der historischen Forschung auch die bedeutenden Erträge der literaturwissenschaftlichen, kunstgeschichtlichen und rhetorischen Fächer einbezogen. Darüber hinaus sollen die Kriege des 17. Jahrhunderts untereinander verglichen werden. Insofern verfolgt der Workshop auch einen komparativen Ansatz.

Der Workshop stellt folgende Fragestellungen zur Diskussion:
1. Wie wird die individuelle und kollektive Kriegswahrnehmung durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen, territorialen, kulturellen und konfessionellen Gruppen beeinflusst?
2. Welche Unterschiede in der geschichtswissenschaftlichen Sicht auf die Kriege des 17. Jahrhunderts sind in verschiedenen europäischen Ländern mit ihren jeweils eigenen Forschungstraditionen auszumachen? Welche Forschungsschwerpunkte werden von den einzelnen Disziplinen, die sich mit den Konflikten der Frühen Neuzeit beschäftigen, gesetzt?
3. Welche Rolle spielt diese Phase der Geschichte für das gegenwärtig im Entstehen begriffene europäische Gedächtnis?
4. Welche Chancen eröffnen sich für die Forschung durch die neuen Medien?

Der hochschulöffentliche Workshop gliedert sich in vier Sektionen, in denen die unterschiedlichen Modi der Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung untersucht werden. Der Zeitraum ist dabei auf die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts begrenzt, wobei insbesondere der so genannte Lange Türkenkrieg und der Dreißigjährige Krieg in den Blick genommen werden. Bei beiden Auseinandersetzungen handelte es sich um internationale Konflikte, in denen sich machtpolitische Interessen mit religiösen und konfessionellen Zielsetzungen verbanden. Im einzelnen werden in den vier Sektionen folgende inhaltliche und methodische Schwerpunkte gesetzt:

Sektion 1: Kriegswahrnehmung im Heer
Die erste Sektion des Workshops fragt nach den verschiedenen Akteuren der Kriege. Dabei werden die unterschiedlichen funktionalen und sozialen Gruppen mit ihren jeweils spezifischen Bewertungen und Interpretationen des Kriegsgeschehens betrachtet.

Sektion 2: Kriegswahrnehmung in der Stadt und auf dem Land
In der zweiten Sektion steht die Zivilgesellschaft im Mittelpunkt. Gefragt wird nach den erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und demographischen Auswirkungen des Kriegsgeschehens auf verschiedene Städte und Dörfer sowie den massiven psychischen Eindrücken, die diese Ereignisse auf die dortige Bevölkerung machten.

Sektion 3: Religion und Konfession im Krieg
Die dritte Sektion befasst sich mit den Motiven, die die einzelnen europäischen Mächte in den Krieg eintreten ließen. Dabei ist darauf zu achten, dass in der Regel machtpolitische Ambitionen und konfess-ionelle bzw. religiöse Beweggründe eine enge Verbindung eingingen. Insofern ist danach zu fragen, welche Unterschiede in der Kriegslegitimation auszumachen sind und welche Feindbilder in diesem Zusamm-enhang bemüht wurden.

Sektion 4: Erinnerung an die Kriege des 17. Jahrhunderts heute
In der vierten Sektion wird die vielfältige Bedeutung, die den Kriegen des 17. Jahrhunderts bis heute zukommt, untersucht. Dabei soll es vor allem darum gehen, wie diese Konflikte in verschiedenen europäischen Ländern erinnert werden und welche Rolle sie für die nationale Identitätsbildung spielen.

Programm

Donnerstag, 18.09.2014
14:00 Uhr–14:30 Uhr Einführung durch Miriam Régerat (Tübingen) und Nina Fehrlen-Weiss (Tübingen)

14:30 Uhr–17:30 Uhr
Sektion 1: Kriegswahrnehmung im Heer
Moderation: Prof. Dr. Matthias Asche (Tübingen)

Steffen Leins (Tübingen): Kriegswahrnehmungen des Militärunternehmers und Offiziers Peter Melander von Holzappel zwischen bewaffneter Neutralität, Reichspatriotismus und bellizistischer Rhetorik, 1635-1648

Jens Friedrich (Stuttgart): Hans Ulricht Schaffgotsch (1595-1635): Ein adliger schlesischer Offizier im Dienste Wallensteins

Oleg Rusakovskiy (Moskau/Tübingen): „Soldat aus dem Weg“: Die Integration der Militärangehörigen in die Zivilgesellschaft nach dem Westfälischen Frieden. Ein lokales Beispiel

Zoltán Borbély (Eger): Aufstand oder Freiheitskampf? Einige Bemerkungen zum gesellschaftlichen Hintergrund der Bewegung von István Bocskai

18:00 Uhr–19:45 Uhr Begrüßung durch Prof. Dr. Anton Schindling (Tübingen)

Abendvortrag von Maik Reichel (Museum im Schloss Lützen/Landeszentrale für politische Bildung des Landes Sachsen-Anhalt)

20:00 Uhr Abendessen

Freitag, 19.09.2014
9:00 Uhr–12:00 Uhr
Sektion 2: Krieg und Kriegswahrnehmung in der Stadt und auf dem Land
Moderation: Prof. Dr. Anton Schindling (Tübingen)

Susanne Häcker (Tübingen): Studieren im Krieg: Der Alltag Tübinger, Freiburger und Heidelberger Universitätsangehöriger während des Dreißigjährigen Krieges

Thorsten Busch (Tübingen): Stadt – Krieg – Pest: Ein bisher weithin unterschätzter Zusammenhang in der europäischen Geschichte des 17. Jahrhunderts

András Péter Szabó (Budapest): Ein verschonter Schauplatz des Krieges: Der Lange Türkenkrieg und der Dreissigjährige Krieg in den Zipser Chroniken

12:00 Uhr–13:30 Uhr Mittagessen

13:30 Uhr–14:30 Uhr
Stadtführung durch Dr. des. Fabian Fechner (Tübingen)

14:45 Uhr–17:45 Uhr
Sektion 3: Religion und Konfession im Krieg
Moderation: PD Dr. Márta Fata (Tübingen)

Emese Tömösvári (Tübingen): Ein „anonymer“ Ratschlag von Miklós Esterházy an die ungarische Nation zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges

Kristóf Szuromi (Budapest): Das Türkenbild in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges

Dominik Sieber (Tübingen): „[...] und wurde mit gebührenden Ceremonien in der Pfarrkirche im Chor beygesetzt“: Sepulkrale Memoria des Dreißigjährigen Krieges in den oberschwäbischen Reichsstädten

Marc Höchner (Bern): Paradies mit Rissen. Die Eidgenossenschaft und der Dreißigjährige Krieg

20:15 Uhr Abendessen

Samstag, 20.09.14
9:00 Uhr–12:00 Uhr
Sektion 4: Erinnerung an die Kriege des 17. Jahrhunderts heute
Moderation: Prof. Dr. Joachim Knape (Tübingen)

Miriam Régerat (Tübingen): „La journée des dupes“: Der Eintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg im Spiegel der französischen Geschichtsschreibung

Nina Fehrlen-Weiss (Tübingen): „O Tilly, leicht hast Du es nicht, zu der Ehre zu kommen, die Dir schon lange gebührt!“ Der steinige Weg zum Denkmal für einen katholischen Kriegshelden in Altötting

Frank Britsche (Leipzig): Schulgeschichtsbücher im Spannungsfeld von Wissensvermittlung und Politik – Der Dreißigjährige Krieg in deutsch-deutschen Lehrwerken von 1945 bis heute

Markus Meumann (Erfurt): Der Dreißigjährige Krieg im Internet

12:00 Uhr Verabschiedung

Kontakt

Nina Fehrlen-Weiss M.A.

c/o Prof. Dr. Anton Schindling
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Philosophische Fakultät
Fachbereich Geschichtswissenschaft
Seminar für Neuere Geschichte
Wilhelmstr.36
72074 Tübingen

nina.fehrlen@uni-tuebingen.de