Zeiterfahrung – Untersuchungen über Beschleunigung und Entschleunigung von Geschichte

Zeiterfahrung – Untersuchungen über Beschleunigung und Entschleunigung von Geschichte

Veranstalter
Traverse - Zeitschrift für Geschichte 2016/3; Juri Auderset; Andreas Behr; Philipp Müller; Bertrand Forclaz; Aline Steinbrecher
Veranstaltungsort
Ort
Fribourg
Land
Switzerland
Vom - Bis
15.10.2014 - 31.12.2014
Deadline
31.12.2014
Website
Von
Juri Auderset

Ob wir die Zeit nutzen oder verschwenden, ob wir ihr voraus sind oder ihr hinterherhinken, ob wir uns zu schnell oder zu langsam bewegen, ist das Ergebnis historischer Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind weder zufällig oder individuell noch natürlich, sondern werden von sozialen und historisch wandelbaren Zeitmustern bedingt, die das Leben einerseits in vertraut wirkende temporale Einheiten zu gliedern vermögen, andererseits aber durch Krisen auch erschüttert werden können. Im Zentrum dieses Heftes soll der Wahrnehmung der Geschwindigkeit von Zeit, der empfundenen, erhofften oder beklagten Beschleunigung der Geschichte seit dem späten Mittelalter nachgegangen werden.

Der Thematisierung von Zeiterfahrungen lagen in der Geschichtswissenschaft lange – manchmal implizit, manchmal explizit – modernisierungstheoretische Vorannahmen zugrunde. Historische Zeit wurde in dieser Sichtweise in einem Kontinuum erfasst, welches sich zwischen Tradition und Moderne, Rückständigkeit und Fortschritt, Verspätung und Zukunftstauglichkeit aufspannte. In den vergangenen Jahren ist dieser Umgang mit modernisierungstheoretischen Paradigmen in den Geschichtswissenschaften einem Prozess der reflexiven Historisierung unterworfen worden. Statt ein Konzept zur Analyse historischer Entwicklungen abzugeben wird die Modernisierungstheorie nun mithin als Zeitmodell gedeutet, das die Wahrnehmung und Erfahrungsdeutung historischer Akteure lenkte. So verorteten Anhänger des Fortschritts im 18. und 19. Jahrhundert sich und andere auf Stufen der zivilisatorischen Entwicklung und bestimmten auf dieser Grundlage, ob sich ihre soziale Welt schnell genug den modernen Lebensbedingungen anpasste oder hinter ihrer Zeit zurückblieb. Hinter dieser Wahrnehmung historischer Entwicklungsgeschwindigkeiten lag – worauf insbesondere Reinhart Koselleck aufmerksam gemacht hat – die Idee eines offenen, ewig fortschreitenden Zeithorizonts. Das Zeitmodell des Fortschritts stellte Veränderung gewissermassen auf Permanenz, da die Vergangenheit prinzipiell keine Auskunft über die Zukunft geben konnte. Damit machte es die Frage nach dem Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung, der Übereinstimmung mit der Geschwindigkeit der Geschichte, zum Dauerthema.

Die Leitfrage dieses Heftes nimmt diese Anregungen zum Ausgangspunkt um die historische Vielfalt von Zeiterfahrungen stärker in den Vordergrund zu rücken und Muster veränderter Zeitwahrnehmung in eine Perspektive der langen Dauer einzubetten. Die Beiträge sollen dazu dienen, Momente beschleunigter und entschleunigter Geschichtsvorstellungen aufzudecken sowie die Kontinuität und Veränderung temporaler Beschreibungs- und Wahrnehmungsmuster sichtbar zu machen. Sie stellen weiterhin die Frage nach Gründen und Bedingungen für die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitmodelle, insbesondere dem Nebeneinander linearer und zyklischer Zeitkonzeptionen.

Folgende Fragen und Themen stellen mögliche Anregungen zu Beiträgen im Heft dar:

Wie ordnen sich die religiösen Vorstellungen von Endzeit im 15. und 16. Jahrhundert in die Frage nach der Wahrnehmung von historischer Geschwindigkeit ein und welche langfristigen Folgen waren an diese Vorstellungen geknüpft? Welche Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung waren mit der frühneuzeitlichen „Kommunikationsrevolution“ (Wolfgang Behringer), der Beschleunigung der Verkehrswege und der Verdichtung der Kontaktintervalle zwischen europäischen und aussereuropäischen Räumen verbunden? Welche Zeiterfahrungen entstanden mit den Versuchen einer Beschleunigung der Arbeitswelt durch Industrialisierung und Rationalisierung (Taylorismus)? Gibt es in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Formen der Zeitwahrnehmung, die mit den Erfahrungen von Entschleunigung und temporalem Stillstand in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges vergleichbar sind (Stephen Kern)? – Beiträge mit einem ausschliesslich methodischen Charakter sind ebenso ausdrücklich erwünscht wie epochen- und raumübergreifende Studien.

Die Beiträge werden voraussichtlich im Spätsommer 2015 (wahrscheinlich am 4. und 5. September 2015) an einem Workshop vorgestellt und diskutiert und werden als Heft 3/2016 der traverse – Zeitschrift für Geschichte erscheinen. Sie haben einen max. Umfang von ca. 30’000 Zeichen und sollen in einer ersten Version bis zum 31.12.2015 an die Redaktion gelangen, damit ausreichend Zeit für das Lektorat bleibt.

Bitte senden Sie ein Abstract mit max. 2’500 Zeichen und einem kurzen CV bis zum 31.12.2014 an: juri.auderset@unifr.ch; andreas.behr@revue-traverse.ch; philipp.mueller@unifr.ch; aline.steinbrecher@revue-traverse.ch; bertrand.forclaz@revue-traverse.ch

Programm

Kontakt

Juri Auderset
Universität Fribourg
Departement für Historische Wissenschaften
Bereich Zeitgeschichte
Av. de l'Europe 20
1700 Fribourg