Markiert die Reformation eine Zäsur in der Geschichte der Einstellung des Christentums zum Judentum? Haben das reformatorische Christentumsverständnis, seine Transformationsgestalten und seine Folgewirkungen positive Auswirkungen auf das Verhältnis zu den Juden gehabt? Haben Sie zum Umschlagen des aus der Antike und dem Mittelalter ererbten Antijudaismus in eliminatorischen Antisemitismus beigetragen? Wenn die eine oder die andere Frage oder vielleicht beide mit Ja zu beantworten sind, in Wechselwirkung mit welchen anderen, gegebenenfalls spezifisch deutschen Koeffizienten?
Dieser Fragenkomplex wird herkömmlich in Gestalt des Themas "Luther und die Juden" einschließlich der Wirkungen seiner Haltungen durchgespielt. Die Berliner Tagung wird den Focus weiter einstellen. Das traditionelle Thema soll in drei Durchgängen gleichsam mehrdimensional umspielt und damit einerseits entgrenzt, andererseits neu beleuchtet werden:
I. in einer Betrachtung des zeitgenössischen frühneuzeitlichen Kontexts. Denn Luthers - in sich gegensätzliche - Voten zur sogenannten Judenfrage waren zwar in mancher Hinsicht singulär und angesichts der Prominenz des Reformators von besonderem Gewicht, doch sprach hier nur eine Stimme in einem vielfältigen, weit zurückreichenden Diskussionszusammenhang.
II. in einer Betrachtung unterschiedlicher Spielarten des protestantischen Verhältnisses zum Judentum, judenfreundlicher wie antijudaistischer oder antisemitischer Einstellungen, in Deutschland von der Zert um 1800 bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Zusammengehalten werden diese Beitäge von der Aufmerksamkeit darauf, welche Faktoren in bestimmten Haltungen zum Judentum leitend und wirksam waren, insbesondere der Frage, ob und in welcher Weise Anknüpfungen an reformatorisch-theologische Traditionsbestände, darunter die einschlägigen Schriften Luthers, die Haltungen zum Judentum in Konkurrenz und Konvergenz mit anderen Faktoren bestimmt haben.
lll. in einer Betrachtung gleichzeitiger Entwicklungen jenseits des evangelischen Deutschlands, und das in zwei Richtungen: Einmal werden hier Spielarten von Antijudaismus oder Antisemitismus aus dem nichtevangelischen Ausland und die darin wirksamen Traditionen thematisiert. Zum anderen werden außerdeutsche lnkulturationen des lutherischen Protestantismus auf ihr Verhältnis zum Judentum hin befragt. Diese doppelte Fragestellung soll nicht zuletzt als doppelter Kontrast zu den Befunden der zweiten Vortragsgruppe die Feststellung erlauben, wie weit die Entwicklungen im protestantischen Deutschland weniger protestantisch (lutherisch) als deutsch oder weniger deutsch als protestantisch waren.