Von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traten in Deutschland eine Vielzahl von Aktivitäten zur Popularisierung aufklärerischen Gedankenguts und vielfältige praktisch-gemeinnützige Bestrebungen zutage. Getragen von Tausenden Gebildeten „vor Ort“, unter ihnen zahlreiche Geistliche, bestand das Ziel dieser „Bürgerbewegung“ in der Vermittlung neuer Erkenntnisse aus allen Wissensgebieten zum alltäglichen Gebrauch. Damit richtete man sich vor allem an die bildungsfernen Bevölkerungsschichten in Stadt und Land. Angestrebt wurde eine vernünftige Wirtschafts- und Lebensweise in einem Gemeinwesen, das zunehmend als reformbedürftig erachtet wurde. Die Volksaufklärer versuchten religiöse, moralische, kulturelle und politische Vorstellungen zu vermitteln, die das „Volk“ im Sinne der Aufklärung erziehen und zugleich gemeinen Nutzen stiften sollten.
Angesichts des intensiven Engagements protestantischer Geistlicher verwundert es nicht, dass im Schrifttum der Volksaufklärung auch die Reformation und ihr führender Protagonist Martin Luther thematisiert wurden. Viele Volksaufklärer, deren theologische „Fraktion“ mehrheitlich dem theologischen Rationalismus zuzurechnen ist, waren der Überzeugung, dass bereits mit der Reformation eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation des gemeinen Mannes eingetreten sei. Man zeigte sich davon überzeugt, dass Luther und seine Mitstreiter ähnlich wie zwei Jahrhunderte später die Aufklärer den Prinzipien der Vernunft gefolgt seien. Die Reformation habe die Grundlagen für die Aufklärung gelegt. Erst die Reformation und der entstehende Protestantismus hätten neue Denkprozesse eingeleitet und damit die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Modernisierung geschaffen.
Damit wird eine inhaltliche Parallelität zwischen Reformation und Aufklärung unterstellt, die zugleich Legitimation für eine intensive Beschäftigung der Volksaufklärer mit dem Geschehen im frühen 16. Jahrhundert und mit der „Lichtgestalt“ Martin Luther bietet. Bereits die Lichtmetapher schafft eine Parallele zum „siècle des lumières“. Für die Taten des Reformators und die Formierung der evangelischen Kirche wird das Symbol des „Lichtes“ bemüht. Luther und die Reformation werden als Überwindung einer Epoche der Finsternis gepriesen, die von der katholischen Kirche verursacht worden sei. Zahlreiche volksaufklärerische Darstellungen zur Geschichte der Reformation und zum Wirken führender Reformatoren wie Martin Luther, Philipp Melanchthon oder Johannes Bugenhagen benutzen daher Begriffe wie „Licht“, „Wahrheit“ und „Aufklärung“. Der vorreformatorischen katholischen Kirche hingegen werden Topoi wie „Finsternis“, „Nacht“, „Dunkelheit“, „Unwahrheit“ oder „Aberglauben“ zugewiesen.
Thüringen war aber nicht nur Kernland der Reformation, sondern auch ein Zentrum der Volksaufklärung, bündelten sich in Thüringen die volksaufklärerischen Aktivitäten doch in besonderer Dichte und bemerkenswerter Qualität. Dabei ergeben sich Parallelen zwischen der Reformation und der Volksaufklärung auch in struktureller Hinsicht, stellten sich viele protestantische Geistliche mit ihren volksaufklärerischen Bemühungen doch in eine publizistische Traditionslinie, die bis zur Reformation zurückreicht. In Anlehnung an die Reformatoren, die sich in großem Stil des erst wenige Jahrzehnte zuvor erfundenen Buchdrucks mit beweglichen Lettern bedient und ihre Ziele durch Flugblätter und Flugschriften öffentlichkeitswirksam kommuniziert hatten, nutzten sie bewusst Bücher und Periodika, aber auch Kanzelreden als effiziente Medien einer breit angelegten Belehrung und Wissensvermittlung. Hinzu kamen noch Aktivitäten im Vereins- und Sozietätswesen sowie das Vorlesen in geselliger Runde.
Verfolgt man den quantitativen Anstieg der vornehmlich von Landpfarrern verfassten volksaufklärerischen Publizistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dann wird ersichtlich, dass die Dorfgeistlichen im Thüringer Raum nach 1780 ihr volksaufklärerisches Engagement deutlich ausdehnten. Die Popularisierung rationaler Denk- und Lebensweisen als Grundlage zur Verbesserung der ökonomischen Lebenssituation mit Hilfe publizistischer Mittel wurde nun intensiviert. Da sich jedoch die ländlich-kleinstädtische Bevölkerung nicht ohne Widerstände zur Annahme einer vernunftorientierten Lebensgestaltung bereit zeigte, wurden der Kampf gegen den Aberglauben und die Vermittlung rationaler Lebensprinzipien von den Volksaufklärern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortgesetzt.
Der Rezeption der Reformation durch die Volksaufklärung und die publizistische Instrumentalisierung des Wirkens der Reformatoren ist in der Forschung in einem wirklich großangelegten systematischen Zugriff noch nicht nachgegangen worden. Aus diesem Grund soll dieses spezifische Segment der Reformationsrezeption eine zentrale Säule der Tagung darstellen, wobei von Thüringen als dem „doppelten Kernland“ von Reformation und Volksaufklärung zwar ausgegangen, aber sich nicht darauf beschränkt werden soll. Beiträge zu anderen, auch nichtvolksaufklärerischen Protagonisten, im protestantischen wie im katholischen Deutschland, sind ausdrücklich intendiert. Hinzu kommen Betrachtungen zur Erinnerungskultur, die im Jubiläumsjahr des Thesenanschlags 1817 einen Höhepunkt erlebte, sich in vielen Fällen aber auch auf die Einführung der Reformation vor Ort oder auf den Zeitpunkt des Übertritts der Landesherren zum Protestantismus bezog. Ihr lagen kirchliche, staatliche und kommunale Initiativen zugrunde.
Die Tagung soll Historiker und Theologen, Kirchenhistoriker und Germanisten, Medienhistoriker, Erziehungswissenschaftler und Volkskundler zusammenbringen und die Rezeption der Reformation unter besonderer Berücksichtigung der Volksaufklärung und in vergleichender Perspektive diskutieren.