Livland lag im Mittelalter am Rande der lateinischen „christianitas“. Diese Tatsache war nicht nur eine geographische Gegebenheit, sondern sie spielte auch eine Rolle im politischen und historischen Selbstverständnis der Region und wurde als solche aktiv propagiert. Man war sich in Livland der peripheren Lage bewusst und kannte die Verbindungslinien zu den verschiedenen Zentren des europäischen Kontinents. In vieler Hinsicht gründeten auf ihnen die Strukturen des Landes. Für die Kirche waren die Beziehungen zum Papsttum mit seinen Residenzen in Rom und Avignon konstitutiv. Politische Verfassung und Verwaltung orientierten sich eng an den Verhältnissen im deutschen Reich. Die livländischen Städte mit ihrer Vermittlerrolle im hansischen Russlandhandel pflegten enge Verbindungen zu den Städten Norddeutschlands, wenn sie ihnen auch ökonomisch und politisch nachstanden. Ein beträchtlicher Teil der sozialen Elite war eingewandert und blieb dem Adel im Rheinland und in Westfalen verbunden. Livländer besuchten deutsche und italienische Universitäten. Zum Teil hochwertige Kunstwerke waren importiert oder von auswärtigen Meistern geschaffen. Allerdings sollte der Austausch zwischen Livland und dem polyzentrischen Europa nicht von vornherein einseitig, die Region nicht allein als passives Objekt gesehen werden. Zu fragen ist, inwieweit die livländischen Akteure trotz schwieriger Kommunikation und begrenzter Möglichkeiten versuchten, eine aktive Rolle gegenüber den diversen Zentren des Kontinents zu spielen, ihnen gewissermaßen näherzukommen und sie dabei auch zu beeinflussen. Untersucht werden soll dies anhand von Beispielen aus der Kirchen-, Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Aspekten von Schriftlichkeit, Kunst und geistiger Kultur, wobei auch methodische Probleme zu thematisieren sind. Leitfragen werden hierbei sein: Welches waren die europäischen Zentren, auf die man sich in Livland bezog und auf die man einzuwirken versuchte? Inwieweit wurden diese Zentren in Livland definiert und konstruiert? In welcher Weise wurden das Wissen und die Kompetenzen, die man aus diesen Zentren bezog, modifiziert und gefiltert, und inwieweit wurden Innovationen zurückgegeben? Wie funktionierten der gegenseitige Austausch und die Kommunikation? Welche Persönlichkeiten taten sich dabei in Livland besonders hervor? Ziel ist es, das Verhältnis zwischen dem peripheren Livland und seinen vielen europäischen Zentren vom 12. bis zum 16. Jahrhundert in seiner produktiven Gegenseitigkeit besser zu erkennen.